Rechtfertigt die Pandemie das Verbot von Demonstrationen?

Nein, meint Rosemarie Schwaiger. Wir sollten Corona nicht auch noch diese Freiheit opfern.

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Rund 2000 Anzeigen, 13 Festnahmen, vier leicht verletzte Polizisten, gegenseitige politische Schuldzuweisungen und Tausende Menschen, die mehr oder weniger chaotisch durch die Stadt marschierten: Das ist die Bilanz eines Wochenendes, an dem in Wien demonstriert wurde, obwohl das Demonstrieren eigentlich verboten war. Als einen Triumph des demokratischen Rechtsstaates kann man dieses Ergebnis eher nicht werten.

Insgesamt 17 Demonstrationen - die meisten gegen Corona-Maßnahmen - waren für 30. und 31. Jänner angemeldet worden. Fast alle, nämlich 15, wurden von der Landespolizeidirektion Wien untersagt. "Die Erfahrungen der letzten Wochen bei Versammlungen dieser Art haben gezeigt, dass weite Teile von Versammlungsteilnehmern das Gebot des Tragens eines eng anliegenden Mund- und Nasenschutzes sowie die Einhaltung des Mindestabstands schlichtweg ignorieren, sodass geradezu erwartbar ist, dass es bei diesen Versammlungen zu Gesetzwidrigkeiten in großem Ausmaß kommen wird", hieß es in der Begründung. Diese Befürchtung gab es offenbar auch, was eine geplante Demonstration der Österreichischen Hochschülerschaft gegen die Novelle des Universitätsgesetzes anging. Der ÖH-Protest wurde gleichfalls verboten. Auch eine geplante Demo-Ersatz-Veranstaltung der FPÖ am Sonntag fiel der Polizei-Besorgnis zum Opfer.

Die Versammlungsfreiheit gilt nicht absolut, der Staat darf Kundgebungen unter bestimmten Voraussetzungen untersagen oder Einschränkungen verfügen. Aber wenn das jüngste Vorgehen Schule macht, ist das Demonstrationsrecht in Österreich Geschichte. Dass es bei größeren Menschenmengen zu Gesetzesverstößen kommt, lässt sich ja nie ganz ausschließen. Nicht zuletzt deshalb wird der Protest auf der Straße für gewöhnlich von der Polizei begleitet. Offenbar sind wir gerade dabei, im Dienste der Pandemiebekämpfung das nächste in der Verfassung verankerte Grundrecht zu kübeln.

Die Kritik an der neuen Linie der Polizei fiel vergleichsweise dezent aus. Von Abgeordneten der SPÖ und der NEOS kam immerhin lautes Murren. In einigen Medien wurde die Entscheidung dagegen sogar gelobt. Gesundheit gehe nun mal vor, finden die Kollegen. Prominente Juristen sind sich nicht einig, ob das Vorgehen angemessen war oder nicht. Der Verfassungsrechtler Theo Öhlinger meint, aufgrund der Pandemie bestehe für die Polizei ein größerer Spielraum als sonst. Sein Kollege Bernd-Christian Funk widerspricht: Wenn der Veranstalter erkläre, sich an die Regeln halten zu wollen, sei ein Verbot problematisch.

Amnesty International wies in einer Aussendung darauf hin, dass es bei Einschränkungen der Versammlungsfreiheit für jeden Einzelfall klare Kriterien brauche. "Die Untersagung von Demos darf nur das allerletzte Mittel sein", heißt es. Massiver Protest kommt vorwiegend aus der FPÖ: Klubobmann Herbert Kickl, der bei den Aktionen eine Rede halten wollte, kündigte an, alle rechtlichen Hebel in Bewegung zu setzen. Seine Anhänger lud er schon jetzt zu einer Kundgebung "am Tag der Befreiung" ein, wenn die verfassungswidrigen Einschränkungen aufgehoben seien.

Die FPÖ war in der Vergangenheit selbst oft genug für ein Verbot diverser Demonstrationen aufgetreten, und als Retter der Demokratie ist Herbert Kickl aus verschiedensten Gründen keine glaubwürdige Besetzung. Dennoch haben die Freiheitlichen mit ihren Einwänden diesmal recht. Es sind keineswegs nur rechtsradikale "Corona-Leugner" und Verschwörungstheoretiker, die ihrem Protest gegen die Pandemiebekämpfung Ausdruck verleihen wollen. Und selbst wenn es so wäre, müsste das in einer Demokratie möglich sein. Ob eine Demonstration stattfinden darf oder nicht, entscheidet sich ja nicht an der Frage, ob die Teilnehmer sympathisch und ihre Anliegen vernünftig sind.

Nimmt man die bisherige Judikatur als Maßstab, dürfte das umfassende Demonstrationsverbot vor dem Höchstgericht nicht halten. "Würde allein der Umstand eines Risikos von Auseinandersetzungen bereits in jedem Fall erlauben, eine geplante Versammlung zu untersagen, liefe dies auf ein - mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen nicht zu vereinbarendes - vorbeugendes Versammlungsverbot hinaus", heißt es etwa in einer Urteilsbegründung des Verfassungsgerichtshofes vom 14. März 2013. Es ging in dem Fall um das Verbot einer von der ÖH geplanten Demonstration gegen den Akademikerball zwei Jahre zuvor. Damals herrschte keine Pandemie, aber von bevorstehenden "Gesetzwidrigkeiten" konnte die Polizei durchaus ausgehen, nachdem bei einer unangemeldeten Protestaktion am Vorabend des Balls diverse Mistkübel in Brand gesetzt worden waren. Außerdem argumentierte die Behörde mit teilweise gewalttätigen Protesten gegen die Veranstaltung in den Vorjahren. Reicht nicht, befand das Höchstgericht und stellte eine "Verletzung der Versammlungsfreiheit" fest.

