Das war 2024: Lehrer in Wien Favoriten will nicht mehr schreien und plant seinen Rückzug
Von Clemens Neuhold
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Die ganztägige Wiener Mittelschule Josef-Enslein-Platz liegt in einer Randlage von Wien-Favoriten, im Schatten der viel befahrenen Südosttangente A23. Die städtischen Wohnhaussiedlungen sind hier niedriger, die Einfamilienhäuser haben kleine Pools im Garten, die Straßen sind begrünter als im Zentrum des Migrantenbezirks mit seinen 220.000 Einwohnern. Auch die Mittelschule unterscheidet sich von jenen tiefer drin im Bezirk. Es gibt hier noch Kinder ohne Migrationshintergrund. In der Klasse von Stefan Flicker sind es drei.
Der 47-Jährige arbeitet seit elf Jahren an diesem Standort, der bisher nicht als „Brennpunktschule“ galt. Seit sechs Jahren ist er auch Klassenvorstand. Vom Typ her ist Flicker ein linker Humanist. Zumindest startete er als solcher seine Lehrerkarriere.
Wie war der Sommer? „Park"
In dieser ersten Stunde des Schuljahres 2024/25 ist eigentlich alles wie immer. „Wie habt ihr den Sommer verbracht?“, fragt Flicker seine Drittklässler. Ein Mädchen erzählt ausführlich vom Heimaturlaub in Albanien, ein Schüler vom zweiten Hauskauf seiner Eltern in der Türkei. Ein arabischstämmiger Bursch sagt nicht viel mehr als „Park“ und bringt damit den Sommer vieler Mitschüler auf den Punkt. Flicker merkt nach wenigen Wortmeldungen: Mit Deutsch kamen seine Schülerinnen und Schüler mit sprachlichen Wurzeln in der Türkei, Syrien, Tschetschenien oder am Balkan in den Sommerferien kaum in Berührung. Und wie jedes Jahr beschleicht ihn das Gefühl, dass er sprachlich wieder von vorn beginnen muss.
Nach der wortkargen Aufwärmrunde verteilt er unzählige Formulare im Stil eines Postboten. Und er erinnert ans Jogginghosen-Verbot.
Damit will er den Jugendlichen den Unterschied zwischen Wohnzimmer-Couch und Schulbank verdeutlichen.
Alles wie immer? Nicht ganz. Es könnte Flickers letztes Jahr in Favoriten sein. Oder sein vorletztes. Die Entscheidung wird er im neuen Jahr treffen.
„Ich will nicht mehr schreien"
Stefan Flicker überlegt, in eine private Mittelschule innerhalb des Wiener Gürtels zu wechseln. Er will wieder Lehrer sein, in erster Linie. Nicht Vater beziehungsweise Mutter. Sozialarbeiter oder Hobbypsychologe. Mediator oder Behelfspolizist beziehungsweise Klassenoffizier. Er will wegkommen von diesem rauen Kommandoton, „von dem ich weiß, dass er psychologisch nicht wertvoll ist“. Der sich aber auch bei den sanftesten Kolleginnen und Kollegen einstelle, „wenn uns Schüler an den Rand der Verzweiflung bringen oder gar beschimpfen“. Er gibt eine Kostprobe: „Halt die Fresse!“, „Bist du behindert?", „Sei ruhig, Schlampe!“
Flicker will innerlich nicht mehr schreien und äußerlich nicht mehr so oft laut werden müssen.
Der Lehrer stand über zehn Jahre an der Bildungsfront. Welche Leistung er und seine Kollegen täglich für die Gesellschaft erbringen, in Schulen, die zu sozialen Auffangbecken geworden sind, sickert jetzt erst richtig durch. In drei Zahlen ausgedrückt: 45 Prozent der Wiener Schülerinnen und Schüler verstehen im ersten Volksschuljahr kaum Deutsch. Nach dem letzten Jahr der Pflichtschule können österreichweit 20 Prozent nicht sinnerfassend lesen. Die Anzeigen wegen schulischer Gewalt haben sich in nur zwei Jahren verdoppelt.
