Die Generation der versäumten Erlebnisse
Wenn man in Österreich aufwächst, sind die Meilensteine des Erwachsenwerdens untrennbar mit Rauscherfahrungen verbunden. Als 13-Jähriger beim Schulfest am reingeschummelten Bacardi-Cola zu nippen, mit 16 den klebrigen Großraumdiscoboden in ein Kunstwerk aus braungrünem Erbrochenen zu verwandeln oder den eigenen Maturaball durch einen Krankenhausaufenthalt frühzeitig zu beenden – ungewöhnlich ist das alles nicht. Im Gegenteil: Ungewöhnlich wäre es eher, wenn man nicht selbst mindestens eines dieser Szenarien als Betroffener oder Beistand so oder ähnlich erlebt hat.
In den vergangenen zwei Jahren ist eine Generation herangewachsen, die auf viele Rauscherlebnisse verzichten musste: Maturabälle wurden abgesagt, Clubs zugesperrt, Konzerte verschoben. Die psychische Gesundheit bei Schülerinnen und Schülern hat sich in diesen Monaten enorm verschlechtert, bei 55 Prozent kommt es zu depressiven Symptomen, beschreibt eine Studie der Donau-Universität Krems. Keine Sorge, jetzt kommt nicht der Vorschlag, dass einfach mehr getrunken werden sollte. Natürlich sind es die sozialen Kontakte – die in Österreich eben oft mit Alkoholkonsum einhergehen –, die fehlen.
Jugend ohne Spaß
„Die verlorene Generation“, so wird diese Generation der versäumten Erlebnisse manchmal bezeichnet. Der Begriff wurde ursprünglich von Gertrude Stein für die Heranwachsenden während des Ersten Weltkrieges geprägt. Woher kommt überhaupt das Bedürfnis, soziokulturelle Gruppen ähnlichen Alters zusammenfassend mit einem Überbegriff zu versehen? Es gibt die Generation X, die Boomer, die Millennials. Wir stecken uns gerne gegenseitig in Schubladen, aber am liebsten uns selbst. Ein Kollege aus der profil-Redaktion meinte vor Kurzem, wir, die jungen Online-Affinen, würden sie, die Älteren, als „Totholz-Journalisten“ bezeichnen. Den Begriff habe ich in dem Moment zum ersten Mal gehört – und seitdem in meinen Sprachgebrauch aufgenommen.
Aber etwas ist dran: Gesellschaftspolitische Ereignisse prägen verschiedene Altersgruppen unterschiedlich. Aufwachsen funktioniert so, dass man sich Schritt für Schritt in Richtung eines erwachsenen Lebens bewegt – bevor man realisiert, dass ein solches nur eine Illusion ist. Dieser Prozess wurde im März 2020 unterbrochen, kollektiv, weltweit, gleichzeitig. Eine existenzielle Krise, wie sie fast jeden irgendwann im Leben ereilt, betraf eine ganze Generation von Menschen, die vielleicht noch gar nicht die nötigen Lebenserfahrungen gemacht haben, um diese zu bewältigen. Die Sorglosigkeit, nicht zu wissen, wo man hingeht (an einem Wochenende oder generell im Leben), wie ein Abend ausgeht und wen man kennenlernen wird, verschwand in der Pandemie über Nacht. Zufällige Begegnungen fallen weg, Spontanität gibt es kaum noch, und wichtige Entwicklungsstufen sind weggebröckelt. Kann man diese überhaupt noch nachholen, wenn man sie einmal verpasst hat?
