Der Wurmmittelstürmer: Wer stoppt Herbert Kickl?
Texingtal, eine schmucke 1678-Einwohner-Gemeinde im niederösterreichischen Mostviertel, bekannt durch Burg Plankenstein und Dollfuß-Museum sowie als Heimatort von Innenminister Gerhard Karner. 20 Jahre lang hat Engelbert Steinkogler, Jahrgang 1968, hier als ÖVP-Lokalpolitiker wahlgekämpft. Diesmal ging er mit dem FPÖ-Wahlkampfsackerl von Haus zu Haus und berichtet begeistert: "So viel Zuspruch habe ich nie davor bekommen." Gemeinderat Steinkogler ist vor einem Jahr aus der ÖVP ausgetreten, aus Zorn über die Corona-Politik, wie er erzählt: "In den Lockdowns wurden wir eingesperrt, durften nicht einmal mit den Kindern ins Hallenbad." Als dann noch die Impfpflicht verkündet wurde, wuchs die Wut-nicht nur bei ihm: "Bei uns im Ort gab es fünf oder sechs Anti-Corona-Demos, bei der ersten waren 350 Demonstranten und 150 Polizisten."
Neo-FPÖ-Mann Steinkogler hat ein 20-Mitarbeiter-Unternehmen, baut chemiefreie Holzhäuser aus "bei abnehmendem Mond geschlägertem Holz". Er ist, das ist ihm wichtig, "absolut nicht ausländerfeindlich, ich habe selbst zwei Afghanen beschäftigt". Im einst tiefschwarzen Texingtal, wo die ÖVP bei der Landtagswahl 2018 auf satte 74,6 Prozent kam, verlor sie diesmal 24 Prozentpunkte. Die FPÖ hingegen legte um 21,2 Prozentpunkte auf 29,8 Prozent zu. Die SPÖ rangiert mit dem Wahlergebnis von 8,1 Prozent unter ferner liefen.
Textingtal ist ein Extrem-, aber kein Ausnahmefall. Quer durch Niederösterreich erlebten Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner und die machtbewusste ÖVP ihr Waterloo-und die Zornsammelstelle FPÖ feierte einen Kantersieg: bestes Ergebnis der Geschichte, absolute Mehrheit der ÖVP gebrochen, die SPÖ auf Platz 3 degradiert. Nur in der Generation 60 plus konnten Schwarz und Rot noch punkten, bei Jüngeren dominierte Blau. Der Schock bei ÖVP und SPÖ sitzt tief, denn einige Grundmuster haben weit über Niederösterreich hinaus Bedeutung. Die Zeiten, als Superstar Sebastian Kurz mit Law-and-Border-Politik die FPÖ in Schach halten konnte, sind vorbei, seinen Nachfolgern gelingt das nicht. Wem das Thema Asyl/Migration ein Anliegen ist, der wählt FPÖ. Oder: Die Kanzlerinnenträume der SPÖ-Vorsitzenden Pamela Rendi-Wagner sind ausgeträumt. Und: Die Corona-Pandemie mag offiziell für beendet erklärt, die Impfgegner-Partei MFG in der Versenkung verschwunden sein-der Frust über Lockdown und Impfzwang aber nicht, er treibt Wähler in Scharen zur FPÖ.
Unter Herbert Kickls Führung kletterte die FPÖ in Umfragen bundesweit auf Platz eins, blaue Wahlsiege im März (Kärnten) und April (Salzburg) gelten als fix. Aus der historisch wirtschaftsliberalen FPÖ wurde endgültig eine rechtspopulistische "Heimatpartei", die diesmal auch tief in höhere Bildungsschichten eindrang. Ist Kickls Erfolgslauf überhaupt zu stoppen? Kann er tatsächlich Kanzler werden? Oder stolpert die erfolgstrunkene FPÖ, wie einst unter Jörg Haider oder Heinz-Christian Strache, wieder einmal über sich selbst?
