Die Grünen: Hat der Anstand falsch gewählt?
Vom früheren CDU-Chef, Finanzminister und Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble stammt ein geflügeltes Wort: „Regieren ist ein Rendezvous mit der Realität.“ Wie man weiß, folgt auf ein Rendezvous mitunter ein böses Erwachen. So ergeht es derzeit den österreichischen Grünen, die seit zwei Jahren Regierungspartei sind. Vergangene Woche veröffentlichten profil und ORF sogenannte Sideletter zu den Koalitionsverträgen von ÖVP und FPÖ (2017) und ÖVP und Grünen (2019). Dabei handelt es sich um schriftlich fixierte Nebenabsprachen, die nicht für die Öffentlichkeit, ja nicht einmal für die eigenen Funktionäre bestimmt sind. Geklärt werden darin zum einen Postenvergaben, zum anderen inhaltliche Punkte.
Moral zum USP erklärt
Dass Türkise und Freiheitliche die Machtverteilung im Land klandestin regelten, löste kaum Verwunderung aus. Nach den Skandalen um das Ibiza-Video und die ÖVP-Chats gelten Volkspartei und FPÖ nicht gerade als unbefleckt. Dagegen die Grünen: eine Partei, die im Selbstverständnis für saubere Umwelt und saubere Politik steht; die im Wahlkampf mit dem Slogan „Wen würde der Anstand wählen?“ die Moral zu ihrem USP erklärte; die in ihrem Programm kritisiert, „die Bestellung und Wahl wesentlicher Organe der Republik“ würde „oft intransparent“ erfolgen. Nun sind aber gerade vertrauliche Nebenabsprachen und Sideletter der Inbegriff von Intransparenz. Haben die Grünen damit ihre Unschuld verloren? Sind auch sie nicht frei vom Machttrieb, der Erbsünde politischer Parteien?
Das Konvolut aus Nebenabsprachen - Werner Kogler nennt es lieber einen "Vertrag zur Arbeitsweise" der Koalition - besteht aus drei separaten Sidelettern. Auf jeder der insgesamt acht Seiten finden sich die Unterschriften von Kogler und Sebastian Kurz. Unter dem Punkt "Personalia" werden die Nominierungsrechte für hohe Posten geregelt. Demnach stehen der ÖVP der EU-Kommissar und der Vertreter im Europäischen Rechnungshof zu. Die Grünen dürfen bestimmen, wer Österreich im Europäischen Gerichtshof und in der Europäischen Investitionsbank vertritt. Im Generalrat der Nationalbank wird die ÖVP ab 2023 den Präsidenten und die Grünen den Vizepräsidenten übernehmen. Auch die Nominierungsrechte für Spitzenfunktionen in Verwaltungsgerichtshof, Bundesverwaltungsgericht und Bundesfinanzgericht werden geklärt. In der FMA (Finanzmarktaufsicht) haben beide Parteien Anspruch auf je einen Vorstandsdirektor. Auch die Aufsichtsratsmandate bei den Infrastrukturbeteiligungen wie ÖBB und Asfinag und den staatlichen Unternehmensbeteiligungen (ÖBAG) werden gerecht verteilt.
Dass die Regierung - soll heißen: die Regierungsparteien - staatliche Spitzenpositionen besetzt, ist in manchen Bereichen (Höchstgerichte) gesetzlich vorgesehen; in anderen (EU-Kommissar) politisch legitim; in dritten (Nationalbank, Finanzmarktaufsicht, Beteiligungen) schlechte Tradition. Immerhin wird an einer Stelle des Sideletters explizit festgehalten, "dass alle Besetzungen auf Basis von Kompetenz und Qualifikation erfolgen". Die Öffentlichkeit wird die Regierungsparteien und die kommenden Jobanwärter umso strenger daran messen. Im Verfassungsgerichtshof setzte Türkis-Grün mit Präsident Christoph Grabenwarter und Vizepräsidentin Verena Madner im Jahr 2020 jedenfalls untadelige Personen ein.
Dass der türkis-grüne Sideletter auch die Vergabe von Top-Jobs im ORF regelt, ist hingegen schlicht rechtswidrig. Laut Paragraf 22 des ORF-Gesetzes wird der Generaldirektor vom Stiftungsrat des Rundfunks "gewählt", laut Sideletter allerdings von der ÖVP "festgelegt". Dazu vereinbarten die Parteien, jeweils zwei Vorstandsdirektoren zu stellen. Der ORF-Redakteursrat zeigte sich "empört" ob "der Dreistigkeit" der Parteien bei der "Postenschacherei". In einem Interview mit der "Kleinen Zeitung" hatte Werner Kogler im Mai 2021 die Existenz eines Sideletters zum ORF glatt abgestritten. Die geheime Vereinbarung, die es gar nicht gibt, hielt. Seit Jahresbeginn ist die neue Geschäftsführung im Amt. Die Direktoren unter Generaldirektor Roland Weißmann gelten zwar als kompetent. Mit der Punze der parteipolitischen Besetzung müssen sie allerdings leben.
Nebenabreden gibt es bei nahezu jeder Regierungsbildung, auf Bundes- und Landesebene. Die diesbezügliche Empörung von SPÖ-Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch ("kaltschnäuziger Machtmissbrauch") wirkt daher einigermaßen scheinheilig. Peinlich sind die Enthüllungen allemal.
Die Nebenabsprachen seien für die Grünen "markenschädigend", schrieb die "Kleine Zeitung". Grünen-Chef Werner Kogler habe "seine Basis hintergangen", kommentierte der "Standard".
