Das war 2024: Ex-Kanzler Kurz erstinstanzlich verurteilt
Von Stefan Melichar
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„Urteilsverkündung in der Strafsache Sebastian Kurz und Bernhard Bonelli, Großer Schwurgerichtssaal“, schallt es durch den Lautsprecher im sogenannten Grauen Haus, dem ikonischen Landesgerichtsgebäude im 8. Wiener Gemeindebezirk. Angeklagte, Ankläger, Anwälte und Prozessbeobachter erheben sich im voll besetzten Gerichtssaal von ihren Plätzen – und halten den Atem an.
Der Stunde der Entscheidung waren zwölf meist lange und intensive, teils gar dramatische Verhandlungstage vorangegangen – profil hat jede Minute davon im Saal mitverfolgt. Seit Jahrzehnten – seit Fred Sinowatz im „Noricum“-Prozess 1993 – stand erstmals wieder ein früherer Bundeskanzler als Angeklagter vor Gericht. Und zwar nicht irgendeiner: Sebastian Kurz galt als politischer Überflieger, wie ihn Österreich noch selten erlebt hatte. 2017 führte er die ÖVP in einen ungeahnten Höhenrausch. Umso heftiger die Katerstimmung, als der Kanzler und Parteichef Ende 2021 vor dem Hintergrund immer massiver zutage tretender Skandale den Hut nahm. Polit-Opfer einer außer Rand und Band geratenen Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA), wie seine Anhänger das gerne behaupteten? Nun, an jenem 23. Februar 2024 sollte erstmals ein unabhängiges Gericht darüber urteilen.
Es war nicht nur für Kurz und seinen früheren Kabinettschef Bonelli eine entscheidende Stunde, sondern auch für die österreichische Justiz, die seit Veröffentlichung des Ibiza-Videos im Jahr 2019 ihre wohl größte Bewährungsprobe durchlebt. Aber auch für die Politik, die sich in der Außenwahrnehmung mehr und mehr in einen Korruptionssumpf verwandelt hatte – von Schönfärberei und „Message Control“ übertüncht. Für einen gewissen Thomas Schmid, einst mächtiger Generalsekretär und Kabinettschef im Finanzministerium, der sich als Kronzeuge angeboten hatte und nun seine Glaubwürdigkeits-Feuertaufe vor Gericht überstehen musste. Und für zahlreiche höchstrangige Vertreter der heimischen Polit- und Wirtschaftselite, die von Schmid in unterschiedlichen Zusammenhängen belastet werden.
„Sebastian Kurz ist schuldig“ – Urteil nicht rechtskräftig
Mit den Worten „Sebastian Kurz ist schuldig“ begräbt Richter Michael Radasztics bereits nach ein paar Sekunden allfällige Hoffnungen des Ex-Kanzlers, das Gericht als strahlender Sieger zu verlassen. Radasztics sieht es als erwiesen an, dass Kurz vor dem Ibiza-Untersuchungsausschuss des Nationalrats eine strafbare Falschaussage getätigt hat, und verurteilt den früheren ÖVP-Chef zu acht Monaten bedingter Haft. Auch Bonelli soll vor dem Ausschuss die Unwahrheit gesagt haben, er fasst sechs Monate bedingt aus. Kurz und Bonelli haben die Vorwürfe immer bestritten. Sie erheben Rechtsmittel – eine Entscheidung in zweiter Instanz steht bis heute aus, das Urteil ist somit nicht rechtskräftig. Gleichzeitig laufen bei der WKStA noch umfangreiche Ermittlungen zu weiteren Vorwürfen gegen Kurz – diese bestreitet der Ex-Kanzler ebenso. Ob er irgendwann auch diesbezüglich vor Gericht muss, ist offen.
Dennoch lässt der 23. Februar 2024 das eine oder andere Fazit zu. Die Justiz mag in der öffentlichen Debatte noch nicht über den Berg sein, hat aber gezeigt, dass sie mit dem Druck eines politisch höchst aufgeladenen Verfahrens grundsätzlich umgehen kann. Richter Radasztics führte den Prozess mit einem großen Maß an Transparenz, dies offenbar gezielt mit Blick auf das große öffentliche Interesse. Radasztics nahm sich immer wieder die Zeit, allgemein verständlich zu erklären, warum er etwas so oder anders entscheide. Dies gipfelte nach dem Urteilsspruch in einer gut einstündigen mündlichen Begründung, die vom Detailgrad und den anschaulichen Ausführungen her weit über das gewohnte Maß hinausging.
