Politik

Der ewige ideologische Kindergarten-Krampf

Bund gegen Länder, ÖVP gegen SPÖ, Wirtschaft gegen Gewerkschaft, Herdprämie gegen Vollzeithort, Männer gegen Frauen: Bei kaum einem Thema gibt es seit Jahrzehnten derart hitzige Ideologie-Scharmützel wie beim Ausbau der Kinderbetreuung. Das beschämende Resultat: Österreich ist EU-Nachzügler.

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Neumarkt am Wallersee, eine schmucke 6626-Einwohner-Stadt, idyllisch wie eine Ansichtskarte: blauer See, sattgrüne Voralpen-Landschaft. Mit 25 Autominuten nah genug an der Landeshauptstadt Salzburg, um Kultur und Urbanität in Reichweite zu haben, dennoch rural-ruhig. Kein Wunder, dass sich Jungfamilien hier gern ansiedeln. Kommt in Neumarkt ein Kind auf die Welt, erhalten die Eltern einen Brief, in dem der „Kinderbonus“ angepriesen wird: 50 Euro pro Monat, wenn der Nachwuchs zu Hause betreut wird und Kinder nicht in den Kindergarten gehen. „Das wird sehr gut in Anspruch genommen“, erzählt Bürgermeister Adi Rieger (ÖVP). 200 Kinder unter drei Jahren gibt es in der Stadt, die Eltern (meist: Mütter) von 81 bekommen den Bonus, 55 Kinder sind in der Krabbelstube, zwölf bei Tagesmüttern. Seit dem Jahr 2019 schüttet Neumarkt wie andere Gemeinden in Salzburg den Kinderbonus aus, nun soll er Vorbild für das gesamte Bundesland werden. So hat es die ÖVP-FPÖ-Regierung angekündigt – und erntete Kritik an der „Herdprämie“. Im Nachbarbundesland Oberösterreich warnt ÖVP-Klubobmann Christian Dörfel vor einem Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung als den „direkten Weg zur Zwangsarbeit junger Mütter“, die ÖVP-FPÖ-Regierung fördert unter dem Titel „Kinderbetreuungsbonus“ seit Jahren Zuhause bleiben, im Vorjahr wurde der Bonus an 5399 Eltern gezahlt. Die Konsequenz: Kindergärten fehlen, nur vier von zehn Frauen arbeiten Vollzeit, so wenige wie nirgendwo sonst in Österreich. Dennoch plant auch die ÖVP-FPÖ-Landesregierung in Niederösterreich eine Prämie für Eltern, die ihre Kinder zu Hause betreuen. So weit die Realität in drei Bundesländern.

Zu viele Frauen arbeiten Teilzeit

In Wien regieren derzeit andere Töne: Kanzler Karl Nehammer erkor das Thema „Ausbau der Kindergärten“ gar zur Hauptbotschaft seines ORF-Sommergesprächs. 4,5 Milliarden Euro will die Koalition in mehr und bessere Kinderbetreuungsplätze stecken.

So weit die vollmundige Ankündigung der schwarz-grünen Bundesregierung.

Wie passt das zusammen? Die Antwort ist so eindeutig wie betrüblich: gar nicht. Das hat lange Tradition. Derartige Widersprüchlichkeiten zwischen Zielen des Bundes und Politik der Länder (für Kindergärten zuständig) gibt es viele. Kaum eine Diskussion verläuft hierzulande derart lange derart ergebnislos wie jene über den Ausbau der Kindergärten – und endete häufig mit ideologischen Scharmützeln: zwischen ÖVP und SPÖ. Zwischen Bund und Ländern. Zwischen Bürgermeistern und Landeshauptleuten. Zwischen Wirtschaft und Gewerkschaft. Zwischen Männern und Frauen. Das Resultat dieser jahrzehntelangen Dauerdebatte ist in der Statistik abzulesen: Österreich sitzt auf der Kinderbetreuungs-Eselsbank. 2002 wurden die EU-Barcelona-Ziele beschlossen, wonach für ein Drittel der unter Dreijährigen ein Betreuungsplatz angeboten werden soll. Schon 2002 lag Österreich im EU-Schlussfeld. Daran hat sich wenig geändert: Satte zwei Jahrzehnte später verfehlt Österreich die alten Barcelona-Ziele – und kommt nicht über eine kümmerliche Betreuungsquote von 29,9 Prozent hinaus, in Oberösterreich und der Steiermark grundelt der Anteil überhaupt bei 20 Prozent. Dabei hat die EU die Zielquote für unter Dreijährige mittlerweile auf 45 Prozent erhöht. Noch weiter weg für Österreich. Der Vergleich macht sicher: In Dänemark sind 66 Prozent der unter Dreijährigen in Kindergärten.