Sideletter als türkises Laster
Der Vizekanzler gab sich via Kurznachrichtendienst "Twitter" zerknirscht: "Ich verstehe alle, die finden, wir Grünen sind in der Form hinter unseren eigenen Ansprüchen zurückgeblieben - das sehe ich auch und das tut mir leid." Große Reue zeigte Kogler ansonsten nicht. Die Sideletter stellte er als türkises Laster dar, dem die Grünen trotz aller Transparenzbemühungen nicht beigekommen wären. Mit Sebastian Kurz, so Koglers Rechtfertigung, sei keine andere Form der Politik möglich gewesen. Aus türkisen Reihen heißt es dagegen, Kogler hätte sich seinerseits in den Koalitionsverhandlungen schon sehr früh nach den zukünftigen Jobs für Grüne erkundigt.
Und solche wurden seither im Dutzend vergeben. Umwelt- und Infrastrukturministerin Leonore Gewessler installierte grüne Gefolgsleute in den Aufsichtsräten von Austro-Control und Brenner-Basistunnel. Einer der zwei Geschäftsführer der staatlichen Cofag - sie wickelt die Corona-Hilfen für die Unternehmen ab - war einst im grünen Parlamentsklub tätig. (Der zweite war Kabinettsmitarbeiter im türkisen Finanzministerium.)Werner Koglers Ex-Kabinettschef, der frühere Grünabgeordnete Dieter Brosz, wurde zum Abteilungsleiter in der von Kogler verantworteten Sportsektion ernannt. Freilich war er von einer internen Kommission als bester Kandidat bewertet worden. Alles normal, solange die Qualifikation stimme, heißt es dazu aus der ÖVP.
In einem Blogbeitrag verteidigt der Voralberger Grüne Johannes Rauch, selbst Landesrat in einer Koalition mit der ÖVP, die nun enthüllten Sideletter. Nebenabsprachen wären "für das Funktionieren einer Koalition entscheidend, insbesondere dann, wenn die Partner ungleich groß sind". Andernfalls könnte der größere Partner "jedes Detail, von dem im Koalitionsvertrag nicht die Rede ist, im Alleingang bestimmen". Und Werner Kogler sagt: "Wir waren zwar neu in der Regierung, aber nicht naiv."
Ohne Sideletter hätte die ÖVP alle Positionen, auch im ORF, besetzt. Stattdessen dürfen jetzt die Grünen den nächsten Stiftungsratsvorsitzenden des ORF stellen.
Folgt man Kogler und Rauch, ist die grüne Heimlichtuerei um die Nebenabreden ein Nachweis politischer Professionalität. Ganz falsch liegen sie damit nicht. Ohne Realitätssinn ist eine Regierungsbeteiligung nicht möglich. Eine Kleinpartei, die Pragmatismus ablehnt, verspielt ihre Politikfähigkeit. Vollkommen grün grünt es nur in der Theorie.
In Wien mussten dies die Ökos auf die harte Tour lernen. Von 2010 bis 2020 saßen sie in der Stadtregierung. Parteichefin Maria Vassilakou war Vizebürgermeisterin und Stadträtin für Stadtentwicklung und Verkehr. In dieser Funktion trug sie unter anderem die umstrittene Stadtstraße in Wien-Donaustadt mit. Mit Vassilakous Abgang 2019 war der grüne Pragmatismus Geschichte. Ihre Nachfolgerin, Birgit Hebein, verstand Politik nicht als die Kunst des Möglichen, sondern wollte Unmögliches durchsetzen: etwa eine autofreie Innenstadt gegen den Willen des Bürgermeisters. Nach der Wahl 2020 suchte sich Michael Ludwig einen neuen Partner, die NEOS. Die Wiener Grünen können sich nun in der Opposition wieder der reinen Lehre widmen.
Im Grunde sind die Regeln der Politik einfach: Wer alles will, riskiert, am Ende nichts zu haben. So sah das wohl auch Werner Kogler bei den Koalitionsverhandlungen. Der ÖVP überließen die Grünen das weite Feld aus Zuwanderung, Integration und Asyl. Für sich beanspruchten sie Gestaltungsfreiheit in der Umweltpolitik. Diesen Pragmatismus ihrer Parteispitze haben Teile der grünen Basis bis heute nicht überwunden.
Faule Kompromisse?
Der Kompromiss ist ein Hauptmechanismus in der Politik, in der grünen Welt gilt er aber oft als faul. Erklärbar ist dies durch die Sozialisation vieler grüner Politikerinnen und Politiker in zivilgesellschaftlichen Bewegungen wie Umweltschutzorganisationen oder Menschenrechtsgruppen. NGOs können maximale Forderungen ohne große Rücksicht auf fremde Interessen stellen. Ihre politische Funktion ist die forsche Anklage, nicht das zähe Ringen um Lösungen. Der Wechsel aus einer NGO in die parlamentarische Opposition fällt da leicht. Die bisherige private Tätigkeit wird mit einem offiziellen Mandat fortgesetzt. Der Umstieg von der eingeübten Opposition in ein Regierungsamt ist dagegen ein mühsamer Prozess. Einziger Trost: Umgekehrt ist es auch nicht leicht. Die SPÖ musste die Oppositionsarbeit auch erst lernen.
Wer "Anstand" plakatiert, erntet Häme, wenn er bei einer Sünde erwischt wird. Gemessen an den hohen moralischen Standards, die sie von anderen erwarten, sind die Grünen kolossal gescheitert. Die Bürgerinnen und Bürger erteilen Kogler & Co allerdings die Absolution. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitut Unique research lehnen nur 24 Prozent der Befragten Nebenabsprachen als "alten Politikstil" ab.