Mails aus Island zeigen: Tirol reagierte zu spät
Hätten die Tiroler Behörden früher auf den Corona-Hotspot Ischgl reagieren können? Verfügten sie über ausreichend Informationen, um die Dringlichkeit zu erkennen? profil liegen nun die Mails der isländischen Behörden vor, in denen sie ihre österreichischen Kollegen warnen – sie verstärken den Eindruck des verkorksten Krisenmanagements des Landes Tirol. In der Nacht auf den 5. März trudelte bekanntlich die erste Warnung aus Island ein; mehrere Ischgl-Heimkehrer wurden positiv getestet.
Um 15:37 Uhr desselben Tages leitete das Gesundheitsministerium in Wien ein weiteres Mail aus Island an das Land Tirol weiter, diesmal mit näheren Details: „Dear colleagues“, schrieben die isländischen Behörden, „we have a total of 14 cases with travel history to Ischgl via Münich“. Aus dem Mail (siehe Faksimile) geht eindeutig hervor, dass einige infizierte Urlauber bereits am 29. Februar nach Island zurückgekehrt sind – die Tiroler Behörden wussten also ab 5. März, dass das Virus bereits seit Ende Februar in Ischgl im Umlauf ist. Und: Die Isländer listen in dem Mail auch alle fünf Hotels auf, in denen sich die positiven Coronafälle aufgehalten haben. „Warum wurden in den fünf Hotels nicht alle Mitarbeiter und Gäste sofort getestet?“, fragt ein Mitglied des Corona-Beraterstabs der Bundesregierung. Ja, warum eigentlich nicht?
Anfrage beim Land Tirol. Nach den Warnungen am 5. März warteten die Tiroler Behörden noch einen vollen Tag, bis die Isländer auch die genauen Namen der Gäste übermittelten. Erst dann wurden „anhand dieser Informationen Kontaktpersonen in den betreffenden Hotels ermittelt. Lediglich bei einer der befragten Personen wurden leichte grippeähnliche Symptome festgestellt“, schreibt das Land Tirol in einer Stellungnahme. Dabei war damals schon längst bekannt, dass auch symptomfreie Personen das Virus in sich tragen können. Auf die Frage, wie viele Personen in der Folge getestet und unter Quarantäne gestellt wurden, gab es keine Antwort. profil fragte bei den fünf betroffenen Hotels nach. Die meisten Betreiber gaben sich wortkarg, doch einer erklärte: „Nur die Mitarbeiterin, die mit diesen Isländern am meisten zu tun hatte, wurde getestet. Sie war negativ.“
Nur eine Mitarbeiterin wurde also getestet – und keine anderen Gäste.
Markus Sint, Landtagsabgeordneter der Liste Fritz, kann das nicht nachvollziehen: „Warum reagierte die für Ischgl zuständige Landecker Bezirkshauptmannschaft deutlich lascher als der Innsbrucker Magistrat eine Woche zuvor?“ In Innsbruck war Ende Februar im Hotel Europa eine Rezeptzionistin positiv getestet worden – die Reaktion folgte promt: „Am Faschingsdienstag um die Mittagszeit kam das positive Testergebnis. Noch am selben Tag wurde die Gesundheitsbehörde zum Hotel Europa beordert“, erklärt Elmar Rizzoli, Leiter des Krisenstabs der Stadt Innsbruck im Gespräch mit profil: „Die Polizei hat keinen neuen Personen Zutritt gewährt. Dreieinhalb Stunden wurden etwa 60 Gäste und Mitarbeiter getestet, die mit der Frau Kontakt hatten – danach wurden die Betroffenen in Quarantäne geschickt.“
Die Innsbrucker Behörde ließ also alle Kontaktpersonen testen – und nicht bloß jene mit Symptomen. Warum die Behörde in Landeck anders vorgegangen ist, wird wohl eine der zentralen Fragen der Untersuchungskommission, die der Tiroler Landtag demnächst einsetzen will.
Kam die Sperrstunde für den Apres Ski zu spät?
„Home Of Wahnsinn“, „Ground Zero“ der europäischen Corona-Pandemie – an internationaler Negativpresse fehlt es der Skigemeinde im Paznauntal in den letzten Wochen und Monaten nicht. Beim Eintrag im Online-Lexikon Wikipedia wird Ischgl schon im vierten Satz mit Corona in Verbindung gebracht, der deutsche „Spiegel“ ortet in Ischgl „Gier und Versagen“. Der Vorwurf: Zu lange hätte die Tiroler Landespolitik mit der ihr angeblich verbandelten Tourismusindustrie auf einen Shutdown der Skisaison zugewartet.