Zahl der „System-Sprenger“ zu stark gestiegen
Selten wurde so viel und schonungslos über den Brennpunkt Schule berichtet wie im Jahr 2024. Nicht nur im Boulevard. Selbst Politiker wie Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr (Neos) sprachen von einer „dramatischen“ Situation.
Was gab bei Stefan Flicker den Ausschlag? Die Zahl der „System-Sprenger“. Darunter versteht man im Bildungsjargon jene Schülerinnen und Schüler, die das Klassengefüge empfindlich stören, unkontrolliert herausrufen, als wäre Pause, Lehrer zur Weißglut bringen, rabiat sein können und – wenn es gar nicht mehr geht – suspendiert werden müssen.
In der dritten Woche hatte Flicker den ersten Termin mit dem Grätzelposten wegen eines auffälligen Schülers unter Diebstahlsverdacht. In der sechsten Schulwoche schrieb er die erste Gefährdungsmeldung seiner Laufbahn. Damit ist das Jugendamt am Zug. Ein arabischstämmiger Schüler, der im Unterricht von Beginn an null mitarbeitete und maximal störte, hatte Mitschülerinnen verletzt.
Am meisten frustrieren jene, die etwas drauf hätten
„Früher gab es, wenn überhaupt, einen Schüler pro Klasse, der wirklich störte. Seit heuer sind es zwei bis vier. Das ist zu viel“, sagt Flicker. Ein Grund dafür sei der Familiennachzug aus Syrien. Ab 2023 schlugen pro Monat bis zu 300 Pflichtschüler neu in Wiener Schulen auf. Standen einfach da. In Flickers Klasse sind zwei Mädchen und drei Burschen aus Syrien untergekommen.
„Es geht gar nicht so darum, dass sie am Anfang nicht Deutsch können“, sagt der Klassenlehrer generell über „Störenfriede“. Jener Schüler mit der Gefährdungsmeldung habe rasch Fortschritte gemacht, sei eigentlich intelligent. Das Problem sei, dass sie „schulisch nicht sozialisiert sind“ und, wie er hinzufügen muss, „nicht erzogen“. Das gelte besonders für Burschen. Er könne als Lehrer nicht ausbügeln, „was Eltern zwölf Jahre lang verabsäumt“ haben.
Doch er tut es. Muss es tun. Weil er seinen Job ernst nimmt. Und sich verantwortlich fühlt für die Jugendlichen im Alter von 13 oder 14, die sich oft noch so verhalten wie Kinder, obwohl sie an der Schwelle zum echten Leben stehen. Viele werden eine Lehre beginnen und diese nicht selten abbrechen. „Chef zu streng“, bekam Flicker wiederholt von ehemaligen Absolventen zu hören. Sehr wenige werden eine berufsbildende Schule beginnen und abschließen. Für manche wird der Enslein-Platz die letzte Bildungsstation gewesen sein.
„Wir verlieren einen Teil der Gesellschaft“
„Sie sind es gewohnt, dass wir ihnen alles vorkauen. Ihnen die einfachsten Aufgaben ansagen. Sie schaffen den Schritt nicht, selbstständig zu lernen oder zumindest nachzufragen“, sagt Flicker und warnt: „Wir verlieren einen Teil der Gesellschaft.“
Drei Monate später. 11. Dezember, 11 Uhr. Digitale Grundbildung. Schülerinnen und Schüler lernen, wie man ChatGPT für Englisch nutzen kann. Sie sollen durch gezielte Eingaben, genannt „Prompts“, Aufgaben erstellen, die ihnen helfen, den Unterschied zwischen Past Progressive und Past Simple zu lernen. Eine spannende und moderne Form des Unterrichts, die eigentlich ankommen müsste bei der Smartphone-Generation.
Dieses Mal haben auch fast alle ihren Laptop dabei, den sie mit einem kräftigen Zuschuss vom Staat erhalten haben. Das ist nur selten der Fall. Flicker ist erfreut.
Die Unruhe nach der Pause legt sich nur langsam. Doch dann geht es voran. Ein paar Mädchen folgen den Anweisungen gewissenhaft, zwei Burschen nutzen ihre überschüssige Energie aus der Pause und zeigen ständig auf. Man merkt, sie hätten etwas drauf.
