Der syrische Job-Influencer, der Landsleute auf Schiene bringt
Vor drei Jahren porträtierte profil den ersten syrischen Tramfahrer Wiens. Die Story über Bilal Albeirouti (links) zog Kreise in der Community. Heute ist er Fahrlehrer - mit syrischen Lehrlingen.
Er ist berühmt bei uns“, sagt der 38-jährige Mouawia Alkhatib halb ernst, halb schmunzelnd über Bilal Albeirouti. Im Aufenthaltsraum des Betriebsbahnhofs Hernals im 17. Wiener Bezirk sitzt er ihm zum ersten Mal persönlich gegenüber. Bisher hatten die beiden Syrer einander nur Textnachrichten geschickt. Alkhatib hatte sich von seinem Landsmann Tipps für den Computertest bei den Wiener Linien geholt. Vergangene Woche bestand er die Aufnahmeprüfung. Nun folgt die dreimonatige Ausbildung zum Straßenbahnlenker. Gut möglich, dass sein Fahrlehrer Albeirouti heißt.
Der 42-jährige Bilal Albeirouti war 2021 der erste syrische Tramfahrer Wiens. Seit Dezember ist er auch Fahrlehrer am Betriebsbahnhof Hernals. Von hier aus starten Straßenbahnlinien wie 37, 43, 2 oder D. Sein erster Schüler war der 29-jährige Jafar Alorfi. Beim Treffen im Ruheraum tauschen Lehrer und Schüler Anekdoten aus. Wie es für Alorfi war, als ehemaliger DHL-Fahrer nicht mehr Pakete, sondern Menschen zu transportieren? Er habe ein gutes Straßengefühl mitgebracht, erinnert sich Albeirouti, aber gar zu vorsichtig gebremst, aus Angst vor umfallenden Paketen. Nach diesem Ratschlag justierte Alorfi seinen Bremsfuß und bestand die Prüfung auf Anhieb.
Auf Schiene im dritten Anlauf
Nun ist er im Pausenraum in guter Gesellschaft anderer Syrer wie dem 29-jährigen Majdi Skeik, dem 34-jährigen Alaa Al Mardini, dem 28-jährigen Imad Sakbani und der 26-jährigen Aisha Alibrahim. Sie alle kamen mit der Flüchtlingswelle vor bald zehn Jahren aus Syrien nach Österreich. Sie alle kämpften um ihren Platz im neuen Land. Sie alle landeten über Umwege bei den Wiener Linien, wurden dabei direkt oder indirekt von Albeirouti beeinflusst, dem ersten syrischen Tramfahrer Wiens.
Vor drei Jahren porträtierte profil Bilal Albeirouti. Es war eine Geschichte über die verschlungenen Pfade der Integration. Der 42-Jährige war 2016 über den Libanon nach Österreich geflüchtet. 2017 holte er Frau, Sohn und Tochter nach. Er wollte als Journalist Fuß fassen, doch der Plan scheiterte. Nach zermürbenden Jobs wie Security vor einer Bank wollte er 2020 auf eine sichere Spur wechseln. Er bewarb sich bei den Wiener Linien. Die Aufnahmeprüfung zum Tramfahrer war keine Spazierfahrt. Wie für die meisten Zuwanderer erwiesen sich die vielen Fachbegriffe, aber auch der wienerische Umgangston am Bahnhof als große Hürden. Und dann musste er auch noch elf Kilo abspecken, die er zu viel auf die Waage brachte. Er bestand im dritten Anlauf.