Äquidistante Prozessführung
Den Prozess selbst führte der Richter mit betonter Äquidistanz zwischen Anklägern und Verteidigung respektive Angeklagten. Das spiegelte sich auch im Urteilsspruch wider. Die WKStA hatte Kurz vorgeworfen, zu drei Punkten im U-Ausschuss falsch ausgesagt zu haben. Radasztics folgte den Vorwürfen jedoch nur in einem der drei Punkte – und zwar in jenem, in dem er eine besonders dichte Gemengelage aus vorliegenden Aussagen und schriftlicher Dokumentation ortete. Freisprüche gab es hingegen zu Punkten, bei denen eher nur vereinzelt sichergestellte Handychats vorlagen.
Bei allem Positiven, auf das die Justiz wohl auch in künftigen Verfahren aufbauen kann, bleibt ein Wermutstropfen: Nur vier Tage nach dem Kurz-Urteil wurde bekannt, dass Radasztics gerade selbst in Zusammenhang mit seiner früheren Tätigkeit als Staatsanwalt disziplinarrechtlich verurteilt worden war – wegen einer Jahre zurückliegenden sorgfaltswidrigen Informationsweitergabe an den Abgeordneten Peter Pilz rund um den Eurofighter-U-Ausschuss. Obwohl der Vorwurf an sich nicht neu war, hatten plötzlich all jene Oberwasser, welche die Kurz-Verurteilung als Polit-Urteil abtun wollten. Mehr Transparenz im Vorfeld wäre wohl auch diesbezüglich geboten gewesen.
Zeitenwende bei WKStA
Für die seit Jahren unter massiven politischen Attacken stehende WKStA wiederum markierte das erstinstanzliche Kurz-Urteil auch eine gewisse Zeitenwende. Die Anklagebehörde konnte im bis dato mit Abstand wichtigsten Verfahren aus dem Ibiza-Ermittlungskomplex zumindest in erster Instanz eine Verurteilung erreichen. Auch wenn sich die Qualität staatsanwaltschaftlicher Tätigkeit nicht eins zu eins an der Verurteilungsquote messen lässt: Wäre die WKStA im Kurz-Prozess mit gänzlich leeren Händen heimgegangen – die Kritik wäre ohrenbetäubend gewesen. Seither ist sie zumindest etwas leiser geworden.
Gleichzeitig entsteht der Eindruck, dass nach dem Kurz-Prozess ein wenig die Luft aus den großen Polit-Causen draußen ist – obwohl diese längst nicht erledigt sind. Gleich mehrere Ermittler haben der WKStA den Rücken gekehrt, allen voran Gregor Adamovic, so etwas wie der Chefankläger in Sachen Kurz. Er hatte die zahlreichen Causen, die nach Ibiza aufs Tapet kamen, mit besonders großer Verve vorangetrieben. Bald nach dem Kurz-Prozess bewarb er sich als Richter in St. Pölten – ein Job mit ebenfalls viel Verantwortung, aber deutlich weniger Angriffsfläche (und Prestige).
Thomas Schmid für Gericht „grundsätzlich glaubwürdig“
Adamovic und andere seiner früheren WKStA-Kollegen haben der Anklagebehörde allerdings eine nicht unwesentliche Hinterlassenschaft vermacht. Thomas Schmid erhielt mit dem Segen des Justizministeriums vor Kurzem offiziell den Kronzeugenstatus zuerkannt. Dass er grundsätzlich das Zeug dazu hat, in allfälligen künftigen Prozessen vor Gericht zu bestehen, hat er bereits im Falschaussageverfahren gegen Kurz gezeigt. Dort ließ er sich auch durch vehemente Angriffe auf seine Glaubwürdigkeit seitens der Verteidigung nicht aus der Ruhe bringen. Auch wenn das letzte Wort erst im Instanzenzug gesprochen wird: Richter Radasztics stufte Schmid seinerseits nach vielen Stunden intensiver Befragung als „grundsätzlich glaubwürdig“ ein. Ein schwerer Rückschlag für all jene, die vom nunmehrigen Kronzeugen belastet werden.
Ein Rückschlag war die erstinstanzliche Verurteilung von Sebastian Kurz aus politischer Sicht mit Sicherheit für jene in der ÖVP, die insgeheim mit einer Rückkehr des Ex-Kanzlers auf die politische Bühne spekulieren. Je länger die aktuellen Koalitionsverhandlungen dauern, umso eher könnten derartige Ideen eine Rolle spielen. Kurz selbst hat eine Rückkehr in die Politik zwar „für immer“ ausgeschlossen. Allerdings nicht unter Wahrheitspflicht.
Stefan Melichar
ist Chefreporter bei profil. Der Investigativ- und Wirtschaftsjournalist ist Mitglied beim International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ). 2022 wurde er mit dem Prälat-Leopold-Ungar-Journalist*innenpreis ausgezeichnet.