Deckname "Putz"
Drei Tage nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht am 12. März 1938 wurde im ehemaligen Hotel Métropole die Gestapo-Leitstelle eingerichtet. Bereits 1941 verzeichnete das Haus am Wiener Morzinplatz (Bild), in dem regelmäßig Folterungen von Regimegegnern - beschönigend "verschärfte Vernehmungen" genannt - stattfanden, einen Personalstand von 834 Mitarbeitern; im Jahr darauf erreichte die Zahl der NS-Finstermänner mit 956 Personen ihren Höchststand. Die Wiener Leitstelle war die größte ihrer Art im Dritten Reich. Neue Einblicke in die Feinmechanik von Konspiration und Kriminalisierung lassen sich aus Hans Schafraneks jüngstem Buch "Widerstand und Verrat" gewinnen, das, gewohnt profund recherchiert, die Tätigkeit der Gestapospitzel im antifaschistischen Untergrund zwischen 1938 bis 1945 durchleuchtet.
Der 1951 in Schärding geborene Historiker ist seit Jahrzehnten ein rastloser Originaldokumente-Sucher und Archiv- Tiefengräber, der sich zugleich um den Brückenschlag von der Vergangenheit zur Gegenwart bemüht. "Polizeispitzel", schreibt Schafranek in "Widerstand und Verrat", "waren keine Erfindung der Gestapo, und sie haben die NS-Ära überdauert". Aus mehr als 60 Archiven weltweit hat der selbsternannte "Einzelforscher" bisher Material für seine Studien zusammengetragen. Seine lebensgeschichtlichen Interviews in den 1980er- Jahren trugen Schafranek den inoffiziellen Titel eines "Untersuchungsrichters" ein. "Widerstand und Verrat" thematisiert ein wenig erforschtes Kapitel jüngerer Zeitgeschichte. Ab 1938 versuchte die Gestapo, alle politischen Gruppierungen mithilfe von Informanten systematisch zu unterwandern - das organisierte Spitzelwesen war eine der Säulen der NS-Diktatur, viel wichtiger als die unverlangt eintrudelnden Denunziationen durch Nachbarn und Arbeitskollegen. Der Einsatz von V-Leuten gegen den antifaschistischen Widerstand zählte in Wien zu den erfolgreichsten Terrormethoden.
Bandbreite des politischen Verrats
Schafranek hat neue Dokumente aufgespürt, die etwa belegen, dass ein entscheidendes Komitee der Kommunistischen Partei (KPÖ) nicht Resultat von KPÖ-Bemühungen selbst, sondern direktes Ergebnis der klandestinen Tätigkeit dreier Wiener Späher war; er enttarnt V-Männer, von denen bislang nur Decknamen bekannt waren, und führt mittels neu entdeckter Quellen den Beweis, dass Gestapo und NS-Justiz mit gefälschten Papieren operierten, um den Spionageverdacht gegen Karl Burian zu erhärten, einen Widerständler der ersten Stunde, nach dem heute eine Bundesheerkaserne benannt ist. Die angebliche Zusammenarbeit Burians mit dem polnischen Nachrichtendienst wurde erfunden, um den 1944 hingerichteten Hauptmann zum Landesverräter zu stempeln.
"Die NS-Spione waren Lichtjahre vom Typus James Bond entfernt", sagt Schafranek. "Viele hatten körperliche Gebrechen: einen steifen Arm, einen hinkenden Gang. Einer war so schwerhörig, dass er auf ein Hörgerät angewiesen war. Immerhin wurden seine Dienste mit 500 Reichsmark entlohnt." Die Bandbreite des politischen Verrats zwischen Freiwilligkeit und Zwang untermauert Schafranek exemplarisch anhand zweier Fallgeschichten: Der Wiener Kurt Koppel, ein willfähriger Handlanger der NS-Obrigkeit, war unter den Decknamen "Putz" und "Ossi" für die Verhaftung von weit über 800 kommunistischen Widerstandskämpfern verantwortlich. Karl Zwifelhofer, ein hoher KPÖ-Funktionär, ging der Gestapo 1941 durch Zufall ins Netz. Im November 1942 wurde Zwifelhofer vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt - und redete angesichts des Henkers "wie ein Buch" (Schafranek). Noch jahrelang erwirkte die Gestapo mittels Perfidie und Zermürbung den Aufschub von Zwifelhofers Todesurteil, um an Informationen zu gelangen. Nach Kriegsende blieb Koppel unauffindbar; Zwifelhofer, den man in manchen KPÖ-Kreisen bis heute für einen Verräter hält, wurde 1945 mutmaßlich erschlagen.
Hans Schafranek: Widerstand und Verrat. Gestapospitzel im antifaschistischen Untergrund 1938-1945. Czernin, 501 S., EUR 29,90