Die Corona-Chroniken: Coronalbtraum in türkis-blau
Tag 8 im Ausnahmezustand: Wir leben in panischen Zeiten und brauchen keine fiktiven Schreckensszenarien, denn die realen sind schon beklemmend genug. Doch um sie besser zu ertragen, hilft es vielleicht, das größte anzunehmende Unglück mit einem besonders gruseligen Gedankenspiel zu veranschaulichen.
Verlegen wir – rein hypothetisch – die Krise um ein Jahr zurück. In Österreich regiert Türkis-Blau. Das Krisenmanagement ressortiert somit maßgeblich zu einem Kleinkabinett des Grauens. Während sich Vizekanzler Heinz-Christian Strache in seiner Funktion als Sportminister für rundum unzuständig erklärt, nennt Innenminister Herbert Kickl, inspiriert von seinem ungarischen Buddy im Geiste, Viktor Orbán, den Feind gewohnt unerschrocken beim Namen und bietet im Kampf gegen das „ausländische Virus“ auch gleich seine neue Allzweckwaffe auf: die Polizeipferdestaffel.
Die Hauptlast liegt jedoch bei Beate Hartinger-Klein: Als Bundesministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz ist sie in jeder Hinsicht an vorderster Front gefragt. Auf die Frage nach den mittel- und langfristigen Kosten der Pandemie für die Bevölkerung antwortet sie schulterzuckend: „Man kann von 150 Euro leben."
Da die behördlichen Maßnahmen auch am 17. Mai 2019 noch flächendeckend in Kraft sind, erregt das Ibiza-Video nicht die geringste Aufmerksamkeit.
Aus diesem Albtraum erwacht man nur allzu gern – und sei es in dieser Realität! Bleiben Sie gesund!
Sven Gächter
Zahlen bitte! Die Lage bei den Infektionen
Ein auf den ersten Blick ziemlich beängstigender Sprung war das von gestern, Sonntagvormittag, auf heute: Von 3026 Infizierten auf 3663 (Stand 10.30 Uhr), und das bei bloß 2061 zusätzlichen Testungen – 30,9 Prozent der jüngsten Tests waren also positiv.
Allerdings: Die Ansteckungskurve ist im Begriff, sich zu verflachen, die Verdopplungsrate liegt nach zuvor drei nun bei Tagen. Für das Gesundheitssystem maßgeblich ist dabei die absolute Zahl von Erkrankten, die Spitalsbehandlung brauchen. Werden es zu viele, kollabiert die Versorgung.
Davon kann aber vorerst keine Rede sein. Mit Stand 10.30 Uhr waren in Österreich 114 Corona-Patienten hospitalisiert, 16 davon auf der Intensivstation. Die Zahl der amtlich bestätigten Todesfälle ist von gestern auf heute von neun auf 16 gestiegen.
Ein weiterer Faktor ist die Dunkelziffer. Ist sie hoch, kann das – wie der Simulationsexperte Niki Popper von der TU Wien im Ö1-Morgenjournal erklärt hat – durchaus etwas Gutes sein: Wenn viele Personen infiziert sind oder waren, ohne es bemerkt zu haben, sind auch viele bereits immun und können das Virus nicht weitertragen. Andererseits kann sich bei einer hohen Dunkelziffer auch eine unvorhersehbare Steigerung zusammenbrauen.
Derzeit also: Kein Grund zur Entwarnung. Aber auch kein Grund zur Panik.
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Big brother und wir: Covid-19(84)
Grundrechtseingriffe mögen derzeit unausweichlich sein. Doch die behördliche Therapie birgt erhebliche Risiken.
Von Stefan Melichar
Dass China bei der autoritären Nutzung neuer Technologien dem Rest der Welt auch in Zusammenhang mit der Corona-Krise einen Schritt voraus ist, mag nicht überraschen. Unbehagen bereitet es dennoch, wenn die Polizei mittlerweile Flugdrohnen einsetzt, um Personen, die sich im Freien aufhalten, abzufangen, abzumahnen und zurück ins Haus zu eskortieren. Anderswo ist man noch nicht ganz so weit – aber fast. In Spanien etwa bedient sich die Exekutive unbemannter, mit Lautsprechern ausgestatteter Fluggeräte, um etwa Parks zu räumen. Österreich hingegen setzt immer noch auf alte Funkstreifen-Schule: Da beschallen Uniformierte aus Fleisch und Blut von ihrem Dienstfahrzeug aus den Wiener Rathausplatz und fordern die Bürger mit dem tiefgründigen Satz, „Das Verweilen im Park gilt nicht als Spaziergang“, zum Verlassen der Grünanlage auf. Dass die Ordnungshüter hier eine deutliche Überinterpretation der ohnehin schon höchst weitreichenden Corona-Gesetze vornehmen, darf durchaus als Symptom einer problematischen Entwicklung gesehen werden.
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Scheidungsrate: null
Wie löst man in Zeiten des physical distancing eigentlich eine Ehe auf? Gar nicht. Robert Treichler sprach mit einem Scheidungsanwalt.
Das Coronavirus zwingt uns zu physicher Distanz. Keine Treffen, keine Veranstaltungen, keine Partys. Abstand halten sollen wir voneinander, mindestens einen, besser zwei Meter, haben wir gelernt. Doch für gar nicht wenige Menschen bedeutet das paradoxerweise, dass sie sich jetzt nicht voneinander trennen können, obwohl sie das dringend möchten.