Klar ist: Leicht kann der Landesregierung ein sofortiger Stopp der Hochsaison nicht gefallen sein. In Tirol wird jeder dritte Euro im Tourismus erwirtschaftet, ein Viertel aller Arbeitsplätze hängen an der Branche. Der Umsatz belief sich in der Vorsaison auf 8,4 Milliarden. Eine besondere Goldgrube ist die Gemeinde im Paznauntal: Mit 1,4 Millionen Nächtigungen belegte Ischgl letztes Jahr Rang Zwei in der Statistik, auf 1600 Einwohner kommen 10.000 Gästebetten.
Um welche Summen es in Ischgl geht, zeigen auch profil-Recherchen zum inzwischen berüchtigten „Kitzloch“. Für den Betrieb war es die erste Saison unter neuem Inhaber, die Hoteliersfamilie hatte für die Übernahme der Bar letztes Jahr einen Kredit in Millionenhöhe aufgenommen. Schätzungen von Branchenkennern zufolge machen Aprés-Ski-Betriebe an Spitzentagen bis zu 100.000 Euro Umsatz. War man bemüht, den Laden so lange wie möglich offen zu halten?
Der Betreiber der Bar verteidigt sich, er habe stets nach Vorgaben der mit ihm in Kontakt stehenden Behörden gehandelt. Und dabei dürfte er auch recht haben: Dass die Bar nach Bekanntwerden des ersten infizierten Angestellten am 7. März noch zwei Nächte offenblieb, war mit dem Land abgestimmt. „Eine Übertragung des Coronavirus auf Gäste der Bar ist aus medizinischer Sicht eher unwahrscheinlich“, hieß es am 8. März seitens der Landessanitätsdirektion. Beamte der Direktion seien laut Aussage des Betreibers auch vor Ort gewesen. Nach Austausch der Belegschaft und einer Desinfektion des Betriebs „wurde der Fortsetzung des Barbetriebes mit nicht betroffenen MitarbeiterInnen ab Sonntagabend zugestimmt“, wie ein Sprecher der Landesregierung bestätigt. Erst am 9. März, als die Tests von sechzehn unter Quarantäne gestellten Mitarbeitern und Kontaktpersonen positiv ausgefallen waren, ordnete die Bezirkshauptmannschaft Landeck per sofort die Schließung an.
Wer ist für das Abreise-Chaos am 13. März verantwortlich?
Auswertungen von Mobilfunkdaten zeigen es deutlich: Nachdem das Land Tirol am 13. März die Quarantäne über das Paznauntal verhängt hatte, verließen Massen an Urlaubern die Skigebiete Richtung Heimat. Viele von ihnen brachten das Virus wohl unbewusst mit nach Hause.
Wäre es besser gewesen, die Touristen vorher zu testen oder für zwei Wochen zu isolieren? Dominik Oberhofer von den Tiroler Neos ist selbst Hotelier und vermutet finanzielle Interessen hinter der verordneten Massenausreise: „Ischgl hatte 7000 Gäste zu dem Zeitpunkt. Die wollten natürlich nicht die Logie und die Verpflegung der Urlauber für 14 Tage Quarantäne zahlen.“
Gesichert ist, dass auch Urlauber das Paznauntal an jenem 13. März verließen, die erst am Folgetag einen Heimflug von Innsbruck hatten. Sie buchten unbemerkt Quartiere in der Landeshauptstadt. „Ich nehme an, dass die Angst hatten, dass sie sonst nicht mehr rauskommen. Laut Plan hätten die auch erst am 14. März aus dem Paznauntal ausreisen dürfen, trotz Quarantäne – das haben wir so kommuniziert und die meisten haben das auch so gemacht“, erklärt Elmar Rizzoli vom Magistrat Innsbruck. Nachforschungen der örtlichen Polizei zufolge dürften mindestens 80 Urlauber einen Zwischenstopp in Innsbruck eingelegt haben. Typisch für die angespannte Lage in Tirol beschuldigt jeder jeden. Die Innsbrucker Hoteliers nahmen die Gäste auf und kritisierten danach öffentlich die Behörden. Rizzoli: „Für uns war das ärgerlich, weil man uns in der Situation nicht gleich informiert hat – sondern erst danach.“
Auf die Untersuchungskommission wartet jede Menge Arbeit.