Corona und Schule: "Der Staat hat in unseren Wohnungen nichts verloren"
Es ging alles sehr schnell. Am letzten Freitag vor den Schulschließungen holte Peter Androsch seine Tochter und seinen Sohn ab. Gemeinsam räumten sie die Spinde aus, packten das Turnzeug, die Wörterbücher und die Atlanten ins Auto und fuhren nach Hause - ihr Vater in der Illusion, sich um die schulischen Belange nicht mehr viel kümmern zu müssen. Sechs Wochen später ist er eines Besseren belehrt.
Daheim angekommen, begannen die Mühen der Ebene. Alle Mitglieder der Familie brauchten einen Arbeitsplatz: der Vater, ein freischaffender Künstler, der an der Kunstuniversität Linz Akustik unterrichtet; die Mutter, die an der pädagogischen Hochschule Mathematik-Didaktik lehrt, die 14-jährige Tochter, der 12-jährige Sohn. Peter Androsch blieb oft nur mehr das Bett übrig.
"Jetzt muss sich etwas ändern"
Homeschooling erwies sich als Beschäftigung neben Frühstück machen, Mittag- und Abendessen kochen, Wohnung aufräumen, Bad putzen, die Wäsche waschen, für alle einkaufen gehen. Zwei Wochen jonglierten Eltern und Kindern mit allen nötigen Verrichtungen und diversen Bedürfnissen. Dann stießen sie an Grenzen. Vier Videokonferenzen waren an einem Tag zusammengekommen. Der Vater stimmte sich via Zoom-Konferenz mit seiner Uni ab, die Mutter war ebenfalls in einem Meeting, gleichzeitig hatten die Lehrer Video-Treffen für die Kinder anberaumt. So viel Bandbreite gab der Internetanschluss nicht her.
Peter Androsch starrte auf den eingefrorenen Bildschirm: "Jetzt muss sich etwas ändern." Während die Eltern alle Hände voll zu tun hatten, dafür zu sorgen, dass alle gesund bleiben, die Familie wirtschaftlich überlebt - dem freischaffenden Künstler waren 90 Prozent der Gagen weggefallen -, die 85-jährige Mutter versorgt ist und sich jemand um die gehbehinderte Nachbarin kümmert, hatte die Schule schleichend das Kommando übernommen.
"Frau Professor" im Wohnzimmer
Wenn Androsch ins Wohnzimmer kam, schaute er einer "Frau Professor" ins Gesicht. Dabei hatte nie jemand um Erlaubnis gefragt, bevor das Gymnasium hier mit Kameras und Mikrophonen sein Regime aufzog. Man hatte minderjährigen Kindern am letzten Schultag einfach die Daten mitgegeben, mit denen sie sich in Teams-Meetings einwählen sollten. "Hätte ich gewusst, was auf mich zukommt, hätte ich das sofort unterbunden. Der Staat hat in unseren Wohnungen nichts verloren", sagt Androsch.
Noch mehr erschreckt habe ihn, wie viele Eltern dieses "Hineinschauen in die privatesten Bereiche" hinnehmen. Vielleicht aus Angst, ihre Kinder könnten beim Lernstoff zurückfallen. Von Wiederholen und Vertiefen könne keine Rede sein, "die Lehrer wollen weiter unterrichten", stellte Androsch bald fest. Den Schülern würden Fristen gesetzt, ohne sich mit den Eltern abzustimmen. Erkläre seine Frau, dass eine Vorgabe nicht einzuhalten sei, müsse sie sich rechtfertigen.
Noten und Ängste
Androsch ist nicht nur Vater, sondern auch Elternvertreter. Es sei zu einem lauten Gespräch mit dem Direktor gekommen, das in eine annehmbare Übereinkunft mündete. Die Familie ist für die Schule online nicht mehr verfügbar. Einmal wöchentlich holt der Vater das Lernmaterial in Papierform ab, bringt es aber nicht zurück. "Wenn jemand sehen möchte, was die Kinder gemacht haben, kann er sich das am Ende des Hausarrests anschauen." Bis dahin wird in der Familie entschieden, wann und wie sie lernen.
Der Kompromiss entspannte die Lage, verschleiert für Androsch aber grundsätzliche Probleme. Beispiel Benotung: Laut ÖVP-Bildungsminister Heinz Faßmann sei die Corona-Krise "nicht die Zeit, schulischen Leistungsdruck zu entfalten". Auf der Ministeriums-Homepage liest Androsch jedoch, dass Leistungen zu Hause wie Hausübungen bewertet werden. "Unglaublich, dass man jetzt nichts Besseres im Kopf hat als Noten und das Schüren von Ängsten."
Mündige Bürger
Sollten Schulen wieder einmal wegen einer Pandemie schließen, hat er ein paar Verbesserungsvorschläge in der Schublade: In jeder Klasse sollten sich Teams aus Schülern, Lehrern und Elternvertretern bilden, die sich verständigen, wie man die Auszeit am besten gestaltet, wie Online-Instrumente sinnvoll und gesetzeskonform eingesetzt werden und welche Opt-Out-Möglichkeiten es für Eltern gibt, die der Frau Professor im Wohnzimmer nicht ins Gesicht sehen wollen.
Und: Statt Eltern und Kindern zu unterstellen, auf der faulen Haut zu liegen, wenn sie nicht durch Fristen, Befehle und Noten angetrieben werden, könnten sich alle in demokratischer Mitbestimmung üben und junge Menschen zu mündigen Bürgern erzogen werden. Die Corona-Krise ist für Androsch in dieser Hinsicht eine einzige Verschwendung.