Die klaffende Kindergarten-Lücke ist enorm, nicht nur bei der Anzahl der Plätze: 14 Prozent der Kindergärten sperren um 14 Uhr zu, zehn Prozent sind an mehr als 51 Tagen geschlossen, was jeden Urlaubsanspruch meilenweit übersteigt. Nur die Hälfte der Kindergartenplätze ist mit einem Vollzeitjob vereinbar. Die Konsequenz: Österreich ist Teilzeit-Europameister. Jede zweite Frau arbeitet Teilzeit, von den Frauen mit Kindern unter sechs Jahren überhaupt 71 Prozent. Johannes Kopf, Chef des Arbeitsmarktservice, kann vorrechnen, dass 71.000 berufstätige Mütter gerne mehr arbeiten würden – aber wegen der fehlenden Kinderbetreuung nicht können.

„Wir müssen endlich von diesen hohen Teilzeit-Zahlen weg, das führt zu kümmerlichen Frauenpensionen und Altersarmut“, fordert Ingrid Korosec. Die energische 82-jährige ÖVP-Politikerin weiß, wovon sie spricht: Sie ist Obfrau des Seniorenbundes und beklagt, „dass vielen Frauen nicht bewusst ist, welche Konsequenzen Teilzeit hat“. Korosec ist eine Vorreiterin, nicht nur in der ÖVP: Vor ihrer Hochzeit im Jahr 1960 ließ sie ihren Mann einen Vertrag unterschreiben, dass sie als Mutter berufstätig bleibt – „sonst hätte ich ihn nicht geheiratet“. Damals durften Frauen ohne Genehmigung ihres Ehemannes nicht arbeiten, Korosec stieg 1966 gleich nach der Geburt ihres Kindes wieder als Leiterin einer EDV-Abteilung ein. „Damals galten Frauen wie ich als Rabenmütter, wir waren die absolute Ausnahme“, erzählt sie profil. Und seufzt: „Wir hatten in Österreich sehr lange ein sehr traditionelles Familienbild.“

Einst Heiratsverbot für Beamtinnen

Jahrzehnte konservativer Ideologie hinterließen tiefe Spuren. Nirgendwo sonst in Europa stimmten noch vor einem Jahrzehnt ein Drittel der Befragten der Aussage zu, dass „der Mann Geld verdienen und die Frau sich um Haushalt und Familie kümmern soll“. Die Hausfrauenehe wurde 1811 im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch festgeschrieben, bis ins Jahr 1975 hatte der Mann die „Schlüsselgewalt“ inne und zu entscheiden, ob seine Frau arbeiten gehen darf. Im Staatsdienst gab es zwar das „Fräulein von der Post“ oder die Lehrerin, allesamt ledig oder verwitwet, Beamtinnen unterlagen striktem Heiratsverbot. Diese Regelung aus der Monarchie wurde in den 1930er-Jahren wiederbelebt und ging im Mütterkult des NS-Regimes auf. Das wirkte lange nach.