„Schüler völlig impulsgesteuert“
Doch noch vor der Hälfte der Stunde kippt die Stimmung. Ein Bursche sitzt plötzlich einfach so auf dem Boden. „Was soll das?“ Der Bursch rutscht zurück auf seinen Sessel. Nach wenigen Minuten fragt er: „Darf ich aufs Klo?“ – „Darf ich essen?“ – „Darf ich trinken?“ – „Hör bitte auf mit den störenden Fragen. Wir haben gerade Unterricht.“
Auch die vorher noch strebsamen Burschen driften langsam ab. Die von der KI erstellten Aufgaben nun auch zu lösen, dafür fehlen Energie und Konzentration. „Ich frage ChatGPT, ob er mich kennt.“ Gelächter. Ein anderer Bursch wischt über die Tastatur und schaut, was passiert. Ein Mädel in der Reihe davor nutzt den hochgeklappten Bildschirm, um versteckt am Smartphone zu surfen, und zeigt den Burschen die coolsten Fundstücke.
Manche reden nun einfach laut drauflos. „Bitte zeig auf, bevor du redest, und gib den Kaugummi aus dem Mund.“ Flicker nennt seine Schützlinge „völlig impulsgesteuert“.
In der ersten Reihe sitzt ein Schüler stoisch da. Als der Klassenlehrer fragt, warum er am Computer noch keine Zeile ausgefüllt hat, bekennt dieser offen: „Ich habe keinen Bock.“
Wie schaffen Lehrer das emotional?
Nun ist es wieder so weit. Flicker muss innerlich schreien. Und nach außen hin diesen Ton anschlagen: „Jetzt hatte ich mich gefreut, dass so viele ihren Computer mithaben“, sagt er, ehrlich enttäuscht. „Als Schüler hätte ich gesagt: Geil, dass ich mit ChatGPT arbeiten kann. Und du hast keinen Bock? Es ist deine Pflicht als Schüler, etwas zu tun.“
Die Stunde nähert sich dem Ende. Schon die reine Beobachtung des Treibens hat uns ordentlich geschlaucht. Wie halten Lehrerinnen und Lehrer diese emotionalen Wallungen aus? Tag für Tag, Stunde für Stunde? Mit Kindern, die nicht die eigenen sind? Aber irgendwie doch?
„Bin ich brav, Herr Lehrer?“, fragt der Bursche, der vorhin auf dem Boden saß. Er meint es ernst, sucht nach Anerkennung. „Ich würde gerne Ja sagen, aber dafür musst du mir einen Grund geben“, sagt Flicker nun mit traurigem Unterton.
Ohne Integrationsbereitschaft helfen keine Milliarden
Wieder nur mehr Lehrer sein, unterstützt von Sozialarbeitern, Psychologen, Verwaltungsassistenten, die den Rest erledigen. Das ist die Idee hinter den sogenannten multiprofessionellen Teams, mit denen die Stadt Wien Lehrkräfte an besonders schwierigen Schulstandorten entlasten möchte. Der Enslein-Platz wäre aber nicht die erste Adresse dafür. Denn eine zweite Mittelschule in der Nähe ist noch mehr „Brennpunktschule“. Doch Flicker rechnet auch an seinem Standort bald mit der „überfälligen“ Unterstützung.
Es wird Milliarden brauchen, um den Bildungsnotstand an den urbanen Pflichtschulen, beginnend mit den Kindergärten, zu reparieren. Doch auch diese werden verpuffen, wenn kein weiterer Schalter bei der Integration umgelegt werde, meint Flicker: „Ich kann es nicht mehr hören, dass immer ‚das System‘ schuld ist. Du kannst nur jemanden fördern, der gefördert werden will.“ An seinen Kolleginnen und Kollegen scheitere es nicht. „Ihre Motivation und Ausdauer sucht ihresgleichen.“ Und das klingt schon ein bisschen nach einem frühen Abschiedsgruß.
Clemens Neuhold
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.