Corona-Krise: Trafikanten als Seismografen unserer Gesellschaft
In diesen schweren Tagen sind sie die Seismografen unserer Gesellschaft. Vielleicht waren sie es schon immer, und es ist uns nur nicht aufgefallen, weil wir keine Rätselzeitungen kaufen, selten Lotto spielen, Zeitungen nur noch online lesen und schon lang nicht mehr rauchen. Weil wir keine Stammkunden sind.
Die Tabaktrafik ist eine Erfindung aus der Zeit der Monarchie, eingeführt zum Wohl des staatlichen Tabakmonopols und der Hilfe für Kriegsversehrte. Tabaktrafiken sind bis heute eine analoge Welt geblieben, Bankomatkarten nicht gern gesehen und die Verkaufsräume meist so klein, dass bei den aktuellen Abstandsregeln nicht mehr als ein Kunde Platz findet. So wartet man draußen vor der Tür und beobachtet durch das Glas die bunte, vollgestellte, mit Werbetafeln ausstaffierte Theke, verärgert, weil eine sehr alte Dame kein Ende findet, sich, schon halb zur Tür gewandt, doch wieder umgedreht hat und weiterredet und vielleicht sogar ein bisschen weint. Keiner weiß, dass diese Frau einen Tag, bevor Ausgangsbeschränkungen verhängt wurden, ihren Mann ins Pflegeheim gebracht und ihn seither nicht mehr gesehen hat. Doch der Trafikant weiß es.
Es sind Stammkunden. Die Einsamkeit treibt sie aus ihren vier Wänden und viele offene Fragen: wie man sich mit dem Coronavirus ansteckt, warum es auch junge und kräftige Menschen niederstreckt, während andere nicht einmal ahnen, dass sie sich infiziert haben. Sie kennen den Trafikanten schon seit Jahren. Sie können ihm Gedanken mitteilen, die sie nicht einmal dem Ehepartner gestehen, weil dies zu nahe wäre und zu explosiv. Gerhard Schiller, bald 62 Jahre alt, führt seinen kleinen Laden in der Leopoldstadt seit 32 Jahren. Er hat ein schlimmes Bein, eine neue Hüfte und stammt aus einer ziemlich armen Familie mit sieben Geschwistern, einem Vater, der so früh starb, dass er keine Erinnerung an ihn hat, und einer Mutter, die sich bei Bauern als Magd verdingte.
"Du kannst nicht abschalten in der Nacht"
"Man macht sich schon Gedanken, was da noch kommt. Du kannst nicht abschalten in der Nacht, wenn es ruhig wird. Anfangs hab ich wie viele meiner Kunden gedacht: So arg kann's nicht sein. Doch dann kamen die Meldungen von den Toten, in diesem Land und in jenem Land", sagt Schiller und steht ein wenig schief, weil das Bein schmerzt. Schiller versteht die Alten, die jeden Tag kommen, um zu reden, obwohl sie doch daheim bleiben sollten. Sie sagen: "Ich habe schon so viel überstanden, ich werde auch das überstehen."
Er verkauft heute mehr Rätselzeitungen als je zuvor und - auf Bestellung - Kriminalromane und Liebesromane. "Hoffentlich fangen die Leute an, nachzudenken, dass sie ein bisschen runterkommen und nicht mehr alles haben müssen",sagt Schiller. Er glaubt nicht, dass das Leben danach wieder so sein wird, wie es war. "Mit dem Versammlungs- und Demonstrationsverbot, da wird etwas hängenbleiben. Massen von Menschen werden nicht mehr so leicht zusammenkommen dürfen." Doch wenn es zu extrem wird, wird "das Volk schon aufstehen", meint Schiller. Vor einem Jahrzehnt war er noch bei den Freiheitlichen gewesen, mit denen will er nichts mehr zu tun haben.
Mit der Aussicht auf die Katastrophe ist die Demokratie, so scheint es, an den Rand gedrängt, die Ausschaltung des Parlaments in Ungarn eine Nachricht wie jede andere. Werden wir überhaupt bemerken, "wenn die Demokratie endet, weil wir auf die falschen Stellen achten"? Diese Frage stellt der britische Politikwissenschaftler David Runciman in seiner neuen, vor Corona geschriebenen Studie mit dem Titel: "So endet die Demokratie". Es fällt auf, dass in den Trafiken, in denen über alles geredet wird, darüber kaum ein Wort fällt.
"Die Leute kommen wegen der Ansprache"
Reinhold Halmenschlager, 57 Jahre alt und seit 32 Jahren Betreiber einer Trafik in der Unteren Augartenstraße im 2. Bezirk, ein beliebter Treffpunkt im Grätzel. In diesen Tagen vielleicht sogar noch mehr als sonst. "Die Leute kommen wegen der Ansprache, manche sogar mehrmals am Tag. Die Alten lassen es sich nicht nehmen, jeden Tag persönlich ins Geschäft zu kommen und ihre 'Zeitung' zu verlangen, und damit meinen sie immer die 'Kronen Zeitung'. Die kommen gar nicht auf die Idee, dass es auch andere Zeitungen gibt", sagt Halmenschlager. Der Trafikant ist selbst unschlüssig, ob "nicht etwas zu viel Hysterie hinter den Maßnahmen steckt".
