Die Lehrer-Protokolle: „Wir schaffen es nicht mehr!“
Von Clemens Neuhold
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Donnerstag, 17. Oktober, 17 Uhr. Nur sechs Wochen nach Schulbeginn reicht es Hunderten Lehrerinnen und Lehrern schon wieder. Sie versammeln sich vor der Wiener Bildungsdirektion im 1. Bezirk und machen ihrem Ärger mit Plakaten Luft: „Wir schaffen das nicht mehr!“, „Leerermangel gäferdet unsäre Zugunvt“, „Wann streiken wir endlich vormittags?“
Wir haben in den Tagen danach Lehrerinnen und Lehrer befragt, was sie brauchen, damit sie ihren Job besser bewältigen können. Es sind Protokolle, die wohl auch Kolleginnen und Kollegen aus Graz, Linz, Wels oder Salzburg unterschreiben würden. Sie bezeugen ein multiples Systemversagen in städtischen Schulen. Im Zentrum steht die Hauptstadt, die seit Jahren wächst und wächst. Die am Sprung zur Metropole aber übersehen hat, wie ihre Pflichtschulen zu sozialen Auffangbecken werden, in denen der Unterricht im klassischen Sinn zum Nebenschauplatz geworden ist.
Der Bund und die Stadtpolitik versprechen seit Jahren Abhilfe. Durch administratives Unterstützungspersonal, Schulpsychologen, Sozialarbeiter – Entlastungswellen, von denen die Lehrkräfte nicht viel bemerkt haben. Viel Zeit scheint nicht mehr zu bleiben. Denn nun ist auch in den Kindergärten Personalnot ausgebrochen. Genau dort, wo das sprachliche und kognitive Fundament gelegt werden müsste, damit die Pflichtschule nicht kippt.
„Zieh dich anständig an, du Hure!“
Elfriede*, Mittelschule
Ich unterrichte schon seit vielen Jahren in einer sogenannten Brennpunktschule jenseits der Donau die Fächer Mathematik und Sport. Das Unterrichten an meiner Mittelschule ist vor allem in den letzten Jahren immer schwieriger geworden. Seit den Schulschließungen wegen Corona und dem damit verbundenen Homeschooling sind Leistungswille, Leistungsbereitschaft und Leistungsniveau der Schüler:innen gesunken.
Seit der Flüchtlingswelle aus Syrien bekommen wir Kinder in die Schule, die kein Deutsch sprechen. Es gibt auch welche, die noch nie in einer Schule waren. Diese Kinder beherrschen oft nicht einmal die Grundrechnungsarten, werden aber ihrem Alter entsprechend eingeschult. Sie besuchen dann 20 Stunden in der Woche die Deutschklasse und verbringen nur wenige Stunden in ihrer Stammklasse. Wenn sie doch im Mathematikunterricht anwesend sind, können sie dem Unterricht kaum folgen. Das führt zu Frustration, Leistungsverweigerung und Störung des Unterrichts.
Außerdem machen uns vermehrt muslimische Schüler:innen das Unterrichten schwer. Und zwar jene, die sich respektlos gegenüber Lehrer:innen verhalten oder muslimische Mitschülerinnen ohne Kopftuch beschimpfen. Mit Worten wie: „Zieh dich anständig an, du Hure!“
Ansprechen? Dagegen vorgehen? Dabei hab ich mich verbrannt bei einer Schülerin, die sich irgendwann doch verhüllte. Sie meinte, ich solle sie in Ruhe lassen. Das sei freiwillig. Eine Schuluniform ohne Kopftuch hielte ich mittlerweile für angemessen.
Mädchen, die Kopftuch tragen, verweigern im Sportunterricht manchmal Sportkopftücher. Die eigenen aufzubehalten, ist aber wegen der Nadeln und Knoten nicht erlaubt. Vom Schwimmunterricht werden sie immer wieder entschuldigt von den Eltern. Selbst in den Musikunterricht kann die Religion hineinspielen, wenn Schüler meinen: „Singen ist im Islam verboten.“
Es gibt insgesamt einfach zu viele verhaltensoriginelle, gewaltbereite, destruktive Unruhestifter, die alle anderen lieben, netten Mitschüler:innen am Lernen hindern. Dagegen sind fehlende Zirkel, Bleistifte oder Radiergummis ja schon Kleinigkeiten. Man teilt es den Eltern via SchoolFox mit, gerne auch in ihre Muttersprachen übersetzt. Und trotzdem fehlt schon einmal der Hefteinband bis zum Jahresende.
