„Der Name Klima-Shakira war zutiefst sexistisch“

Von Clemens Neuhold
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Man muss sich den Briefzusteller von Anja Windl als schwer beschäftigten Menschen vorstellen. „Wenn ich zwei Tage nicht daheim in Klagenfurt bin, habe ich zehn neue gelbe Zettel im Postfach“, erzählt die 28-Jährige.
Es ist keine Fanpost von Klimaschützern, die ihr für ihren Mut danken, sich jahrelang unter Hupkonzerten auf die Straße geklebt zu haben. Es sind Schreiben von österreichischen und deutschen Gerichten, die sie auffordern, Verwaltungsstrafen zu zahlen oder eine Ersatzhaft anzutreten; Terminavisos für neue Verhandlungen; Pfändungsbriefe. Windl spricht von „ein paar Hundert Zetteln“, die sich gestapelt auf ihre Wohnung verteilen.
Anfang April flatterte dann auch ein Schreiben des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl ein, das den Kärntner Briefzusteller entlasten, aber Windls Leben endgültig auf den Kopf stellen könnte: „Gegen Sie wird für die Dauer von zwei Jahren ein Aufenthaltsverbot erlassen“, heißt es in dem Bescheid. Vier Wochen wird ihr darin Zeit gegeben, Einspruch zu erheben. Sonst wird sie wegen „schwerwiegender Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ und einer „querulatorischen Neigung“, wie es im Bescheid heißt, abgeschoben.
Windls Leben nach dem Kleben, zwischen Gerichtsterminen und Pfändungen, steht für den Untergang einer Protestform – und den juristischen Kater vieler Aktivisten nach dem Kleberausch.
Boulevard machte „Klima-Shakira“ aus ihr
Windl stammt aus einer 150-Seelen-Gemeinde in Niederbayern. 2017 zog sie zum Psychologie-Studium nach Klagenfurt. Dort will sie wohnhaft bleiben, sofern ihre eigene Vergangenheit das nicht verhindert. Zur Klimaaktivistin wurde Windl durch Fridays for Future. Die von der Schwedin Greta Thunberg inspirierten Klimastreiks empfand Windl aber bald als zahnlos. Sie heuerte bei der radikaleren Letzten Generation an und wurde nach und nach zu deren bekanntestem Gesicht. Die Letzte Generation zeichnete von 2022 bis 2024 für insgesamt 380 „Klimakleber“-Blockaden in ganz Österreich und mehrere Farbattacken in Museen verantwortlich.
Zu Windls Bekanntheit trug auch die Boulevard-Presse bei, die sie wegen ihrer wallend blonden Locken bald nur noch „Klima-Shakira“ nannte, was sie heute als „zutiefst sexistisch“ empfindet. Wer mit ihr in Wien unterwegs ist, spürt, wie bekannt sie heute noch ist. „Wenn ich etwas bereue, dann meine Medienpräsenz“, sagt sie. In Klagenfurt überlege sie sich genau, wann sie wo hingehe. „Ich meide Orte mit Gruppen von Männern, weil ich immer wieder verbal belästigt werde.“
Windl selbst klebte rund 50 Mal – allein in Österreich. Auch in Deutschland beteiligte sie sich an zahlreichen Protestaktionen, bis hin zum Lahmlegen des Flugverkehrs am 15. August 2024 in mehreren deutschen Städten. Eine Aktion, die für alle Beteiligten noch ein besonders teures Nachspiel haben könnte.
Ihr sei bei den Aktionen jedes Mal vor Aufregung speiübel gewesen, sagte sie einmal. Doch sie wollte unbedingt die „Klima-Apokalypse“ abwenden. Wer Windl am Höhepunkt der Protestwelle 2024 traf, spürte: Sie empfand eine reale Angst vor „Todeszonen in den inneren Tropen, wo das menschliche Eiweiß ohne Klimaanlage nach ein paar Stunden im Freien verkocht“, wie sie es ausdrückte.
„Kipppunkte schon überschritten“
Die Angst ist immer noch da. Doch heute sieht sie die „Kipppunkte“ hin zur Katastrophe überschritten. „Ich kann mich derzeit nicht mehr so intensiv damit auseinandersetzen, sonst muss ich Tag für Tag heulen“, sagt sie. Ein Grund dafür sind aber auch die Amtsbriefstapel in ihrer Wohnung, die viel Aufmerksamkeit binden.
Die Letzte Generation löste sich in Österreich im Sommer 2024 offiziell auf. Offiziell begründete die Gruppe ihr Ende so: Die österreichische Gesellschaft wolle weiter in „fossiler Ignoranz“ verharren und habe versagt: „Wir sehen keine Perspektive für Erfolg mehr.“
Was die Letzte Generation nicht laut dazusagte: Der massive Druck der Strafbehörden beschleunigte ihr Ende. Seit Mitte 2023 läuft bei der Staatsanwaltschaft Wien ein Megaverfahren gegen 52 Aktivistinnen und Aktivisten wegen schwerer Sachbeschädigung. Gegen 29 Personen wird zudem wegen der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung ermittelt. Auf beide Delikte stehen mehrjährige Haftstrafen. Das Substrat zur Anklage einer kriminellen Vereinigung könnte nach der Auflösung der Letzten Generation zu dünn sein. Das Delikt der schweren Sachbeschädigung dürfte sich aber zu einer Anklage verdichten. Die Staatsanwaltschaft selbst sagt nur: „Das Ermittlungsverfahren ist noch anhängig.“
Die Mumienhand der Anja Windl
Das reine Ankleben am Asphalt per Superkleber fiel nicht unter Sachbeschädigung. Das änderte sich mit der nächsten Eskalationsstufe: der „Mumienhand“. So bezeichnet die Staatsanwaltschaft in ihren Akten die Praxis, Superkleber mit feinem Quarzsand zu vermischen und mit einem Spray zu aktivieren, also zu härten.