Wie eine profil-Story in der Community einschlug
Jemand postete die profil-Story über den ersten Tramfahrer in syrischen Facebook-Gruppen mit Abertausenden Mitgliedern. Dort wurde sie auch auf Arabisch übersetzt. Dann kamen die Reaktionen. Albeirouti scrollt auf seinem Handy durch Hunderte Direktnachrichten zurück ins Jahr 2021. Er stoppt wahllos. Die meisten Treffer klingen so: „Salam Aleikum, Bruder Bilal, ich habe das Posting gesehen …“
Es sind unbekannte Landsleute. Doch er antwortet allen. Gibt Tipps fürs Bewerbungsschreiben, Einblicke in den Berufsalltag, zerstört Illusionen vom freien Wochenende. Solche gibt es besonders in den ersten Jahren selten. Seine Frau empfahl ihm, alle Infos in einem Posting zusammenzufassen, damit wieder mehr Zeit für die Familie bleibt. Doch dieser Facebook-Eintrag führte zu nur noch mehr Nachrichten.
Auch seine Handynummer machte die Runde, was ihm bis heute WhatsApp-Nachrichten einbringt. „Bei Syrern gibt es keinen Datenschutz“, erzählt er schmunzelnd.
Der große Personalhunger ist gestillt
Vor drei Jahren war Albeirouti der erste syrische Tramfahrer Wiens. Heute geht eine Vielzahl an Syrern in den Remisen für Busse und Straßenbahnen aus und ein. Das Unternehmen bestätigt den Zuwachs, kann aber keine genauen Zahlen nennen. „Voriges Jahr waren so viele Araber beim Informationstag“, erinnert sich Neuling Alkhatib.
Diese Info-Tage waren Teil der Aufnahmeoffensive, die sich auch gezielt an neue Zuwanderer richtete. Damit reagierte das Unternehmen auf die akute Personalnot Anfang 2023. Damals mussten Intervalle verlängert werden. Im Internet startete eine Wartezeiten-Challenge nach dem Motto: „Wer bietet mehr?“ Heute herrscht wieder Normalbetrieb – auch dank Mitarbeitern wie Alorfi oder Alibrahim. Die Ausbildungsplätze sind voll. Und neue Syrer müssen warten.
Einen Personalmangel gibt es nur noch in den Werkstätten. Dort landete der 28-jährige Imad Sakbani. Nach seiner Flucht nach Österreich ließ er sich zunächst als Koch ausbilden, arbeitete in einem veganen Restaurant am Schwedenplatz. Dann sattelte er um auf Mechaniker, bis sein Kfz-Lehrbetrieb schloss. Sein aktueller Job fuhr an ihm vorbei – in Form einer riesigen Jobanzeige auf einer Tram.
Das Kopftuch macht ihr keinen Kopf
Für die 26-jährige Aisha Alibrahim aus Aleppo war die Lenkerkabine ihr erster Arbeitsplatz in Österreich. Sie wollte eigentlich Apotheker-Assistentin werden. Eineinhalb Jahre suchte sie. „Ich wurde wegen des Kopftuchs nicht aufgenommen“, ist sie überzeugt. Ein türkischer Freund des Vaters meinte, bei den Wiener Linien sei das anders. „Aber ohne Führerschein nehmen die mich doch nie“, erinnert sie sich an ihr Zögern. Doch man braucht keinen Pkw-Führerschein, um bei den Wiener Linien anzuheuern. Auch das war eine dieser Infos, die Albeirouti zigfach teilte.
Heute fährt Alibrahim ganz selbstverständlich durch Wien. Das Kopftuch zur Uniform bescherte ihr bisher keine Probleme. Gerne erinnert sie sich an eine Frau, die ihr während der Ausbildungsfahrt einen Daumen hoch entgegenstreckte. Sie sah darin ein Signal, dazuzugehören.
Paketwagen, Gurgelbox, Tram
Die syrischen Tramfahrer blicken auf Berufswege voller Brüche und unerwarteter Wendungen zurück, die sie meilenweit weg von ursprünglichen Plänen führten. Die Pandemie war so ein Bruch. Aus dem Nichts entstanden neue Jobs. Jafar Alorfi konnte damals seinen Job als DHL-Bote an den Nagel hängen und in eine Gurgelbox des Samariterbunds wechseln. Dort assistierte er bei Corona-Tests.