Bisher folgten Aufstieg und Fall der FPÖ oft dem Muster: Oppositionsbank-Regierungsbank-Anklagebank. Nach Schwarz-Blau, ÖVP-BZÖ und Türkis-Blau waren Staatsanwaltschaften Jahre beschäftigt, Affären aufzuarbeiten-von Karl-Heinz Grasser bis zu Heinz-Christian Strache. Die Regierungs-FPÖ unter Jörg Haider ist von der Parteispaltung in Knittelfeld 2002 und der Affäre um die Milliarden-Pleite der früheren Kärntner Landesbank Hypo Alpe Adria geprägt, und die Ära des früheren Vizekanzlers Strache und seines Innenminister Kickl von Ibiza.
Aktuell wird die FPÖ von ihrer Nähe zu Russland eingeholt: profil veröffentlicht vertrauliche Dokumente eines russischen PR-Beraters.
Demnach sollte die FPÖ im Jahr 2016 einen Antrag "zur Aufhebung antirussischer Sanktionen" im Nationalrat einbringen-was dann auch geschah. Ob dafür Geld geflossen ist, wollte ein involvierter Abgeordneter nicht beantworten.
Doch es müssen nicht konkrete Affären sein, mit denen sich die FPÖ selbst beschädigt. Es kann sich auch um moralische Grenzüberschreitungen handeln. Der niederösterreichische Asyllandesrat Gottfried Waldhäusl sorgte vergangene Woche in einer TV-Diskussion auf Puls4 mit einem xenophoben Rülpser für Empörung. "Dann wäre Wien noch Wien", antwortete er einer Gymnasiastin. Sie hatte angemerkt, dass ihre Klasse mit hohem Migrationsanteil nicht da wäre, hätte die FPÖ das Sagen. Eine Woge der Entrüstung folgte-wie so oft nach blauen Entgleisungen. Diese Reflexe sind eingeübt, die Grenzen des Sagbaren aber haben sich verschoben. Nicht ohne Grund orten Politologen wie Fritz Plasser schon seit Jahren "im internationalen Vergleich stark ausgeprägte Fremdenfeindlichkeit in Österreich".Am Freitag befestigten Rechtsextreme an der Schule der Gymnasiastin in Favoriten ein Transparent und verteilten Flugzettel mit rassistischen Parolen.
Die Skandal-Geschichte der Blauen wäre nicht vollständig ohne ideologische oder personelle Verbindungen zum rechtsextremen Lager, wo sich etwa seit Jahren die Identitären tummeln, eine Gruppe, die sich dem Kampf gegen "den Bevölkerungsaustausch"-wie sie es nennen-verschrieben hat. Herbert Kickl bezeichnete die Identitären als "unterstützenswerte NGO" und stellte sie damit auf eine Ebene mit Greenpeace. Der FPÖ-Vorstandsbeschluss, wonach ein Mitglied der Identitären nicht gleichzeitig Parteimitglied sein kann? Wohl bald Makulatur. Denn Kickl verlangt mittlerweile seelenruhig in der "Zeit im Bild 2", wovon Identitäre träumen: dass heimische Polizisten irreguläre Migranten an den Grenzen zurückstoßen in die Nachbarländer-"Pushback" genannt.
Auftritt Identitäre am Tag der niederösterreichischen Landtagswahl: Noch bevor die Stimmen ausgezählt waren, bestiegen drei Mitglieder der Organisation das Dach der ÖVP-Parteizentrale in St. Pölten. "Politiker einsperren, Grenzen zusperren", stand da auf dem Banner zu lesen, das die Extremisten vom Dach flattern ließen, bevor die Polizei einschritt und die Männer daran hinderte, in die Zentrale einzudringen. Die Aktion wurde für die sozialen Medien inszeniert, ein Foto zeigt die Vermummten am Dach, wie sie Daumen und Zeigefinger zu einem "O" formen und die restlichen drei Finger wegspreizen-in der Szene steht dieser Gruß für "white power",eine menschenverachtende Ideologie, die von der Überlegenheit der "Weißen" fantasiert.
Gleich zwei Involvierte haben Berührungspunkte mit der FPÖ. profil liegt ein Foto jenes Mannes vor, der die Aktion von außen mit einer Kamera dokumentierte. Es handelt sich um Gernot Schmidt, der bis 2018 im Landesvorstand der freiheitlichen Studenten Wiens saß, der inzwischen als führender Kader der Identitären gilt.
