Sibylle Hamann über die Abschiebung von Schülerinnen: Terror und Teenager
Dann stehe ich also um drei Uhr nachts am äußersten Ende von Simmering, die Kälte kriecht durch die Sohlen, und ich schaue durch eine getönte Autoscheibe. Das Mädchen auf dem Rücksitz fängt meinen Blick auf: dunkle Augen, lange, dunkelblonde Haare, eine beige Strickhaube. So alt wie mein Sohn, schätze ich, der grad in seinem warmen Bett liegt. Das Mädchen ist gefasst und ruhig. Es ist Tina, daneben ihre Mutter. Irgendwo in diesem Autokonvoi müssen noch ihre fünfjährige Schwester Lea und zwei armenische Teenager namens Sona und Ashot sein.
Mit Blaulicht werden sie in dieser Vollmondnacht zum Flughafen gebracht, zum Abschiebeflug nach Georgien. Doch die Polizeiwagen stecken schon seit einer Stunde fest. Ein Dutzend Teenager versperrt ihnen die Weiterfahrt. Sie sitzen, ineinander verhakt, vor einer Barrikade aus Mülltonnen und Einkaufswagerln. Die gedämpften Geräusche, das Warten, die Mischung aus Anspannung und Lähmung: Die Atmosphäre ist vertraut, wenn man eine grün-aktionistische Vergangenheit hat und jahrelang Reporterin war.
Doch heute Nacht in Simmering ist etwas Entscheidendes anders: Ich bin jetzt als Politikerin da, Abgeordnete einer Regierungspartei.
Im Nationalrat beschließen wir jene Gesetze, die Grundlage allen staatlichen Handelns sind. „Abstand halten, zwei Meter, gemma!“, herrscht mich ein Polizist an, funkelnde Provokation im Blick, während er mir forsch entgegentritt. Mit jedem Schritt vorwärts zwingt er mich, einen Schritt zurückzuweichen. Das Covid-Gesetz, das dieser Beamte benützt, um mich wegzudrängen, habe ich im Parlament beschlossen. Weil ich es für richtig halte.
Jenes Gesetz hingegen, das die Abschiebung von Tina ermöglicht, halte ich für grundfalsch. Das österreichische Fremden- und Asylrecht ist ein Monster mit verworrenen Tentakeln, das 20 Jahre lang mit immer neuen Verschärfungen gefüttert wurde – von verschiedenen Koalitionen aus ÖVP, SPÖ und FPÖ, stets gegen lauten Protest der Grünen. Ein von uns mitformuliertes Asylrecht würde anders ausschauen: Es würde ein echtes humanitäres Bleiberecht vorsehen, insbesondere für hier aufgewachsene Kinder. Es würde auf Härtefälle Rücksicht nehmen und dabei den Gemeinden, Nachbarn und Schuldirektor*innen eine Stimme zum Mitreden geben.
Ich bin ja Bildungssprecherin meiner Partei. Seit Monaten kämpfen wir darum, die Schule trotz der widrigen Umstände als sozialen Ort zu bewahren. Bindungen, Beziehungen, gemeinsame Erfahrungen, voneinander lernen: Alles das ist für Kinder und Jugendliche lebenswichtig. In Zeiten der Corona-Vereinzelung mehr denn je zuvor.
Ich bin davon ausgegangen, dass es trotz aller Differenzen ein paar gemeinsame Ziele mit der ÖVP gibt: Integration fördern und belohnen. In der Schule soziale Verantwortung, Empathie und politisches Bewusstsein stärken. Und ich hatte eigentlich gedacht, dass sich die ÖVP mitfreuen könne, wenn dieses schwierige Kunststück tatsächlich irgendwo gelingt – etwa in der 3B-Klasse des Gymnasiums Wien-Stubenbastei, wo Tina bis Anfang der Woche zur Schule ging.
Doch hier stehen jetzt in bitterkalter Dunkelheit Schüler*innen am Zaun einer Schubhaftanstalt, schreien sich die Kehlen heiser („Tina, Tina! Lasst sie frei!“) und versuchen einen allerletzten Blick auf ihre Klassenkameradin zu erhaschen, bevor diese in ein fremdes Land verbannt wird. Derselbe Staat, der mit der einen Hand Schulen baut, Lehrerinnen ausbildet und viel Geld in Integrationsprogramme investiert, holt mit der anderen Hand aus, um seine eigenen Anstrengungen wieder kaputtzuschlagen.
Nein, das kann ich Jugendlichen nicht erklären. Sie hätte Tina so gern noch ihre Haarbürste gebracht, erzählt ihre Freundin. Der Polizist habe es ihr verboten – denn sie könnte ja Sprengstoff drin versteckt haben.
Womit ich bei der Frage der Verhältnismäßigkeit bin und meiner Wut als Staatsbürgerin, als die Räumung beginnt. Ein Ruck geht durch die Polizeireihen, knappe Funksprüche, Laufschritt, Zugriff, es geht ganz schnell: abdrängen, wegstoßen, wegtragen, wegschleifen.
Beinahe absurd mutet die Szene an: Um uns herum toben eine Pandemie und eine globale Wirtschaftskrise, alle sind am Limit. Eben erst haben wir einen islamistischen Terroranschlag erlebt. Während das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) handlungsunfähig darniederliegt, braut sich am Rand der Gesellschaft eine reale Gefahr aus Verschwörungstheoretikern und bewaffneten Rechtsradikalen zusammen. Meiner Meinung nach wäre da genug zu tun für ein Innenministerium, ehe es gegen brave Teenager 150 Polizist*innen losschickt, dazu Wega-Beamte in ihren schwarzen Sturmhauben und eine Hundestaffel.
Es ist wenige Minuten nach fünf Uhr Früh, als der Autokonvoi davonbraust durch die leere Lockdown-Nacht. Simmering, Kaiserebersdorf, Schwechat, Tiflis. Die Hunde jaulen am Straßenrand, einige Teenager weinen. Österreich hat jetzt ein paar Schülerinnen weniger. Und ein paar Risse mehr.