Der Fall der ermordeten Sexarbeiterinnen in der Brigittenau hat ein Milieu in die Öffentlichkeit gerückt, das seit Jahrzehnten marginalisiert wird. Sexarbeit sei für viele Betroffene eine selbstbestimmte Erwerbsarbeit, sagt Renate Blum vom Verein LEFÖ, der sich seit 35 Jahren für Sexarbeiterinnen einsetzt: „Letztlich geht es um ein Geschäft. Die Ausübung ist auch eine Möglichkeit, ohne lange Berufsausbildung, Geld zu verdienen.“ In welchem gesetzlichen Rahmen sich die Betroffenen bewegen, hänge freilich von der Politik ab. Repression dränge viele Frauen in die ungeschützte Illegalität.
Politik und Exekutive tendieren allerdings dazu, migrantische Sexarbeiterinnen kollektiv mit organisiertem Verbrechen, Menschenhandel und sexueller Ausbeutung in Verbindung zu bringen. So auch im Jahr 2016, als die Inhaberin des Studio 126A, Hongxi Z., ins Visier einer Großermittlung gerät. Der Vorwurf: Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und organisierter Menschenhandel. Z. bestreitet alle Vorwürfe; dass sie ein Sexstudio betreibt, verheimlicht sie keineswegs. 2018 wird sie freigesprochen.
Einerseits scheut das Milieu die Polizei, denn Beamte ruinieren das Geschäft. Andererseits sind Betroffene froh, wenn diese bei Übergriffen schnell zur Stelle sind. Im Studio 126A kommt jede Hilfe zu spät.
„Blut. Böse Menschen. Komm schnell.“
Eine vierte, an diesem Abend anwesende Chinesin überlebt den Angriff, indem sie sich mit einem Freier in einem Zimmer verbarrikadiert. Sie hört die Schreie ihrer Kolleginnen, bis sie verstummen. Unter Schock setzt sie eine Nachricht an ihren Lebensgefährten ab: „Blut. Böse Menschen. Komm schnell.“ Diese Worte setzen die Notrufkette in Gang. Wenig später treffen Polizei und Rettungskräfte im Studio 126A ein, finden aber nur noch Tote vor. Die Frauen wurden bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Die Brutalität des Verbrechens ist so erschütternd, dass selbst erfahrene Forensiker später vor Gericht von beispielloser Gewalt sprechen.
Der Freier, der sich mit der Überlebende verschanzt hat, flieht noch in derselben Nacht. Bis heute bleibt er unauffindbar. Die Tatnacht entfacht in einschlägigen Internetforen Aufregung. Die Aufmerksamkeit, die solche Etablissements dadurch erfahren, lässt viele Freier vorsichtig werden.
Der Täter, Ebdullah A., wird noch in derselben Nacht unweit des Tatorts aufgegriffen. Blutüberströmt und regungslos in einer Böschung, wo er sich ohne Widerstand der Polizei ergibt. Während seiner Vernehmung zeichnet sich das Bild eines Mannes ab, dessen Leben von Hoffnung, Flucht und mentalem Zerfall geprägt ist. A. stammt aus einer wohlhabenden paschtunischen Familie in Afghanistan. Er besuchte die Schule in Kabul, studierte Informatik und hatte einen Job als Grafiker. Als Ortskräfte für die US-Amerikaner konnte sich A.s Familie einen gewissen Wohlstand aufbauen. Mit der Machtübernahme der Taliban im Sommer 2021 war die Familie gezwungen, in den Iran zu fliehen – ein tiefer sozialer Abstieg. Um die Zukunft der Familie zu sichern, sammelte sie ihr Erspartes, um A. die Flucht nach Europa zu ermöglichen.
Neun Monate nach der Nacht des 23. Februar kommt es am Wiener Straflandesgericht zum Prozess. Acht Stunden sind angesetzt, der Andrang im Schwurgerichtssaal ist groß. Neben Journalisten, Angehörigen und NGOs sind viele Studierende anwesend, die den außergewöhnlichen Fall mitverfolgen. Im Verfahren geht es nicht um die Frage der Schuld. Die Staatsanwaltschaft hat für A. die Einweisung in eine psychiatrische Anstalt beantragt. Die Geschworenen haben zu entscheiden, ob A. zur Tatzeit zurechnungsfähig war.
Im Prozess gibt A. den Mord zu, aber er könne sich an die Tat nicht erinnern. Ob das stimmt, kann der psychiatrische Gutachter nicht feststellen. Sicher ist, dass bei A. eine paranoide Schizophrenie vorliegt. Er höre auch nach seiner Therapie immer noch Stimmen im Kopf. Woher diese kommen? Er erzählt über seine Fluchterfahrungen auf der Balkanroute. Dort habe ihn eine Flüchtlingshelferin verhext. Seitdem plagen ihn die Stimmen, die ihn vom Weg eines anständigen Muslims abringen wollen. Satan spiegle sich für ihn in Frauen, Sex und Pornografie wider.
Vor der Richterin erscheint ein Kindheitsfreund von A. Die Brutalität seines Freundes kann er sich nicht erklären. Ein streng gläubiger Muslim soll A. nie gewesen sein. Der Freund berichtet, dass A.s Familie ihn vor der Tat gebeten habe, A. bei sich unterzubringen, nachdem ein Exorzismus aus der Ferne erfolglos geblieben sei. A. wollte im März zu seiner Familie in den Iran zurückkehren. Das Flugticket war bereits gebucht.
A. ist geständig, er erzählt vom Abend der Tat. Bevor er zum Studio 126A geht, besuchte er die örtliche Moschee. Aus Versehen wird er dort eingeschlossen und muss sich über ein Fenster befreien. Vor Gericht deutet er das als Zeichen Gottes, um ihn vom Töten abzuhalten. Sein Strafverteidiger Philipp Springer interpretiert das als eine Form von Reue.
Bei Gericht vergehen fast sechs Stunden, in denen Zeugen vernommen, Gutachter angehört und Geschworene eine Entscheidung fassen müssen. A. wird wegen seiner Schizophrenie in das forensisch-therapeutische Zentrum Göllersdorf eingeliefert. Für die Gerichtspsychiater ist klar: Er ist weiterhin eine Bedrohung für die Allgemeinheit.
Die vierte Chinesin, die die Tatnacht überlebt hat, kämpft noch immer mit den traumatischen Folgen des 23. Februar. Ihr wurde untersagt, das Land zu verlassen, solange die Ermittlungen laufen. Mit der Einlieferung des Täters darf sie nun wieder ausreisen. Sie möchte bald in die Volksrepublik fliegen, um ihre Kinder wiederzusehen.