Die übrigen drei Aktivisten wurden von der Polizei wegen Sachbeschädigung angezeigt, profil kennt ihre Namen. A., einer der drei, stammt aus Zwentendorf und ist Kick-Boxer. Er wurde bereits auf Veranstaltungen der Freiheitlichen Jugend in Wien gesichtet, als diese gegen Homosexuellen-Rechte mobilmachte.
Es gab Zeiten, da sorgten rechte Ausritte im Umfeld der FPÖ noch für Parteiausschlüsse-und schwache Wahlergebnisse. Die sogenannte Liederbuch-Affäre im Vorfeld der niederösterreichischen Landtagswahl 2018 war so ein Fall. Fünf Jahre später scheint es, als wäre alles egal. Auf der FPÖ-Liste kandidierte ein Mann, der den Spitznamen "Hitlergruß-Andi" bekam, weil er als Jugendlicher mit dieser Geste posierte.
Die FPÖ profitierte im Wahlkampf in Niederösterreich-wie so oft-von der Logik der sozialen Netzwerke. Um die Aufmerksamkeit der User möglichst lange zu halten, belohnen die Algorithmen polarisierende Inhalte mit Reichweite. Facebook gilt aus gutem Grund als Empörungsmaschine. Und mit Empörung kennen sich die Freiheitlichen aus.
profil wertete die Facebook-Postings der fünf Spitzenkandidaten in den 90 Tagen vor der Niederösterreich-Wahl aus. Von den 30 Postings mit den meisten Interaktionen, die also von vielen Usern gelikt, geteilt und kommentiert wurden, stammen die ersten 29 von Udo Landbauer. Erst dann folgt ein Posting von Landeshauptfrau Mikl-Leitner.
Die erfolgreichsten Beiträge von Landbauer sind auch ein Indikator dafür, mit welchen Themen die Freiheitlichen punkten konnten. Platz eins: gegen Asylwerber. Platz zwei: gegen den "Impfterror".Darunter die Zeile: "Wir vergessen nicht!"
Die FPÖ kennt ihre Zielgruppe. Einzelne Werbeanzeigen spielte die Partei an Menschen aus, die sich für den Musiker Andreas Gabalier, fürs Grillen und für Gartenarbeit interessieren. Die anderen Parteien überließen der FPÖ die digitalen Stammtische und Bierzelte beinahe kampflos: Mit über 180.000 Euro gaben die Blauen mit Abstand am meisten für Werbung auf Facebook und YouTube aus (siehe Grafik).
"Was vor zwei Jahren gesät wurde, geht nun auf", sagt der Wiener FPÖ-Abgeordnete Harald Stefan. Am 6. März 2021 stand Herbert Kickl, damals noch nicht Parteichef, auf einer Bühne bei der Jesuitenwiese im Wiener Prater und hielt eine Brandrede gegen Bundeskanzler Sebastian Kurz und die Corona-Maßnahmen der Regierung. Seine Rede ging im "Kurz muss weg"-Gebrüll der Menge unter.
Seinerzeit war Kickl in seiner Rabiatheit nicht einmal allen in der eigenen Partei geheuer. Bürgerliche Blaue rümpften die Nase über dessen seltsame Empfehlung, das Wurmmittel Ivermectin zum Schutz vor einer Corona-Infektion einzunehmen, Alteingesessene kritisierten offen, dass Kickl sich und die FPÖ mit radikalen Auftritten auf ein Häufchen Verschwörungstheoretiker reduziere.
Drei Monate nach dem Prater-Auftritt legte FPÖ-Obmann Norbert Hofer die Parteiführung zurück-nach langem Mobbing durch seinen Klubobmann und Nachfolger Kickl. Vor allem in der Hofer-treuen Landesgruppe von Oberösterreich um ihren Obmann Manfred Haimbuchner regte sich interner Widerstand gegen den neuen Chef. "Haimbuchner war klar für Norbert Hofer als Parteichef positioniert. Doch Kickl hat sich durchgesetzt und ist seither erfolgreich. Solange das so ist, gibt es bei Freiheitlichen keine Diskussion und keine Heckenschützen", sagt Haimbuchner-Berater Christoph Pöchinger.