Bevor man durchdreht, was während eines Lockdowns leicht passieren kann, sollte man sich ein neues Hobby suchen, in das man unverhältnismäßig viel Zeit investieren kann. In meinem Fall war es Pizza.“
Dabei war der Beginn dieser Krise geprägt von Zusammenhalt. Eine Welle von Solidarität überrollte die Gesellschaft, alle blieben zu Hause, man kaufte für Nachbarn ein, und ein paar Wochen keine Hose mehr anziehen zu müssen, war eine willkommene Abwechslung. Damals hatte man das Gefühl, die Welt wird danach eine andere sein – eine bessere. Für mich bedeutete das interessante Veränderungen im Schlafrhythmus. Nachdem sich die Einschlafzeit immer weiter nach hinten verschoben hatte, bis vier, fünf oder sechs Uhr in der Früh, war irgendwann der Punkt erreicht, an dem es sich gar nicht mehr auszahlte, überhaupt noch schlafen zu gehen. Tagsüber Studieren konnte man sowieso mit Laptop im Bett und die Nacht sinnvoller dazu nutzen, viele Folgen von „The Sopranos“ zu schauen. Der Versuch, dieses gestörte Verhältnis zum Schlaf durch einmaliges Durchmachen zu reparieren, führte kurzzeitig zu einem großmütterlichen 19–5-Uhr-Rhythmus, der sich erst langsam wieder den für Menschen mit Job und Sozialkontakten erforderlichen Schlafgewohnheiten annäherte. Die Natur heilt sich selbst, oder so.
Aus dem Leben im Lockdown
Bevor man durchdreht, was während eines Lockdowns leicht passieren kann, sollte man sich ein neues Hobby suchen, in das man unverhältnismäßig viel Zeit investieren kann. In meinem Fall war es Pizza. Man bestellt sich einen Pizzastein und achtet penibel darauf, dass für den handgekneteten Teig, der mindestens 24 Stunden gehen sollte (besser wären 48), ausschließlich Tipo-00-Mehl verwendet wird. Die Sauce MUSS aus sonnengereiften San-Marzano-Tomaten bestehen, nur mit etwas Salz und hochwertigem Olivenöl verfeinert, und der Mozzarella sollte einen möglichst niedrigen Feuchtigkeitsanteil haben. Mit ein bisschen Pflege reicht ein Basilikumstrauch für mehrere Lockdowns.
Die weitere Bilanz gegen Ende des zweiten Jahres der Seuche: Es gab Debatten über Impfvordrängler, Impfverweigerer, Debatten über Debatten, über lockere Maßnahmen und ganz strenge Maßnahmen. Klopapier und Nudeln sind nur mehr selten ausverkauft, niemand backt mehr Bananenbrot, einmal waren die Alten die Armen, dann die Jungen, und zu enden scheint das Ganze sowieso nie mehr. Grüße aus dem vierten Lockdown, der Schlafrhythmus ist gerade fast normal. Noch.
„If you'd have told me a year ago / that I’d be locked inside of my home / I would have told you a year ago / interesting, now leave me alone.“ Mit diesen Worten lädt uns der US-amerikanische Komiker, Musiker und Schauspieler Bo Burnham in sein während der Pandemie komplett von ihm allein in seinem Haus gedrehtes, gesungenes und produziertes Netflix-Comedy-Special „Inside“ ein. Wenn man jemanden als die Stimme einer Generation bezeichnen will, dann wäre Bo Burnham ein verdienter Anwärter. Ohne auch nur ein einziges Mal das C-Wort zu erwähnen, seziert der 31-Jährige in klaustrophobisch-beklemmenden 87 Minuten, was mit den Millennials in absoluter Isolation passiert. Es geht also um Avocados, Meditations-Apps und unbezahlte Praktika, um den Klimawandel, Panikattacken und Depressionen. A little bit of everything, all of the time.
Ohne wissenschaftlichen Anspruch, rein auf anekdotischer Evidenz aus dem Bekanntenkreis beruhend: Ja, den Leuten geht es nicht gut. Manche sind zu Einsiedlern geworden, unsicher, ob sie soziale Interaktion jemals wieder so leben können, wie es früher die Norm war. Es gibt Menschen, die bereits einen Gutteil ihres Studiums absolviert haben, aber noch kein Semester leibhaftig auf der Uni verbracht haben. Die während dieser prägenden Zeit niemanden kennengelernt haben. Studieren war zwar möglich, aber alles, was daran Spaß macht, hat gefehlt. Manche Freundschaften werden eben erst durch gegenseitiges Helfen beim alkoholbedingten Speiben intensiviert. Irgendwann lässt sich das nicht mehr rekonstruieren. Eine Freundin erzählte mir, dass sie das Gefühl hat, nie 24 gewesen zu sein. Dieses Jahr ist in ihrer Erinnerung einfach nicht vorhanden. Weil nichts Relevantes passiert ist. Vielleicht sind wir ja nicht mehr die Generation, die niemals 27 wird, sondern die, die nie 24 war.