Der 17. Dezember 1997 war im Osten Österreichs ein bitterkalter Tag. Minus sechs Grad hatte es in Eisenstadt, minus vier in St. Pölten und minus fünf in Wien. Dort, im 3. Gemeindebezirk, endete an diesem eisigen Mittwoch ein Stück Geschichte: Nach 150 Jahren stellte der Schlachthof Sankt Marx seinen Betrieb ein. 50 Rinder aus Niederösterreich wurden am Vormittag noch geschlachtet, dann war Schluss. Auch für die 150 Fleischhauer, die dort angestellt waren, begann eine neue Zeitrechnung. „Ich kenn doch nur Fleisch. Und jetzt soll ich mit 50 noch Hilfsarbeiter werden“, klagte einer von ihnen im „Standard“.
Szenen wie diese spielten sich in den 1990er-Jahren in ganz Österreich ab. Schlachthöfe, die über Jahrhunderte die städtische Bevölkerung mit Fleisch versorgt hatten, mussten schließen. Sie waren durch die Konkurrenz der Supermärkte ohnehin wirtschaftlich marode, der EU-Beitritt gab vielen von ihnen den letzten Rest. Die Einhaltung der Hygienerichtlinien aus Brüssel konnten sie nicht mehr stemmen. Bis heute beeinflusst die Union die österreichische Fleischindustrie – und ihre potenziellen Nachfolger.
Schließende Schlachthöfe
Der europäische Einfluss auf den heimischen Fleischmarkt lässt sich anhand eines Symbols zeigen: einem ovalen Stempel. Noch immer ist er auf Lebensmitteln zu sehen, er gibt an, wo diese gefertigt wurden und um was es sich bei dem Produkt genau handelt. Bis zum EU-Beitritt war dieser Stempel in Österreich nicht zwingend vorgesehen. Wer wollte, konnte seine Waren auch nur in Österreich verkaufen – und bekam dafür einen runden Stempel.
Der Unterschied waren oft die strengeren Hygienevorschriften der EU. So schrieb die Union den Schlachthöfen exakte Temperaturkontrollen, moderne Sterilisationsanlagen und Andockschleusen vor, bei denen die Tiere bei der Entladung vor Wind und Wetter geschützt werden. 20 Millionen Schilling investierte die Stadt Wien 1994 in Sankt Marx, um einen kleinen Teil des Schlachthofes den neuen Anforderungen anzupassen. Weitere 590 Millionen waren veranschlagt, um die ganze Anlage zu modernisieren – schließlich entschied sich die Stadt aber für die Schließung.
Es war kein Einzelschicksal. 300 Groß-schlachthöfe gab es 1995 laut verschiedenen Medienberichten in Österreich, bis 2019 habe sich die Zahl auf 60 bis 70 reduziert, sagte Siegfried Rath, Leiter für den Bereich Fleisch und Fleischwaren bei der AMA, damals der Presse. Die Zahl habe sich kaum verändert, heißt es von der zuständigen Innung der Agrarhändler in der Wirtschaftskammer. Insgesamt gibt es heute 187 Schlachthöfe in Österreich, in der Zahl sind aber auch Klein- und Kleinstbetriebe enthalten.
Die EU-Vorschriften haben unser Fleisch sicher besser gemacht.
Franz Fischler
Ex-Landwirtschaftsminister und EU-Kommissar
Exporthit aus Tirol
„Den Beitritt verhandeln hieß: Die EU hat uns gesagt, welche Kriterien wir erfüllen müssen, und wir konnten für manche Vorschriften gewisse Übergangsmodalitäten vereinbaren. Das war alles“, sagt Franz Fischler (ÖVP). Als Landwirtschaftsminister oblag es ihm, sowohl Österreichs Bauern als auch die Fleischindustrie auf den EU-Beitritt vorzubereiten. Im Jänner 1995 vollzog er den fliegenden Wechsel und wurde Agrarkommissar in Brüssel. „Die EU-Vorschriften haben unser Fleisch sicher besser gemacht“, sagt Fischler, streicht aber auch einen anderen Effekt auf die heimischen Produzenten heraus: die Exportorientierung.