Als im August 2022 der Skandal um Hans-Jörg Jenewein losbrach, schrieb profil: "Die Affäre könnte den Anfang vom Ende von Parteichef Herbert Kickl einläuten." Der frühere FPÖ-Abgeordnete hatte eine anonyme Anzeige gegen eigene Parteifreunde eingebracht wegen des Missbrauchs von Fördermitteln-auf Geheiß Kickls, wie viele vermuteten. Doch es blieb beim Verdacht. Und nur einen Monat später erzielte Kickl beim FPÖ-Parteitag 91 Prozent.
Wie robust Kickl auf Dauer ist, muss er noch zeigen. Für einen Spitzenpolitiker ist der FPÖ-Obmann relativ oft krank. Allerdings geht er schonend mit seinen Kräften um, zieht sich immer wieder zurück, verbringt an Sitzungstagen des Nationalrats nur wenig Zeit im Sitzungssaal. Oft verlässt er ihn bereits unmittelbar nach seinen eigenen Reden. Manche in der Partei glauben auch an die charakterliche Flexibilität ihres Chefs. Meint einer: "Kickl kann nicht nur Krawall, sondern auch Diplomatie." Wenn es bei den Freiheitlichen einen Alt-Intellektuellen gibt, ist es Andreas Mölzer. Der Publizist und frühere EU-Abgeordnete lässt sich nicht so schnell von guten Umfragewerten beeindrucken. Zu oft sah er seine Partei jäh abstürzen. Dieses Mal wirkt der rechte Ideologe fast euphorisch: "Es scheint, als könne die FPÖ ihr Umfragehoch bis zu den nächsten Wahlen durchtragen." Dass sich die FPÖ als einzige Partei gegen die Corona-Einschränkung wehrte, wirke langfristig. Mölzer: "Das ist eine Bindung, die anhält."
Die Strategen der ÖVP Niederösterreich jedenfalls haben die Wut über die Corona-Maßnahmen und die Impfpflicht unterschätzt. "Bei den Leuten hat sich so viel angestaut, dass sie die Wahl als Ventil sahen",sagt Anton Erber, der seit 25 Jahren für die ÖVP im niederösterreichischen Landtag sitzt und einen der entlegensten Winkel des Landes vertritt: Den sanft-hügeligen Bezirk Scheibbs. Erber ahnte bereits im Wahlkampf, dass etwas nicht stimmte. Bei einem Ball in einer Kleingemeinde wurde der Abgeordnete von einem Bekannten angeblafft: "Vor der Wahl sieht man euch auch wieder einmal!"
Erber zog den Mann zur Seite und hörte sich an, was ihn störte. "Beim Gespräch ist dann herausgekommen, dass er nicht impfen war und richtig Angst davor hatte",erzählt Erber. Der Mann habe sich an den Rand gedrängt gefühlt, weil er als Ungeimpfter keinen Termin beim Zahnarzt mehr bekam.
Erbers Kritiker ist in großer Gesellschaft. Nirgendwo in Niederösterreich ist die Impfquote so niedrig wie im Bezirk Scheibbs-und nirgendwo sonst waren die ÖVP-Verluste so groß. Die Partei rasselte von knapp 60 Prozent im Jahr 2018 um 16 Prozentpunkte nach unten. Die FPÖ legte um 14,5 Prozentpunkte zu.
Ein Ausreißer ist der Tourismusort Göstling mit dem Skigebiet Hochkar. Dort ist die Impfquote höher als im Bezirksschnitt, und die ÖVP-Verluste sind mit sieben Prozentpunkten bescheidener. Diese Korrelation zwischen Corona-Immunisierung und Wahlergebnis zeigt sich im ganzen Land (siehe Grafik).