Nach einer Blockade der Südautobahn in Niederösterreich am 20. November 2024 musste die Feuerwehr ausrücken, um den Asphalt rund um die betonierten Hände auszuflexen. Ein Foto der Letzten Generation zeigt Windl, wie sie ihre Betonhand kämpferisch in die Höhe hält.
Die Staatsanwaltschaft sah wegen des Lochs in der Autobahn den Tatbestand der schweren Sachbeschädigung erfüllt. Den Rest muss das Gericht klären. Wird Windl bei einer potenziellen Verhandlung schon abgeschoben sein und per Sondergenehmigung einreisen? Oder wartet das Bundesverwaltungsgericht mit der Entscheidung über die Abschiebung bis dahin zu?
Das Damoklesschwert strafrechtlicher Verurteilungen schwebt jedenfalls auch in Deutschland über ihr. Denn dort standen die Aktivisten der Letzten Generation schon bei einfacheren Klebeaktionen mit einem Fuß im Strafrecht.
Wenn der Exekutor dreimal klingelt
„Ein normales Leben ist angesichts des sozial-ökologischen Kollapses für niemanden mehr möglich. Auch nicht für mich“, sagt die Wahlkärntnerin über ihre Zukunft. Sie sei am Ende der Protestwelle „psychisch und körperlich sehr erschöpft“ gewesen. Und das Studium? Das habe angesichts des „übernehmenden Faschismus“ keine Priorität.
Auf den Vorwurf der Untätigkeit reagiert sie gereizt. „Ist das, was ich hier mache, keine Arbeit?“, fragt sie während des Interviews, noch immer ganz die Aktivistin.
Geld bekommt sie dafür allerdings nicht. Wovon lebt sie? Windl erzählt, dass sie wegen ausstehender Verwaltungsstrafen regelmäßig Besuch vom Gerichtsvollzieher bekäme. Sie lebe am Existenzminimum und werde wohl ihr gesamtes Leben „in Pfändungsbereitschaft“ verharren müssen. Zu holen gebe es aber nichts, weil sie keine Wertgegenstände besitze, außer Handy und Laptop. Arbeitsgeräte, die ihr zustünden.
In der Vergangenheit wurde sie immer wieder von ihren Eltern in Deutschland unterstützt. Den größten Support habe sie heute in Österreich. Entsprechend groß ist ihre Angst, durch eine Abschiebung aus diesem Umfeld „gerissen zu werden“.
Ihre Verwaltungsstrafen bezahlte Windl zum Teil über Spenden. Diese reichten aber nicht, um dem Gefängnis zu entgehen. Sie saß bisher neun Wochen in Österreich. Zuletzt im Jänner in Klagenfurt. Dank Spenden kam sie vorzeitig frei.
„Zwischen Yacht und Privatjet stören“
Ist ihr Widerstandswille gebrochen? Tagespendler durch Klebeblockaden zu nerven, damit ist Windl durch. Der Protestwind habe sich in Richtung der Superreichen und Mächtigen gedreht. Das zeige ein Blick nach Deutschland. Dort entstand aus der aufgelösten Letzten Generation die Neue Generation. Und eine Gruppe namens Widerstandskollektiv. Deren neues Ziel: „Selber machen, was die Regierung nicht geschafft hat“, durch eine „Entmilliardärisierung“ der Gesellschaft, erklärt Windl die neue Stoßrichtung.
Wenn Regierungen die „faschistische und zivilisationszerstörerische“ Macht der männlichen Autokraten und Milliardäre nicht beschränke, dann müsse deren Alltag zwischen Yacht und Privatjet gestört werden. Als Beispiel für einen entsprechenden Aktivismus in Österreich nennt sie Proteste gegen einen Privattunnel, den Porsche-Aufsichtsratschef Wolfgang Porsche zu seiner Salzburger Villa durch den Kapuzinerberg schlagen lassen will. Daran hätten frühere Mitstreiter der Letzten Generation teilgenommen.
Ob es neue Widerstandsbewegungen in Österreich geben wird, an denen sie sich beteiligt, lässt Windl offen. Sie will der Staatsanwaltschaft kein neues Futter liefern.
Dem Boulevard gab „Klima-Shakira“ wieder Stoff. Als die ÖVP im Februar mit der FPÖ über eine Regierung verhandelte, schmierten Windl und andere Aktivisten Kot auf die ÖVP-Parteizentrale. Das brachte neue Schlagzeilen, Klicks und eine Klage der Uniqa-Versicherung ein, der das Gebäude gehört. Ein weiterer Zettel im Wohnzimmer.

Clemens Neuhold
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.