profil-Morgenpost: Sensenmann oder Sendepause?
An bitteren Enttäuschungen ist das laufende Jahr, wenigstens in unseren Breiten, noch nicht allzu reich, dazu hatte der Hoffnungsträger 2021 in den vergangenen sechs Tagen ja auch kaum noch Gelegenheit. Obwohl: Die Regierung tappt von einem Corona-Fiasko ins nächste, aber das ist ja nun keine für das angebrochene Jahr besonders spezifische Neuigkeit, zählt also nicht. Sonst, wenn man es schafft, etwa die griechischen Inseln auszublenden, fast nur schöne Spitzenmeldungen: Es gibt süßen Affennachwuchs bei den lustigen Kaiserschnurrbarttamarinen in Schönbrunn, und Richard Lugner verbringt – während Sie dies hier, frustriert und kaserniert im Eigenheim, lesen – einen verregneten, aber hochverdienten Traumurlaub auf den Malediven.
Doch nicht alles ist hierzulande so gemütlich: profil-Redakteurin Christa Zöchling etwa hat gerade eine neue, 35-minütige Folge ihres History-Podcasts vorgelegt. Sie spricht darin, aus Anlass eines unüblich großen Waffenfunds in der österreichischen Neonaziszene vor ein paar Wochen, mit dem Rechtsextremismus-Experten Andreas Peham, der am Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands wichtige Arbeit leistet, über ein Thema, das auch sie als Journalistin seit Jahrzehnten begleitet. In anderen Worten: Hier wissen zwei Menschen, wovon sie reden. Gute Podcasts leben von solchen Voraussetzungen.
Tote gehen selten auf Sendung
Andere Neuigkeit: Der Neoliberalismus ist tot. Mit dieser durchaus tumultuösen Ansage hängt sich Kollege Joseph Gepp in der profil-Zeitung aus dem Fenster, während der Vizekanzler, der den Neoliberalismus ja aus nächster Nähe kennt, diesen expressis verbis nur in der „Sendepause“ sieht. Aber Tote gehen an sich eher selten wieder auf Sendung, insofern könnte die Pause länger werden. Tatsächlich sei das ungezügelte Spiel der Marktkräfte in den vergangenen Monaten von der Öffentlichkeit fast unbemerkt „leise verschieden“, notiert Gepp listig. Unter den Totengräbern des Neoliberalismus sieht er übrigens nicht nur Donald Trump und Boris Johnson, sondern beispielsweise auch den Lebensgefährten der Wirtschaftspädagogin Susanne Thier. Vielleicht kennt Kogler den Neoliberalismus also doch nicht aus eigener Anschauung. Ich weiß es auch nicht, machen Sie sich bitte selbst ein Bild.
Nasenabstrich vor Kunstgenuss
Aber den Ratlosen ist die Kunst stets eine Hilfe, also gehen Sie doch einfach ins Theater, oder schauen Sie sich eine Oper ... ach so, nein, geht ja auch nicht. Kein Grund zur Depression, es wird schon wieder, irgendwann, wenn es warm wird oder eben erst dann, wenn ein paar Millionen gut gekühlter Impfstoffrationen den Weg in Österreichs Menschenkörper gefunden haben. Seien Sie bis dahin einfach nicht so „kulturverliebt“, wie der Kanzler weise sprach, und er meinte natürlich: lästig. Denn jetzt geht es um Lockdowns und Laborarbeit, nicht um Lassnig, Liszt und Lessing. Oder? Nein. Denn die Kunst ist, weil sie dabei hilft, die Welt und uns besser zu verstehen, keineswegs das Letzte, worum es während einer Pandemie gehen sollte. Näheres zum nötigen Einspruch gegen die kulturelle Ignoranz der Regierung dieser Republik finden Sie hier.
Wie, ob, wann und wo die Kultur wieder hochgefahren kann, steht koglerkurzgemäß in den Sternen, seltsam wird es sicher werden. Vielleicht so: „Eintrittstests“ statt Eintrittskarte, Nasenabstrich vor Kunstgenuss. Negativ ist das neue Positiv!
Einen virenfreien Donnerstag wünscht Ihnen die profil-Redaktion!
Stefan Grissemann