Josef Muchitsch, der erdige Chef der SPÖ-Gewerkschafter, hielt die Impfpflicht schon beim Beschluss für einen Fehler und stimmte vor einem Jahr als einziger SPÖ-Abgeordneter im Parlament dagegen. Heute sagt er: "Ich habe damals auf die Menschen gehört. Viele waren wie ich geimpft, aber gegen die Impfpflicht."Es hält es auch strategisch für falsch, dass die SPÖ mit der Regierung für die Impfpflicht votierte: "Als Opposition hätten wir da nicht die Partnerrolle einnehmen sollen. Jetzt in Niederösterreich haben wir den Denkzettel bekommen."
Die Malaise der SPÖ wurzelt aber tiefer. Nach dem schwachen Ergebnis in Tirol im September und dem Desaster in Niederösterreich dämmert auch den größten Optimisten: Platz eins im Bund und damit das Comeback als Kanzlerpartei sind außer Reichweite-auch, weil Parteichefin Pamela Rendi-Wagner seit Amtsantritt nicht aus der Defensive kommt und Burgenlands Landeshauptmann Hans Peter Doskozil regelmäßig kundtut, er wäre der beliebtere Parteichef. Bis zu den Wahlen in Kärnten und Salzburg liegt die Obfraudebatte auf Eis. Das täuscht niemand darüber hinweg: Rendi-Wagner wackelt, nach der Wahl in Niederösterreich mehr denn je.
Als die SPÖ von 2000 bis 2006 unter Schwarz-Blau und ÖVP-BZÖ in Opposition war, gewann sie enttäuschte FPÖ-Stimmen und Protestwähler-davon kann diesmal keine Rede sein. Und die frühere Hoffnung, die SPÖ könne Arbeiter von der FPÖ zurückgewinnen, ist längst verflogen: Diese ehemals rote Wählerschicht existiert kaum mehr. Gerade viele Arbeiter wählten schon als Lehrlinge Jörg Haider, später Sebastian Kurz, jetzt wieder FPÖ-und haben zur SPÖ keinerlei Bindung.
Vertreter der ÖVP-Bundespartei versuchen wiederum, den Schreck über das Wahlergebnis mit bemüht nüchterner Analyse zu verarbeiten. Die Verluste an Stimmen, Mandaten und Landesratsposten seien bitter, aber doch zu erklären: Der Kurz-Effekt, der 2018 die absolute Mandatsmehrheit sicherte, sei diesmal ausgefallen. Die multiplen Krisen würden alle Regierenden in der EU treffen. Bloß ein Teil des Rückgangs um zehn Prozentpunkte sei hausgemacht, das Ergebnis von knapp 40 Prozent insgesamt passabel.
Dass das Image durch die Korruptionsvorwürfe geschädigt ist, wird nicht geleugnet. Allerdings, so die Sichtweise, in der Selbstmitleid mischwingt, würde das aggressive ÖVP-Bashing der SPÖ auch den Sozialdemokraten schaden, da dadurch politikverdrossene Bürger der FPÖ zugetrieben würden. Bildlich formuliert: Wenn zwei sich dermaßen streiten wie ÖVP und SPÖ, schaut der Dritte, die FPÖ, in der ersten Reihe genussvoll zu.
Die Strategie gegen die Freiheitlichen ist zweigeteilt. "Wir müssen weiterarbeiten und versuchen, unsere Politik möglichst gut zu verkaufen",sagt ein ÖVP-Abgeordneter. Zur Sachlichkeit kommt Angriffslust. Die Volkspartei will neue Töne gegenüber der FPÖ anschlagen. ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker gibt profil eine Hörprobe: "Herbert Kickl ist der größte Putin-Versteher. Er klingt wie Radio Moskau. Österreich empfing schon einmal Befehle aus Russland, in der Besatzungszeit. Das darf sich nicht wiederholen."
Als Niederösterreicher-Stocker ist Vizebürgermeister von Wiener Neustadt-musste der ÖVP-Generalsekretär schmerzhaft zur Kenntnis nehmen, wie massiv die Blauen mit simplen Botschaften punkteten: mit dem Versprechen, Österreich zur Festung umzubauen; oder mit der blauen Anti-Inflations-Zauberformel, die allein aus der Aufhebung der Russland-Sanktionen besteht. "Wir müssen noch besser erklären, dass die FPÖ viel verspricht und nichts hält", sagt Stocker.