Alle Gerichtstermine wurden abgesagt
Norbert Marschall ist Scheidungsanwalt in der Wiener Kanzlei Klaar und Marschall und arbeitet derzeit wie die meisten Leute teilweise im home office. Aber nicht nur deshalb hat sich sein Job durch die Epidemie verändert. Er muss all seinen Klientinnen und Klienten mitteilen, dass Scheidungsverhandlungen im Moment nicht stattfinden können. Alle Gerichtstermine wurden abgesagt. Auch wenn man sich vor einem Richter rechtsgültig trennen will, könnten die Anwesenden einander dabei infizieren.
Die Scheidungsrate liegt in Österreich deshalb derzeit bei null.
Dennoch hat Anwalt Marschall jede Menge zu tun. Die Scheidungs- und Obsorgestreitigkeiten schwelen außergerichtlich weiter. So bekommt er etwa zahlreiche Anrufe und Mails von besorgten Elternteilen, die nicht wissen, ob sie ihre Kinder dem anderen – getrennt lebenden – Elternteil wegen einer möglichen Ansteckungsgefahr und den bestehenden Ausgangsbeschränkungen übergeben sollen beziehungsweise dürfen, aber auch von Elternteilen, die verzweifelt darüber sind, dass sie ihre Kinder infolge der Coronavirus-Krise nicht mehr sehen.
„Ich kann böse Briefe schreiben“
Unternehmen kann ein Anwalt in so einem Fall im Moment leider auch nicht allzu viel. „Ich kann böse Briefe schreiben“, sagt Marschall. Und wenn er doch einen besonders engagierten Richter erreicht, dann könne der im besten Fall versuchen, die Sache am Telefon zu lösen.
Was auf die Phase der scheidungsfreien Zeit folgen wird, ist auch klar: ein Hochschnellen der Scheidungszahlen. „Wenn Paare gezwungen sind, monatelang aufeinander zu kleben, eskalieren die Probleme“, weiß Marschall.
Ein Fall ist ihm jedoch kürzlich abhanden gekommen. Eine Frau, die er bei ihrer Scheidung vertrat, teilte ihm mit, dass sie das Verfahren storniere. Sie habe angesichts der Coronavirus-Krise die Konflikte mit ihrem Ehemann überwunden oder wenigstens hintangestellt. Die Beiden beschlossen, es noch einmal gemeinsam zu versuchen und sich in dieser schwierigen Zeit um die Kinder zu kümmern.
Die Liebe in Zeiten des Coronavirus.
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Zitat des Tages
„Aber, wird man sagen, wie sahen diese Getrennten eigentlich aus? Nun, das ist einfach: sie sahen nach nichts aus. Oder, wenn man lieber will, sie sahen ganz gewöhnlich aus, einfach wie alle Leute.“ Albert Camus
Der französische Autor beschreibt in seinem Roman „Die Pest“ (1958) die Auswirkungen einer Seuche auf die nordafrikanische Stadt Oran und ihre Gesellschaft. Nicht in Allem, aber doch in Vielem erkennt man sich derzeit wieder, wenn man Sätze wie diese liest - etwa, wenn der direkte Kontakt zu nahen Angehörigen und Freunden unmöglich ist.
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Countersound: Philip Dulle findet Musik gegen Corona.
Ski-Star Mikaela Shiffrin singt für Corona-Helfer Zusammenhalten, indem man auseinanderbleibt. Das Mantra der Stunde (und wohl der kommenden Monate) nehmen sich nicht nur Musikerinnen zu Herz und spielen publikumsfreie Wohnzimmerkonzerte am laufenden Band – auch Sportlerinnen nutzen das unverhoffte Saisonende zur kreativen Zerstreuung. US-Skirennläuferin Mikaela Shiffrin, die heuer nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters bereits einige Rennen ausfallen lassen musste, sitzt nun, in gemütlicher Adidas-Jogginghose zu Hause auf der Couch, die Gitarre im Anschlag und richtet ihre Singer-Songwriter-Dankesnachricht an all die Alltagsheldinnen, ohne die auch in normalen Zeiten nichts funktionieren würde. Die Lyrics an all die Menschen, die jetzt im Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus stehen, hat die 25-Jährige zum gemeinsamen Singen gleich mitveröffentlicht: „We are with you, even if we are apart / We will mend your broken hearts.“
Alles wird gut.
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Schöne Grüße aus dem Elfenbeinturm!
Wolfgang Paterno macht sich auf die Suche nach Sätzen, die helfen.
„Die Erinnerung muss als heilloses Durcheinander gesehen werden. Erst wenn man ein Drama daraus macht, herrscht Ordnung.“
Die Vorarlbergerin Monika Helfer schreibt Sätze wie sonst keine. Auch und vor allem in ihrem neuen Roman „Die Bagage“, einer Familiengeschichte, die den vermeintlich belanglosen Alltag ebenso umspannt wie die großen Verwerfungen im Leben der Menschen, von denen Helfer erzählt. Zwei Sätze, viele große Wörter: „Erinnerung“, „Durcheinander“, „Drama“, „Ordnung“: Schon beim Lesen fühlt man sich seltsam gestärkt.
Monika Helfe: Die Bagage. Hanser 2020, 159 S., EUR 19,60
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Social Media-Fundstück des Tages
70 Kilometer um den Küchentisch: Langstreckenläufer Rainer Predl verlegt seinen Lauf kurzerhand in die Wohnung.