Was wir brauchen: Eltern, die Deutsch verstehen, wenn wir über ihre Kinder sprechen. Weniger Kinder und mehr Raum pro Klasse, weil sonst der Aggressionspegel weiter steigt. Mehr Beratungslehrer bei Fällen von Gewalt, Mobbing und anderen Auffälligkeiten. Ein Gesetz, das es uns ermöglicht, die Handys einzusammeln. Und ein Schulverwaltungssystem (WiSion), das sich nicht ausgerechnet dann aufhängt, wenn wir es am dringendsten brauchen. Wir gehen ohnedies schon in einer Datenflut unter, die wir eintragen müssen.
* Diese Lehrer:innen wollen anonym bleiben.
„Das System nähert sich der Bruchlinie“
Nina K., Elli R., Karin K., Lilly G., Hertha H.*
Wir sind fünf befreundete Lehrerinnen aus Volksschulen in Wien-Liesing im Alter von 22 bis 59 Jahren. An unseren Schulen sprechen rund 70 Prozent der Kinder daheim nicht Deutsch. Bis zu 16 Kinder pro Klasse sind als „außerordentlich“ eingestuft. Das heißt: Sie werden die Klasse wegen zu geringer Deutschkenntnisse wiederholen. Auch die sozialen, kulturellen und religiösen Herausforderungen in Zusammenhang mit der Migration nehmen überhand.
Die Berufsneulinge unter uns waren erschrocken über die hohe Zahl an verhaltensauffälligen Kindern. Sie mussten feststellen, dass sie in ihrer Ausbildung darauf nicht vorbereitet wurden. Man merkt schon in jungen Jahren: Du bist der Puffer der Gesellschaft, der ständige Überlastung aushalten muss. Die Ganztagsschule soll es richten. Aber weil die Konzentration vieler Kinder so lange nicht reicht, werden Unterricht und Gangaufsicht am Nachmittag zum ultimativen Härtetest. Das ist den älteren Kolleg:innen unter uns kaum noch zuzumuten.
Doch auch die Jüngsten fühlen sich allein gelassen. Die 22-Jährige unter uns bekam zwei Jahre keinen Dienstvertrag und über ein Jahr lang ein zu niedriges Gehalt. Sie fühlte sich wie ein Fremdkörper, als sie bei der Bildungsdirektion nachfragte und keine Antwort bekam.
Du holde Bürokratie. Was uns alles aufgebürdet wird an Evaluierungen, Sonderförderungen, Bildungsstandard-Checks und Budgetplanungen. Wir sind Lehrerinnen und würden bitte gerne unterrichten. Das Internet verbessert Abläufe nicht, sondern macht uns nur noch mehr Arbeit. Was wir früher nur händisch ausfüllten, muss jetzt auch online dokumentiert werden. Die Kommunikation mit den Eltern hat sich verschlechtert. Daran ändert auch die Handy-App SchoolFox nichts, wenn Eltern die sprachliche Basis oder das Interesse am Austausch mit uns fehlt.
Junglehrer:innen, die nach kurzer Zeit erschöpft aufgeben, oder erfahrene Lehrkräfte, die ihren Beruf nicht mehr aushalten – das System nähert sich der Bruchlinie. „Ich habe keine Vorstellung, wie ich es körperlich und psychisch noch bis zur Pension aushalten soll“, sagt die 59-Jährige unter uns.
Wir sind ein rohstoffarmes Land, dessen Wohlstand von der Leistungsstärke seiner Bürgerinnen und Bürger abhängt. Es ist uns völlig unverständlich, wie wenig wir aus dem Rohstoff „Brain“ schöpfen, indem wir das Fördersystem Schule so vernachlässigen.
Was wir brauchen: Sozialarbeiter, Beratungslehrer und Buddys für Junglehrer:innen. Mehr Schulautonomie bei Konsequenzen für gewaltbereite Kinder. Mehr Personal in völlig überfüllten Integrationsklassen. Ansprechpartner in der Bildungsdirektion für Gehälter oder Dienstverträge. Religion raus aus der Schule. Verpflichtende Elterngespräche. Und Direktorinnen oder Direktoren, die nicht nach Parteibuch, sondern Qualifikation bestellt werden.
„Schlecht bezahlter Akademikerjob“
Jan Oberhauser, Realgymnasium, 1040 Wien
Ich bin zufrieden im Job, weil ich die richtige Schule mit einem guten Klima und einem Kollegium gefunden habe, das zusammenhält. Das hilft sehr, wenn andere Stellen versagen und die bürokratischen Mehrbelastungen immer mehr werden. Unsere Schule ist auch sehr gut durchmischt. Deutsch als Unterrichtssprache ist kein großes Problem.
Wir kämpfen mit anderen Problemen. Eines davon ist die unterbesetzte Bildungsdirektion. Ich kenne Kollegen, die Jahre, wenn nicht Jahrzehnte auf Dienstverträge oder die Anrechnung von Vordienstzeiten warten. In der Zwischenzeit gehen wir in administrativen Aufgaben unter. Unterricht kann so fast zur Nebensache werden.