Dass man mit Herbert Kickl koaliert oder ihn im Falle eines FPÖ-Sieges gar zum Bundeskanzler macht, schließt man in der ÖVP kategorisch aus. Stattdessen denken einzelne Funktionäre bereits über die Wiederbelebung einer Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokratie und ÖVP nach, vormals bekannt als Große Koalition. Doch dem steht das zerstörte Verhältnis zwischen den beiden Parteien entgegen. Nur noch zwischen den Sozialpartnern aus schwarzer Wirtschaft und roter Gewerkschaft sind ein paar Gesprächskanäle-mit Einschränkungen-intakt.
Eine Große Koalition dürfte auch die Hoffnungsvariante von Bundespräsident Alexander Van der Bellen sein. Vergangene Woche legte sich der Bundespräsident in einem ORF-Interview de facto fest, Herbert Kickl im Fall eines Wahlsiegs der FPÖ weder mit der Regierungsbildung betrauen noch zum Kanzler ernennen zu wollen. Van der Bellens Begründung: Er sei auch seinem Gewissen verpflichtet.
Die Verweigerung des Regierungsbildungsauftrags ist eine leichte Übung, denn ein solcher ist in der Verfassung nicht vorgesehen. Daher konnte sich Wolfgang Schüssel im Jänner 2000 auch verselbstständigen, mit Jörg Haider Koalitionsverhandlungen führen und dem damaligen Bundespräsidenten Thomas Klestil ein schwarz-blaues Regierungsprogramm vorlegen. Klestil musste schließlich mit Schüssel einen Kanzler ernennen, den er zwar nie mit einer Regierungsbildung beauftragt hatte, der allerdings über eine parlamentarische Mehrheit verfügte. Damit hätten ÖVP und FPÖ eine Minderheitsregierung unter Führung des SPÖ-Vorsitzenden Viktor Klima-wie sie sich Klestil wünschte-im Nationalrat sofort gestürzt.
Van der Bellen könnte in eine ähnliche Bredouille geraten. Verfügt Kickl über einen Koalitionspartner, der ihn als Regierungschef akzeptiert und ihm eine parlamentarische Mehrheit verschafft, wird ihn Van der Bellen zwangsläufig zum Kanzler ernennen müssen. Jede andere Regierung von Van der Bellens Gnaden, etwa ein neuerliches Expertenkabinett wie 2019 unter Kanzlerin Brigitte Bierlein, könnte per Misstrauensantrag zu Fall gebracht werden. Folgte Van der Bellen seinem Gewissen und verweigerte Kickl die Ernennung, müsste er zurücktreten-und würde damit erst recht eine Staatskrise auslösen.
Van der Bellen muss also hoffen, dass ihm ÖVP und SPÖ diese Situation ersparen, indem sie sich Kickl als Mehrheitsbeschaffer verweigern. Ein möglicher Ausweg: Van der Bellen schlägt der FPÖ vor, einen anderen Kanzlerkandidaten zu akzeptieren, etwa Norbert Hofer oder Manfred Haimbuchner-was die Blauen wohl ablehnen würden.
Dass die FPÖ voran liegt, ist nicht neu. Nach der Flüchtlingswelle 2015 setzten die Freiheitlichen zu ihrem bisher stärksten Höhenflug an und eroberten in Umfragen Platz eins. Aber nur so lange, bis Sebastian Kurz in der ÖVP und Christian Kern in der SPÖ Parteichefs wurden-und bei der Nationalratswahl 2017 die FPÖ auf den dritten Platz verwiesen. Mit der heutigen Lage lässt sich die damalige allerdings kaum vergleichen. Kern und noch mehr Kurz standen voll im Saft, Nehammer und Rendi-Wagner wirken schon jetzt erschöpft.
Bleibt Schwarz und Rot derzeit nur die Hoffnung auf den blauen Selbstzerstörungstrieb.