Im August vergangenen Jahres ermöglichte das Berliner Oberverwaltungsgericht in letzter Minute eine Großdemonstration gegen die Corona-Maßnahmen, die von der örtlichen Polizei - mit ganz ähnlichen Argumenten wie in Wien - zuvor verboten worden war. Die Möglichkeit zum Eilantrag gibt es in Österreich nicht. Hier kann der Verfassungsgerichtshof eine Entscheidung erst im Nachhinein aufheben und hat das im Rahmen der Covid-Gesetzgebung auch des Öfteren getan. Bundeskanzler Sebastian Kurz sprach in diesem Zusammenhang einmal salopp von "juristischen Spitzfindigkeiten".

WIEN: GEPLANTE CORONA DEMONSTRATIONEN

Der Tiroler Verfassungsrechtler Peter Bußjäger hält es im Prinzip für möglich, Großdemos in der aktuellen Situation zu untersagen: "Man kann wohl damit argumentieren, dass ein Zusammentreffen so vieler Menschen in der aktuellen Situation ein Risiko darstellt." Ein Problem ist für Bußjäger allerdings die gesetzliche Basis, auf der die Argumentation der Polizei fußt: Seit der jüngsten Änderung der Covid-Verordnung müssen Demo-Teilnehmer nicht nur einen Mund-Nasen-Schutz tragen, sondern auch einen Mindestabstand von zwei Metern einhalten.

Diese doppelte Schutzmaßnahme ist im Freien sonst nicht vorgeschrieben - und auch kaum zu befolgen. "Für mich ist das der entscheidende Punkt", sagt Bußjäger. "Ich kann als Gesetzgeber keine lebensfremden Auflagen machen, die letztlich auf die Verhinderung von Demonstrationen überhaupt hinauslaufen. Der Zwei-Meter-Abstand lässt sich in einer Großstadt ja auch im normalen Alltag nicht durchgehend einhalten."

 

Der Wiener Polizeipräsident Gerhard Pürstl hat das sogar zugegeben. Seit die Abstandspflicht auf zwei Meter angehoben wurde, sei die Situation eine andere, erklärte er im Interview mit der "ZIB 2": "Es ist ganz klar und notorisch, dass bei Großveranstaltungen jedenfalls die Abstände nicht eingehalten werden können." Das hieße im Umkehrschluss: Jede halbwegs ernst gemeinte Demo muss bis auf Weiteres verboten werden.

Wie sich vor einer Woche zeigte, lässt sich die Unzufriedenheit vieler Bürger nicht mehr wegadministrieren. Trotz des Verbots kamen rund 10.000 Menschen zur Kundgebung - die von den Organisatoren zu einem gemeinsamen "Spaziergang" umdeklariert worden war. Die Bezeichnung erinnert wohl nicht zufällig an ein historisches Vorbild: Am 1. Mai 1933 hatte die damals verbotene Sozialdemokratie anstelle des Maiaufmarsches zu einem Spaziergang geladen. "Demonstrationen kann man verbieten, Spaziergänge sind erlaubt", stand auf den Flugblättern. Man sollte den historischen Kontext nicht zu weit fassen; Corona hat Österreich nicht in eine Diktatur verwandelt. Aber wenn sich der Staat genötigt sieht, den Protest auf der Straße so massiv einzuschränken, ist das auch jetzt kein gutes Zeichen.

Über die Gesundheitsgefährdung bei Zusammenkünften an der frischen Luft lässt sich wahrscheinlich lange streiten. Das Risiko wird - je nach Anlass - von den Behörden jedenfalls recht willkürlich bewertet. Allein die örtlichen Gegebenheiten in Wien können einen diesbezüglich ins Grübeln bringen: Die meisten Demonstrationen finden auf oder in der Nähe der Ringstraße statt. Am Ring liegt auch der Rathausplatz, wo die Stadt Wien derzeit wie jedes Jahr einen sehr beliebten Eislaufplatz betreibt. Gesportelt wird ohne Maske und ziemlich oft ohne Sicherheitsabstand. Warum ist das Eislaufen okay, während das Demonstrieren 100 Meter entfernt total gefährlich sein soll?

Der Wiener Anwalt Florian Horn beschäftigt sich seit Beginn der Pandemie sehr kritisch mit den rechtlichen Rahmenbedingungen der staatlichen Maßnahmen. Seiner Meinung nach würden zu oft für den reinen Showeffekt strenge Regeln erlassen - wie etwa der Zwei-Meter-Abstand - ,an die man sich kaum halten könne und deren Nichteinhaltung häufig auch nicht geahndet werde. "Auf diese Art gewöhnen sich die Leute daran, Bestimmungen zu ignorieren. Unsinnige Vorschriften sind der Hauptgrund für die Pandemiemüdigkeit."

Gelegentlich wird dafür rigoros durchgegriffen. Ein oberösterreichischer Volksschuldirektor wurde letzte Woche wegen Verletzung der Dienstpflicht abberufen. Seine Vergehen: Er hatte im Büro keine Maske getragen und an der Corona-Demo in Wien teilgenommen. Langsam wird es ungemütlich in Österreich.

ROSEMARIE SCHWAIGER war nie eine eifrige Demonstrantin und beschäftigt sich meist nur beruflich mit dieser Protestform. Sie ist überzeugt, dass verbotene Kundgebungen den größten Schaden anrichten.

 

Rosemarie Schwaiger