Das Bild vom gechillten Halbtagsjob mit langen Ferien stört mich deswegen massiv. Wäre das so, wir hätten keinen Lehrermangel. Lehrer ist ein schlecht bezahlter Akademikerjob mit langem Studium, hohem Stresslevel und entsprechender Drop-out-Quote. Man geht am Zahnfleisch. Die Lehrer-Lücke mit Quereinsteigern und Studenten zu füllen, davon halte ich wenig. Weil es auf die Qualität geht.
Was wir brauchen: Mehr Wertschätzung, mehr Unterstützungspersonal und eine Bildungsdirektion, die für uns arbeitet.
„Wir schaffen das nicht mehr“
Arash Taheri, Volksschule, 1220 Wien
Lehrer wollte ich schon mit 18 werden. Doch erst im Alter von 30 traute ich es mir zu, mit 25 oder mehr kleinen Menschen in der Klasse zu stehen, die mir anvertraut werden. Meine Ideale damals: sie zu guten, mündigen Bürgern zu machen und sie gut in die Gesellschaft zu integrieren. Diese romantische Idee ist rasch an der Realität zerschellt: an Eltern, die ihre Erziehungspflicht auf uns abwälzen; Kindern, die aus dem Kindergarten weder Grundfertigkeiten in Deutsch noch im Schneiden mit der Schere mitbringen; einer Schulbehörde, die nicht erreichbar ist.
Deswegen engagiere ich mich in der Fraktion Christlicher Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter (FCG) für Berufseinsteigerinnen und Berufseinsteiger. Diese berichten mir von verbaler oder körperlicher Gewalt gegen Lehrer:innen oder andere Kinder. Eine befreundete Kollegin ist beinahe ins Burnout geschlittert, nachdem sie über einen längeren Zeitraum von Schüler:innen massiv beleidigt und ihr auch noch körperliche Gewalt angedroht wurde.
Aus meinem Bachelor-Lehrgang kenne ich fünf Personen, die tatsächlich im Burnout gelandet sind oder deswegen den Beruf gewechselt haben. Wenn man nach den Gründen für den Lehrer:innen-Mangel sucht: Das ist einer. Der Familiennachzug, zum Beispiel aus Syrien, beansprucht manche Kolleg:innen ebenfalls sehr. Alter und Bildungsgrad passen oft gar nicht zusammen. Dennoch kommt es vor, dass zehn-jährige Kinder, die aus Flüchtlingslagern zu uns kamen, in eine 3. oder 4. Klassen gesetzt werden – ohne je eine Schule von innen gesehen zu haben.
Bei all diesen Herausforderungen sollte die Betreuung durch den Dienstgeber passen. Doch das tut es offenbar nicht. Viele Lehrer:innen warten nach Monaten und Jahren auf Dienstverträge, die Anrechnung von Vordienstzeiten oder gar einzelne Gehälter.
Was wir brauchen: Mehr Unterstützung bei allen Aufgaben, die nichts mit dem Unterrichten zu tun haben. Eine Schulbehörde, die erreichbar ist und uns betreut. Ein härteres Eingreifen bei Mobbing, Gewalt und politischer und religiöser Radikalisierung. Mehr Schutz für Lehrer:innen vor Übergriffen. Kinder, die im Kindergarten ausreichend Deutsch gelernt haben. Und eine Ausbildung, die nicht nur auf die Theorie, sondern auf diese harte Realität vorbereitet.
„Integrieren müssen sich bei uns die Österreicher“
Martin*, Mittelschule, Wien-Favoriten
Ich unterrichte seit rund zehn Jahren Deutsch, Geografie und Geschichte in einer Mittelschule in Wien-Favoriten, die eigentlich nicht in die Kategorie „Brennpunktschule“ fällt. Dennoch ist das Sprachniveau so schwach, dass uns viele im Unterricht nicht folgen können. Kids mit Migrationshintergrund sind die absolute Mehrheit. Über den Familiennachzug kamen laufend Syrer dazu. Sie reden untereinander Arabisch. Worüber? Das verstehen wir nicht. Die Mädchen tragen Kopftuch oder noch traditionellere muslimische Gewänder.
Integrieren müssen sich bei uns eher die paar verbliebenen „autochthonen“ Österreicher. Das heißt auch: an das niedrige Niveau anpassen. Vom Stoff her kommen wir über das Volksschul-niveau nicht weit hinaus. Sofern wir überhaupt zum Unterrichten kommen. Denn abgesehen von der regulären administrativen Last nimmt die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt oder mit Eltern von renitenten Schülern viel Zeit in Anspruch.