Beileibe nicht nur bei der ÖVP, die stets das Banner der Familienpartei hochhielt. Auch in der SPÖ: Wer stolz den Satz „Meine Frau braucht nicht arbeiten zu gehen“ sagen konnte, galt in den 1950er- und 1960er-Jahren als sozialer Aufsteiger der Wirtschaftswunderjahre. „Du gehst erst arbeiten, wenn die Kinder aus der Volksschule heraußen sind“, sagte etwa der Vater der ehemaligen SPÖ-Frauenministerin Gabriele Heinisch-Hosek (Jahrgang 1961), zu ihrer Mutter. Und Heinisch-Hosek analysiert heute: „Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie war immer eine Machtfrage zwischen Männern und Frauen.“

Schon vor über einem halben Jahrhundert zogen andere Staaten bei der Kinderbetreuung davon: Während in Skandinavien seit den 1960er-Jahren Frauen gezielt auf den Arbeitsmarkt geholt wurden und Kindergärten als notwendig dafür galten, warb Österreich lieber Gastarbeiter an. Und der männerdominierte SPÖ-Gewerkschaftsflügel hielt am eigenen „Leichtlohn“ für Frauen fest. Noch 1976 war es für ÖGB-Präsident Anton Benya selbstverständlich, dass Frauen bei steigender Arbeitslosigkeit das Berufsfeld für Männer räumen. Ein Jahrzehnt später waren sich der scharfzüngige ÖVP-Ideologe Andreas Khol und Christine Vranitzky, Gattin von SPÖ-Kanzler Franz Vranitzky, einig, dass Kindergärten schlecht für Kinder sind: „Wie Milchkannen“ würden Kinder abgegeben, donnerte Khol, Christine Vranitzky hielt nichts davon, „dass Frauen Kinder kriegen und sie um sieben Uhr früh abgeben“. Und der damals aufstrebende Jungpolitiker Jörg Haider witterte „neurotische Verwahrlosung“ durch Kindergärten.

Ein Dutzend Mal Veto im Ministerrat

Wenig Wunder, dass angesichts dieser politischen Grundstimmung Kindergartenplätze absolute Mangelware blieben. Nicht mehr als 2,2 Prozent der unter Dreijährigen waren im Jahr 1995 in Kindergärten – was Österreich zum EU-Schlusslicht machte, wie das Gros der heimischen Politiker beim EU-Beitritt bass erstaunt bemerkte.

Der streitbaren SPÖ-Frauenministerin Johanna Dohnal war die Nachzügler-Rolle Österreichs hingegen alles andere als neu. Sie hatte schon 1993 den „eklatanten Fehlbestand“ in der Kinderbetreuung kritisiert und die Bundesländer, für Kindergärten zuständig, zu Gipfeln und Verhandlungen gedrängt. Ohne Erfolg, die Ländervertreter ließen sie abblitzen. Worauf Dohnal versuchte, Kindergärten zur Bundeskompetenz zu machen: Ein Dutzend Mal brachte sie einen Entwurf dafür im Ministerrat ein – genauso oft legte die ÖVP ihr Veto ein.

Immerhin, ab den 1990er-Jahren wurde der „Ausbau der Kinderbetreuung“ Fixstarter in allen Koalitionsprogrammen, stets nach demselben Muster: SPÖ-Frauenministerinnen drängten, die ÖVP hielt die „Wahlfreiheit“ hoch. Der Ausbau blieb schleppend. Österreich pumpte zwar Milliarden in Familienleistungen, in 100 Förderungen vom Windelpaket bis zur Familienbeihilfe, aber vor allem in Geldleistungen, wenig in Kindergärten. „Vor allem konservative Kreise in der ÖVP bremsten“, erinnert sich Heinisch-Hosek. Und selbst wenn sich die Große Koalition einig war, blieb noch der Brems-Weg. – „Kann ich ein Bundesland aufhetzen?“ (Chat Sebastian Kurz an Thomas Schmid 2016, als ein Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung beschlossen werden sollte.)

Ist diese lange Geschichte des ewigen Kindergarten-Krampfs jetzt beendet? Wird die schwarz-grüne Regierung beim Ausbau erfolgreich sein? Heinisch-Hosek glaubt, dass die Wirtschaftslage als Kindergartenturbo wirkt: „Der akute Fachkräftemangel hilft, die Wirtschaft drängt auf mehr Kinderbetreuung.“ Ingrid Korosec sieht das genauso: „Wir haben jetzt ein historisches Fenster, beide Regierungsparteien wollen es nutzen.“ Zusatz: „Das ist auch notwendig – denn Großeltern als Kinder-Sitter sind längst keine Selbstverständlichkeit mehr.“

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin