Cybernost
In Moskau und Peking hatte man im Dezember mächtig Spaß. Der Kreml und das chinesische Politbüro sahen mit Vergnügen zu, wie die USA sich lächerlich machten. Washington hat Julian Assange zum Staatsfeind Nummer eins hochstilisiert. Die Veröffentlichung von 250.000 geheimen diplomatischen US-Depeschen durch WikiLeaks, die Internet-Plattform, für die der australische Nerd mit den wasserstoffgelben Haaren steht, ließ die amerikanische Politik durchdrehen: Assange gefährde die nationale Sicherheit und das Leben Tausender Personen, behauptete die US-Regierung, blieb den Beweis für diese Anschuldigung aber schuldig.
Nach Guantanamo wollen führende Republikaner den gefährlichen Spion und Verräter schicken, die rechte Galionsfigur Sarah Palin vergleicht ihn mit Osama Bin Laden und meint, mit solchen Verbrechern müsse kurzer Prozess gemacht werden. Und auf Provider, Kreditkartenkonzerne, Internet-bezahl-Firmen und Regierungen anderer Länder wurde massiver Druck ausgeübt: WikiLeaks sollte mundtot gemacht werden.
Das misslang grandios. Die Net-Community schlug nicht nur zurück, indem sie die WikiLeaks-Feinde erfolgreich im Cyberspace attackierte. Eine Welle der Unterstützung im Netz machte die Aufdecker-Plattform von Julian Assange effektiver und stärker denn je. In einer digitalisierten Welt kann man die Bibliothek von Alexandria nicht mehr verbrennen, jubelte der bekannte Blogger James Cowie.
Was WikiLeaks macht, ist nicht neu. Insider der Macht, die mit Informationen über Missstände an die Öffentlichkeit gehen, hat es immer gegeben. Die bekanntesten Leaks in der jüngeren Geschichte, wie die berühmten Vietnam-Pentagon-Papiere oder die Berichte über die Folterungen in Afghanistan und im Irak, haben keineswegs Kriege befördert. Ganz im Gegenteil: Hätte WikiLeaks bereits 2002 bestanden, wäre der Irak-Feldzug möglicherweise schon im Keim erstickt worden.
Neu an der Arbeit von Assange und seinen Mitstreitern ist die Systematisierung der Leaks. Das wird von Wirtschaft und Politik verständlicherweise als Bedrohung aufgefasst. Die Öffentlichkeit aber muss diese neue Transparenz feiern nicht zuletzt auch die traditionellen Medien, die nun kostenlos wertvolles Material geliefert bekommen. WikiLeaks bietet zudem jenen Aufrechten in den Apparaten der Macht, die Ungesetzlichkeiten, offizielle Lügen und klandestine Politik publik machen, einen bisher nicht vorhandenen Hort und Schutzraum.
Mit den Scoops der Aufdecker-Plattform beginnt nun offenbar auf globaler Ebene, was im Russland der achtziger Jahre Glasnost hieß. Ob die weltpolitische Architektur, wie wir sie bisher kennen, einstürzen wird wie seinerzeit die Sowjetunion und der Kommunismus, sei dahingestellt. Sicher ist aber, dass sich mit Wikileaks das Kräfteverhältnis zwischen den Völkern und den Herrschern dieser Welt grundlegend zu verändern beginnt.
Von unerwarteter Seite kommt aus den USA volle Unterstützung für Assange. Der prominente rechte Republikaner Ron Paul aus Texas polemisiert gegen die Treibjagd auf Assange. In einer freien Gesellschaft sollten die Menschen die Wahrheit wissen, sagt er. Eine Gesellschaft, in der Wahrheit zu Verrat umgedeutet wird, steckt aber in großen Schwierigkeiten.
Die Chinesen und Russen sollten sich freilich nicht zu früh freuen. Die Whistleblowers sitzen auch bei ihnen schon in Wartestellung, um ihr gesichertes Wissen über die Untaten ihrer Regime auszuplaudern. WikiLeaks oder Nachfolge-Plattformen geben ihnen eine globale Heimat im Cyberspace.
Wegen einer Vergewaltigungsklage in Schweden saß Julian Assange in britischer Untersuchungshaft; gegen eine Kaution von 240.000 Euro sollte er wieder freikommen. An seinem Status als Robin Hood der Pressefreiheit und Guerillero der Aufklärung ändert dies vorerst wenig selbst dann, wenn sich herausstellen sollte, dass seine erotischen Abenteuer tatsächlich mehr waren als misslungene One-Night-Stands. Den Friedensnobelpreis, für den er bereits gehandelt wird, müsste er in diesem Fall jedoch wohl abschreiben.