Was wir brauchen: Psychologen, Sozialarbeiter, Übersetzer. Ich bin gespannt, wann die von der Stadt angekündigten „multiprofessionellen Teams“ endlich kommen. Wir selbst müssen ernsthaftere Konsequenzen setzen können, wenn Schüler und Eltern nicht kooperieren. Es ist zwar jetzt schon möglich, Gefährdungsmeldungen abzugeben und sogenannte Schulkooperationsteams (in unserem Fall ist das eine Person) zu Hilfe zu holen. Das machen wir aber nur im absoluten Härtefall, wenn rohe Gewalt im Spiel ist.
Denn das bedeutet viele Stunden Extra-Arbeit für uns und Frust, wenn sich nichts ändert. Die Eltern sind oft genauso überfordert wie wir Lehrer. Es bräuchte deswegen für auffällige Schüler eigenes Personal an der Schule, das sich gesondert darum kümmert.
Was mich an meiner Schule hält, sind die Kollegen. Ich gebe mir noch zwei Jahre, dann möchte ich den Bezirk wechseln.
„Schaue, dass sich Kinder nicht verletzen“
Elfriede Menger (58), Sonderschullehrerin, Volksschule
Als Sonderschul- und Sprachheilpädagogin kümmere ich mich in Wien-Liesing um Kinder mit Sprachstörungen. Sie sind oft intelligent, werden aber für dumm gehalten, gehänselt und haben einen traurigen Leidensweg vor sich. Ich liebe es, wenn ich das durch meine Arbeit verhindern kann. Das geht aber nicht, wenn 70 Prozent der Kinder in der Integrationsklasse verhaltensauffällig sind.
Wenn diese Kinder nicht nur unter Sprachstörungen leiden, sondern auch unter ADHS, Autismus oder anderen psychischen Problemen, wechselst du vom Lehrer zum Dompteur. Und schaust, dass sich Kinder nicht verletzen. Es bräuchte für Kinder mit ADHS oder Autismus eigene Kleingruppen. Aber dafür fehlt das Personal. Es werden ja sogar speziell geschulte Sonderpädagoginnen in reguläre Klassen oder Deutschförderklassen abgezogen, weil diese sonst unbesetzt blieben.
Ein Grund für die wachsende Zahl an verhaltensauffälligen Kindern in Integrationsklassen ist sicher das Handy. Eltern reden kaum noch mit ihren Kleinen im Kinderwagen, weil sie selbst am Mobiltelefon hängen. Sie missbrauchen das Handy auch als Ersatzbabysitter. Und sie erlauben später Spiele oder andere Inhalte, die nicht für die Kinder geeignet sind und sie verstören.
Das können wir Lehrer dann kaum noch ausgleichen. Vor allem dann nicht, wenn wir unzählige Stunden mit der Schulverwaltung verbringen und jede Stunde neue SchoolFox-Nachrichten von Eltern am Handy landen.
Was wir brauchen: Der Bereich Sonderpädagogik und Sprachheilpädagogik sollte wieder stärker und früher in der Ausbildung verankert werden. Und dieses Personal soll dann nicht gleich wieder abgezogen werden aus den Integrationsklassen. Außerdem brauchen wir mehr Unterstützung von Psychologen, Sozialarbeitern, Ergotherapeuten.
„Im 21. Jahrhundert ankommen“
Josef Rabitsch, Schottengymnasium, 1010 Wien
Eine erfolgreiche Unterrichtsstunde gibt unheimlich viel Energie. Das Gefühl, den Schüler:innen etwas mitzugeben, das sie nicht nur schulisch weiterbringt, sondern sie auch persönlich formt, ist unbeschreiblich. Die vielen „ersten Male“ stellen die Nervenkostüme von Junglehrer:innen aber ganz schön auf die Probe. Ich unterrichte mein zweites Jahr Musik. Ich werde an meiner Schule sehr gut unterstützt. Zum Glück. Denn absurderweise lernen Lehramtsstudierende Dinge wie Schulrecht, Schulorganisation oder Elternkommunikation erst, wenn sie längst in der Klasse stehen und wöchentlich unterrichten.
Ohne einen Schwerpunkt auf kommunikative, gruppenpsychologische, zwischenmenschliche und rhetorische Skills in der Ausbildung ist es kein Wunder, wenn manche überfordert sind und bereits in den ersten Jahren kündigen.
Was wir brauchen: Was brauchen die Schüler:innen? Einen Lehrplan des 21. Jahrhunderts, der den Umgang mit Finanzen, Steuern, Politik viel stärker gewichtet. Und Lehrer:innen, die von der Gesellschaft noch mehr wertgeschätzt werden – nicht nur finanziell.
Clemens Neuhold
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.