Diese Geschichte beginnt am Nachmittag des ersten März. Drei junge Männer – ein Tschetschene und zwei Syrer – treffen am Reumannplatz aufeinander, geraten in einen Streit, schließlich wird eine Schlägerei daraus. Wenige Stunden später treffen die drei erneut aufeinander, der Konflikt eskaliert, ein Messer wird gezogen. Der Fall steht symptomatisch für den Hotspot Reumannplatz. Der Platz in Wien-Favoriten genießt an sich nicht den besten Ruf, aber heuer wurde er, nach einer Häufung von Schlägereien, Messerstechereien und Überfällen, zum Symbol für das, was in Wien schiefläuft. Ein Symbol gescheiterter Integration.
Am 1. März ist der 22-jährige Adam, dessen Name in Wirklichkeit anders lautet, gerade auf dem Weg zu seiner Stiefmutter. Er will ihr eine Tasche bringen, die er auf der Verkaufsplattform Willhaben für sie erworben hat. Am Reumannplatz wird er von zwei jungen Männern angesprochen. „Sie wollten mir etwas verkaufen“, wird Adam später im Gerichtsprozess aussagen. Mit „etwas“ meint er vermutlich Drogen. Seine Kontrahenten berichten, Adam habe sie angestarrt, und auf die Frage, was los sei, hätte er sie angegangen. Es kommt zu einem Handgemenge. Einer der beiden Syrer sprüht Adam Pfefferspray ins Gesicht. Aufgelöst geht der 22-Jährige zu seinem Vater, der in der Nähe wohnt. Rote Augen, wutentbrannt.
In diesem Frühling gab es unzählige Schlagzeilen über den Wiener „Gewalt-Hotspot“ und Favoriten als Wiens „Problembezirk“. Bundeskanzler Karl Nehammer überlegte kurz, aufgrund der steigenden Jugendkriminalität das Strafmündigkeitsalter zu senken. Innenminister Gerhard Karner beschloss gemeinsam mit der rot-pinken Stadtregierung eine Waffenverbotszone um den Reumannplatz. Dazu kamen mobile Polizeibüros in Klein-Lkw, viele Pressetermine und Fotos.
Auch der Favoritner Bezirksvorsteher Marcus Franz meldete sich zu Wort. „Wir haben im Österreichschnitt 333 Polizisten für 100.000 Bewohnerinnen und Bewohner. In Favoriten haben wir für 220.000 Bewohner nur 319 Polizisten“, klagte er in einem „Kurier“-Interview. Hat sich daran etwas geändert? „An der sehr unzufriedenstellenden Planstellensituation bei der Polizei hat sich leider nichts geändert“, heißt es aus Franz’ Büro im Dezember.
Mit einer Pressekonferenz eröffnen Stadtregierung und Wiener Polizei die mobile Station.
Mobile Polizeistationen am Reumannplatz
Mit einer Pressekonferenz eröffnen Stadtregierung und Wiener Polizei die mobile Station.
Als der zornige Adam in der Wohnung seines Vaters nahe dem Reumannplatz ankommt, versucht dieser, ihn zu beruhigen. Er schlägt vor, zur Stiefmutter nach Wien-Floridsdorf zu fahren. Doch Adam hat anderes vor. Gemeinsam kehren Vater und Sohn zum Reumannplatz zurück, um „den Streit zu schlichten“.
Medial wird der Fall vom 1. März zunächst als Beginn eines Wiener Bandenkrieges zwischen Syrern und Tschetschenen gehandelt. Vor allem Adams Anwalt betont immer wieder diese Verbindung, aber sie erhärtet sich nicht. Im Verlauf des Frühlings häufen sich Konflikte zwischen jungen Syrern und Tschetschenen in Wien. Sie gipfeln am ersten Juli-Wochenende in drei heftigen Vorfällen in nur 48 Stunden: Jugendliche gehen dabei mit Pfeffersprays, Messern, Holzlatten und sogar Schusswaffen aufeinander los. Die jungen Syrer gruppierten sich unter dem Namen 505 – eine Referenz auf einen syrischen Stamm. Sie waren keine fixe Gang, sondern vor allem gewaltbereite Jugendliche, die über Social Media ihre Stammesidentitäten mit Bedeutung aufluden. Jahrelang fielen Syrer in der Kriminalitätsstatistik kaum auf, 2024 war schließlich das Jahr, in dem sich der Ruf der syrischen Community verschlechterte. Die jungen Tschetschenen wiederum formierten sich in Telegram-Gruppen, gemeinsam mit Jugendlichen mit türkischen Wurzeln, die auch durch antisyrische Proteste in der Türkei angestachelt wurden. Es war eine toxische Mischung von lokalen Raum- und Machtkonflikten in Wiener Parks, die durch die internationale Politik angeheizt wurde.