Mit Ende der Pandemie stand er wieder auf der Straße. Der Samariterbund machte ihn darauf aufmerksam, dass die Wiener Linien händeringend Personal suchen. Er gab sich einen Ruck und wurde Tramfahrer. Er will im Unternehmen aufsteigen. Dass er in Syrien ein Jahr Nachrichtentechnik studierte, ist nur noch eine blasse Erinnerung. Sein Kollege, der 34-jährige Alaa Al Mardini, studierte an der Uni Damaskus englische Literatur und war bereits im vorletzten Semester, als der Krieg ausbrach. Nach seiner Flucht nach Österreich schlug er sich als Mietwagenfahrer durch, ab 2020 war er Corona-Tester vor der Notaufnahme des AKH und nahm Rachenabstriche. Auch dieser Job hatte ein Ablaufdatum.
Ein Freund aus der Heimat erinnerte ihn daran, dass er in Syrien Zugfahrer werden wollte, sein Plan B zur akademischen Laufbahn. Der Plan B wurde nun in Österreich schlagend, in der Straßenbahn von Hernals nach Grinzing statt im Zug von Damaskus nach Aleppo. Um sprachlich fit zu bleiben, spricht er mit seiner Frau nur Englisch. „Irgendwann gehe ich vielleicht wieder auf die Uni“, sagt er.
Die „erste“ Generation der Syrer
An die alten Träume erinnert zu werden, fällt nicht leicht. Doch sie sind auch stolz darauf, was sie geschafft haben, wirken angekommen, erzählen in solidem Deutsch über ihr Leben – Artikelfehler hin oder her. Etwa über den Zusatzbonus der Arbeit bei den Wiener Linien: „Mit Uniform bekommst du als Ausländer viel mehr Respekt als ohne.“
Rechtlich sind sie bald keine Ausländer mehr. Sie haben ihre Anträge auf die Staatsbürgerschaft bereits abgegeben oder nehmen die letzten Hürden. Der 29-jährige Tramfahrer Majdi Skeik aus Damaskus ist bereits Österreicher. Er spricht perfekt Deutsch. Nach einer Lehre als Einzelhandelskaufmann stieg er in einer Supermarktkette rasch zum Filialleiter auf. Doch dann wechselte er zu den Wiener Linien. „Ich wollte nicht mehr andere Menschen noch reicher machen“, sagt er. Dank seiner außerordentlichen Integrationsleistungen holt er sich die Express-Einbürgerung nach nur sechs Jahren.
„Das Klima ist deutlich abgekühlt“
Die Integration dieser ersten Generation Syrer ist kaum Thema, obwohl sie die Mehrheit stellt. Das Image der Community ist aktuell geprägt von negativen Schlagzeilen über Bandenkriege, Drogendelikte, sexuelle Übergriffe oder Gewalt an Schulen – mit einem Überhang an syrischen Tätern. Es sind junge Männer der zweiten Welle, die Österreich ab 2020 erreichte. Sie stammen aus einer Kriegsgeneration, die meist keine Schulbildung genoss, fern der Städte in ländlichen Kriegsgebieten aufwuchs – oder in Flüchtlingslagern, wo sie auch mit kriminellen Milieus in Kontakt kam.
„Wir haben Syrien verlassen, weil wir nicht kämpfen wollten. Diese Leute verlassen Syrien und kämpfen hier weiter? Das hat hier keinen Platz. Das ist schlecht für uns und unsere Kinder“, ärgert sich Majdi Skeik, Vater einer zweijährigen Tochter. „Das Klima hat sich geändert. Es ist deutlich kälter geworden“, vergleicht Tramfahrerin Alibrahim, wie 2015 und heute über Syrer berichtet wird.
Von der Bande „505“ – sie ist in blutige Kämpfe mit Tschetschenen verwickelt – haben die Syrer erst in Österreich gehört. Sie schütteln den Kopf über diesen „Kindergarten“. Zugleich überlegen sie, wie sie jene auf die richtige Spur bringen können, die den harten Weg der Integration erst beginnen müssen. Sie wollen Vorbild sein.
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.