„Vor dem Beitritt war beinahe die gesamte Fleischwirtschaft nach innen orientiert“, sagt der 77-Jährige. „Heute wird Wurst und Speck aus Österreich in die ganze Welt exportiert.“ Das lässt sich auch anhand der Zahlen im Grünen Bericht – der jährlich die Situation der Landwirtschaft zusammenfasst – zeigen. 1994 exportierten österreichische Betriebe Fleischwaren im Wert von 2,2 Milliarden Schilling, umgerechnet 150 Millionen Euro. Im Jahr 2000 betrug der Wert bereits 383 Millionen Euro, 2022 fast eineinhalb Milliarden Euro. Bestes Beispiel für den Boom ist der Tiroler Speckproduzent Handl: Der Familienbetrieb exportierte 1992 Waren im Wert von sechs Millionen Schilling, bis 2017 stieg der Betrag auf 80 Millionen Euro. Über zwei Drittel gehen ins benachbarte Deutschland.
Doch der Boom beschränkt sich nicht auf die Ausfuhr in die EU, auch Exporte in Drittstaaten haben zugenommen. Auch diese werden, laut Fischler, von der EU begünstigt. Seit 2015 gilt ein Freihandelsabkommen zwischen den Unionsstaaten und Südkorea, seit 2018 eines mit Japan. Beide gelten als große Importeure von Schweinefleisch – auch von Produkten, die in Europa weniger Absatz finden. „In Japan sind Schweinsohren durchaus beliebt“, sagt Fischler. „Das hilft österreichischen Schlachtern, das ganze Tier zu verwerten, anstatt Teile davon entsorgen zu müssen.“
Minister Toschnig hat mit Laborfleich keine Freude.
Österreich gegen Laborfleisch
Mittlerweile beschäftigt sich die EU allerdings nicht mehr nur mit Fleisch, sondern auch mit den potenziellen Ersatzprodukten – und wiederum mit strengen Auflagen. Quer über den Globus arbeiten Wissenschafter und Unternehmen an der Entwicklung von Produkten, die zwar wie Fleisch schmecken und aussehen sollen, aber im Labor entstehen sollen. Schon im Jahr 2020 gab die Gesundheitsbehörde in Singapur kultivierte Chicken Nuggets zum Verzehr frei, 2023 zogen die USA nach. Im Sommer suchte das israelische Start-up „Aleph Farms“ in der Schweiz und Großbritannien um Genehmigung für seine aus Rinder-Stammzellen gezogenen Steaks an. „Zum Markteintritt werden Aleph Cuts einen ähnlichen Preis haben wie konventionelles Premium-Rindfleisch“, sagte Marketingleiter Yoav Reisler im Februar in einem Interview mit der „Jüdischen Allgemeinen“.
Wann dieser in der EU stattfinden wird, ist allerdings noch unklar. Im vergangenen Herbst beantragte der deutsche Hersteller von Labor-Hotdogs „Infamily Foods“ die Zulassung bei der zuständigen Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit. Im Jänner stand das Thema auf der Tagesordnung einer Ministerratssitzung der EU-Landwirtschaftsminister. Gemeinsam mit den Amtskollegen aus Frankreich und Italien brachte Norbert Totschnig (ÖVP) dabei eine Notiz, also eine Art Diskussionsgrundlage, ein. Darin übten sie scharfe Kritik an der Laborfleischproduktion und forderten von der Kommission und den Mitgliedstaaten eine umfassende Debatte über die potenziellen Auswirkungen der Markteinführung. Hauptsorge: Wie sich eine solche auf die Bauernschaft auswirken würde. Im März bekräftigte Totschnig seine Kritik. Der Zeitung des Bauernbundes sagte er: „Hinter Laborfleisch steht eine riesige Industrie-Lobby.“
Anders als bei den Schlachthöfen dreht sich die Sorge aktuell weniger um potenziell verunreinigte oder verdorbene Lebensmittel, sondern um die Lage der Bauern. Schon seit Anfang des Jahres ist diese ein Hauptgesprächsthema im EU-Ministerrat, Anlass sind die großen Proteste der Landwirte in mehreren EU-Ländern im Winter.
So drehte sich die letzte Sitzung Ende März um eine Verringerung des Verwaltungsaufwands für die Bauern und die Stärkung ihrer Position in der „Lebensmittelversorgungskette“. Aber bis die Labor-Hotdogs zugelassen werden, dauert es ohnehin noch mindestens ein Jahr. Die EU-Vorgaben für Lebensmittel gelten eben als die strengsten der Welt – ganz egal ob sie aus dem Schlachthof oder der Petrischale kommen.
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Moritz Ablinger
war bis April 2024 Redakteur im Österreich-Ressort. Schreibt gerne über Abgründe, spielt gerne Schach und schaut gerne Fußball. Davor beim ballesterer.