Zurück zum Reumannplatz. Als Adam und sein Vater dort ankommen, ist von Streitschlichten keine Rede mehr. Was als „Friedensgespräch“ beginnt, eskaliert in einer Messerstecherei. Adam hat ein elf Zentimeter langes Klappmesser bei sich und sticht auf zwei der jungen Männer ein: je ein Stich in die Brust. Das bringt beide in Lebensgefahr.
Die syrische Community, die in den vergangenen Jahren in Wien auf über 100.000 Menschen angewachsen ist, begann sich in der Folge des Bandenkrieges in diesem Sommer stärker zu organisieren. Es setzt ein Problembewusstsein ein, dass es zu viele Jugendliche mit kriegsgebeutelten Biografien gibt, die erst in den letzten Jahren nach Österreich gekommen sind. Sie bilden an einigen Wiener Plätzen eine kritische Masse – eine Art verlorene Generation. Wenig charmant werden sie in der Community „Bahnhofskinder“ genannt. Nach einigen Treffen und Verhandlungen wurde im August ein Friedensvertrag zwischen Syrern und Tschetschenen geschlossen, der bis heute hält.
Was am Reumannplatz passiert, ist für die neue Regierung und wohl auch die Wien-Wahl entscheidend.
Während Adam auf die beiden einsticht, versucht sein Vater, Passanten von der Auseinandersetzung fernzuhalten. Auch er zieht sein Messer – ein großes Taschenmesser, das er stets bei sich trägt. Wenige Minuten später trifft die Polizei ein und verhaftet Vater und Sohn. Beide kommen in Untersuchungshaft. Während der Vater Anfang Oktober vorübergehend freigelassen wird, bleibt Adam hinter Gittern. Der Prozess wird im neuen Jahr fortgesetzt.
m Lauf des Jahres verschob sich das Lebensgefühl am Reumannplatz. Besonders verunsichernd waren zwei Vorfälle, bei denen Männer, die Zivilcourage zeigten und belästigten Frauen halfen, mit Messern attackiert wurden. Einmal im März, einmal im November.
Vor einigen Jahren wurde er verkehrsberuhigt, es gibt viele Sitzgelegenheiten, das Amalienbad, den berühmten Tichy und und eines der nettesten Wiener Cafés.
Reumannplatz ist ein ziemlich charmanter Ort.
Vor einigen Jahren wurde er verkehrsberuhigt, es gibt viele Sitzgelegenheiten, das Amalienbad, den berühmten Tichy und und eines der nettesten Wiener Cafés.
Was am Reumannplatz passiert, ist für die neue Regierung und wohl auch die Wien-Wahl entscheidend. Der Platz wurde zum Symbol von Zuständen, vor denen Menschen Angst haben – und die vermutlich auch wahlentscheidend für die FPÖ waren. Dabei ist der Reumannplatz eigentlich ein ziemlich charmanter Ort. Eines der schönsten Bäder befindet sich hier – das Amalienbad; dazu einer der besten Eismacher – der berühmte Tichy; und eines der nettesten Wiener Cafés, das alte Stammkunden und junges Publikum verbindet – das Café Windstill. Der Platz wurde vor ein paar Jahren verkehrsberuhigt, keine Autos, keine Straßenbahnen ziehen mehr durch. Es gibt so viele Sitzmöglichkeiten wie kaum an einem anderen Platz in Wien. Sobald die Sonne scheint, sitzen Menschen dort. Es sind gesellige Momente, die in Wien sonst selten sind. Dass offen auf der Straße gedealt wird, war lange Zeit die Ausnahme.