Vor ein paar Tagen ist Halmenschlager dort, wo er wohnt, laufen gegangen. Schnell, über seine Grenzen gehend, hat er in sich hineingehört, ob sich eine Kurzatmigkeit anbahnt. Jeder suche eben irgendeinen Halt, sagt er. Verschwörungstheorien blühten ebenso wie Hetzreden gegen Flüchtlinge; manche meinten, dass Corona gar nicht existiere. Er erlebt unter seinen Stammkunden die ganze Bandbreite von Panik bis Sorglosigkeit, labile Menschen hätten besonders viele Ängste. Er fühle eine gewisse Verantwortung, den Menschen zuzuhören und sie zu beruhigen. Alle halben Stunden wird alles, was in seinem Geschäft angegriffen wird, desinfiziert. Die Auftritte der Bundesregierung findet er "eher beunruhigend, zu wenig klar".
Er bemerkt die Not, wenn einer an einem Tag ein Packerl Zigaretten kauft und später darum bittet, anschreiben zu lassen. Halmenschlager lässt viel anschreiben.
"Wenn du das Geld auf jeden Menschen in der Welt verteilst, schaut es eine Stunde später genauso aus wie vorher. Die, die es vorher gehabt haben, haben es wieder, die anderen haben es ausgegeben." Das ist eine Erfahrung. Er glaubt, dass mit fortdauerndem Ausnahmezustand die Gewalt zunehmen wird. "Schon jetzt sagen die Leute: Ich halte es nicht mehr aus."
"Mini-Hitler Viktor Orbán"
Am Yppenmarkt in Ottakring herrscht Michael Perzel seit 22 Jahren über ein paar Quadratmeter. Mit seinen Stammkundinnen verkehrt er per "Schatzi", der Schmäh rennt, seinen Zorn auf den "Mini-Hitler Viktor Orbán" artikuliert er lauthals. Er hofft auf eine Zeitenwende-"wenn das alles vorbei ist, soll nicht mehr alles bam, bam, bam gehen, sondern achtsamer",sagt er. Einer seiner älteren Stammkunden sagt traurig: "Meine Kabane auf der Alten Donau seh ich heuer wohl nicht mehr."
Trafikanten haben eine neue Zeitrechnung: vom Tag der Maßnahmen an, als die Trafiken gestürmt wurden, als gäbe es "kein Morgen". So beschreibt es Monika Mayer, Trafikantin beim Viktor-Adler-Markt. "Die älteren Damen kommen wie immer zeitig in der Früh, anfangs ohne, jetzt mit Maske. Die sind schon geschimpft worden von anderen Kunden: 'Wegen Ihnen müssen wir zu Hause blieben, und Sie, in Ihrem Alter, gehen eine Zeitung kaufen! - Aber der Gang in die Trafik gehört zu ihrem Leben", sagt Mayer.
Monika Mayer und ihr Mann führen die Trafik seit zwei Wochen allein. Ihre Angestellten dürfen zu Hause bleiben. "Die werden weiter bezahlt, denn wir nehmen ja doch etwas ein."
"Keine andere Regierung könnte so eine Ruhe ausstrahlen wie der junge Bua, der Sebastian Kurz, im Verein mit dem Grünen." So schwärmen die Mayers. Die Zukunft sehen sie freilich weniger hell. "Die Armut wird kommen, das Virus wird bleiben."
Ein Problem mit einer älteren Kundin hat Mario Reitermeyer, 34 Jahre alt, in seiner Trafik in Wien-Neubau. Die betagte Dame kommt jeden Tag, vor allem um zu plaudern. Sie schüttet dem jungen Mann ihr Herz aus, oft eine halbe, drei viertel Stunden lang und draußen vor der Tür warten die anderen Kunden. "Ich will nicht unhöflich und hart sein", sagt der hilflose junge Mann, der nun überlegt, die Polizei um Hilfe zu bitten. Eine Uniform soll die 90-Jährige zu einer Änderung ihres Verhaltens bewegen. Die alte Dame ist kein Einzelfall.
Viel war in den vergangenen Tagen von Pflegerinnen, Supermarktkassiererinnen, Ärztinnen, Krankenschwestern, Paketzustellern, Briefträgern, Zivildienern, Rot-Kreuz-Helfern, Polizisten und Müllmännern die Rede. Ihr Einsatz wurde gewürdigt. An die Trafikanten, die eine Scharnierstelle zwischen den Alten und den Jungen, den Eingeschlossenen und den anderen bilden, hat noch keiner gedacht. Sie fungieren als Grätzeltherapeuten und Informationsdrehscheibe, schützen sich mit Plexiglasscheiben, besorgen sich Handschuhe und Masken. Bisher völlig unbedankt.