Die Linke und der Weltkrieg

Die Linke und der Weltkrieg - das Scheitern der Friedensparteien

Zeitgeschichte. Das spektakuläre Scheitern der Friedensparteien

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Die Tagesordnung des sozialdemokratischen Parteivorstands vom 9. Juli 1914 war dicht. Genosse Hackenberg, Parteisekretär in Brünn, wollte eine Lohnerhöhung, in Vorarlberg war der Gewerkschaftskassier mit dem Geld durchgebrannt, in Hernals stritten Parteijugend und „Arbeiter-Zeitung“ um ein Gassenlokal. Einige Kandidaturen für die nächsten Wahlen waren auch noch zu klären.

Die erste Vorstandssitzung nach der Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Frau verlief bei Österreichs stärkster Parlamentspartei also routinemäßig. Der Anschlag und seine möglichen Folgen kamen nicht zur Sprache.

profil konnte jetzt die Protokolle der entscheidenden Sitzungen der österreichischen Sozialdemokraten in den letzten Friedenswochen des Jahres 1914 einsehen. Der Befund ist verblüffend: Die Spitze der großen Friedenspartei erkannte den Ernst der Lage viel zu spät.
Dabei saßen in ihren Gremien Säulenheilige der österreichischen Geschichte: Victor Adler etwa, der 25 Jahre zuvor die noch fragmentierte Partei geeint hatte; Karl Renner, Gründungskanzler zweier Republiken, Karl Seitz, Bürgermeister des „Roten Wien“, Otto Bauer, Vordenker des Austromarxismus. Nach fast allen SDAP-Vorstandsmitgliedern des Jahres 1914 – Eldersch, Winarsky, Reumann, Glöckel, Pernerstorfer – sind heute in Wien Gassen, Plätze oder zumindest ein Gemeindebau benannt.
Dennoch unterschätzten sie bis zuletzt die Gefahr eines Weltkrieges. Als der österreichische Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf im Mai 1914 mit seinem deutschen Vis-à-vis Helmuth von Moltke in Karlsbad bereits den Zeitplan des Aufmarsches besprach, diskutierte die Führung der Sozialdemokraten über Gehaltsvorschüsse für AZ-Redakteure und Grußadressen an Schwesterparteien.

Kein einziges wichtiges Amt in Staat oder Armee
Wieso diese Blindheit? Es gibt dafür mehrere Gründe. Die Sozialdemokraten besetzten, obwohl stärkste Fraktion, kein einziges wichtiges Amt in Staat oder Armee. Der Reichsrat war im März 1914 verjagt worden, sie waren von Informationen weitgehend abgeschottet. Nur ein Mal standen sie dem Kaiser gegenüber – nach den ersten allgemeinen Wahlen 1907 (wählen durften Männer ab 24). Franz Josef wollte die Gestalten einmal aus der Nähe sehen, die da nun politisch mitspielten. In der „bürgerlichen Öffentlichkeit“ gab es die Arbeiterpartei nicht. In den Zeitungen wurde sie totgeschwiegen.

Aber möglichweise verdrängten die roten Granden die Wirklichkeit, weil sie wussten, dass ein Aufstehen gegen die kriegsgeile Staatsgewalt und den freudigen Taumel im Volk ihre Kräfte übersteigen würde. Die „Arbeiter-Zeitung“ berichtete ja durchaus engagiert über das Waffengeklirre in allen Ecken Europas, vor allem in Österreich-Ungarn. „Wir geben halb so viel für die Rüstung aus wie das Deutsche Reich, Österreichs Nationalprodukt macht aber nur ein Sechstel aus“, schrieb das Parteiblatt im Mai 1914: „Müssen wir denn Großmacht spielen zum Preis von Armut und Hunger?“ Als die k. u. k. Marine kurz darauf vier Schlachtschiffe und dutzende Kanonenboote bestellte, hielt die AZ heftig dagegen: Man habe die kürzeste Küste, keine Kolonien, einen schwachen Seehandel und könne trotz Aufrüstung keinen Krieg zur See führen. Also wozu das alles?

Zu Aktionen gegen den zunehmenden Wahnsinn konnten sich weder die Sozialdemokraten in Deutschland noch jene in Österreich durchringen. Dabei war der Kampf gegen den Krieg in den genetischen Code der politischen Linken eingeschrieben. Karl Marx hatte 1864 in London die erste „Internationale“ gegründet, den Dachverband, unter dem sich in allen Ländern Arbeiterparteien konstituieren sollten. Der Leitgedanke: Nicht die nationale Zugehörigkeit sei entscheidend, sondern jene zu einer sozialen Klasse. August Bebel, Gründervater der deutschen Sozialdemokratie, brachte das auf die Formel: „Der Proletarier hat kein Vaterland.“ Er wird also nicht gegen andere Proletarier Krieg führen, so die schöne Theorie.
Die Marx-Internationale zerbrach zwölf Jahre nach ihrer Gründung an innerem Zank mit den Anarchisten. 1889 wurde auf Anregung von Friedrich Engels die zweite Internationale gegründet. Auch ihr ging es um den Kampf gegen Kolonialismus und Wettrüsten. Stehende Heere sollten durch Volksmilizen ersetzt werden.

Akut wurde die Kriegsgefahr, als Großmächte und Balkanstaaten um die von den vertriebenen Osmanen hinterlassene Beute zu streiten begannen. Österreich hatte sich schon 1878 Bosnien geschnappt, das es 1908 formell annektierte. Serbien, Bulgarien und Griechenland rangen 1913 in einem blutigen Krieg um den Rest.

Regelmäßig hielt die Internationale nun große Konferenzen gegen eine weitere Eskalation ab. Bei der Konferenz in Kopenhagen 1910 konnte man sich nicht darauf einigen, ob der Massenstreik zur Verhütung von Kriegen tauge. Nein, sagten die Kritiker: Die Staatsmacht würde die Streikenden einfach zerschmettern. Der russische Emigrant Wladimir Iljitsch Uljanow, Kampfname Lenin, und die deutsche Sozialdemokratin Rosa Luxemburg brachten einen Kompromissantrag durch: Jede Partei habe das Recht, das ihr am wirksamsten erscheinende Mittel zu wählen. Lenin verstand darunter die Revolution.

Das Befinden der Gattinnen
Rosa Luxemburg ging den Herren in der deutschen SPD mit ihrer ständigen Forderung nach Massenstreiks auch zu Hause in Berlin mächtig auf die Nerven. Karl Kautsky, in der SPD-Führung eher ein Zentrist, ätzte in seinen Briefen an den österreichischen Parteivorsitzenden Victor Adler oft über „unsere Rosa“. Adler gab ihm völlig recht: Hysterisch sei sie.
Im Frühjahr 1914 korrespondierten Adler und Kautsky regelmäßig – die Kriegsgefahr kam in ihren Briefen nie zur Sprache. Der 62-jährige Adler litt an chronischem Asthma und gab seine Briefe oft in Kurorten wie Mentone, Monte Carlo oder Bad Nauheim auf. Meist ging es darin um Krankheiten, um das Befinden der Gattinnen (Kautskys Frau war an Typhus erkrankt) oder um theoretische Artikel, die man vom jeweils anderen erbat oder die man kommentierte.

Der Kongress der Internationale 1914 sollte Ende August im Wiener Musikverein stattfinden. Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren. Schon Anfang Juli waren alle Unterlagen gedruckt, das Programm fixiert: jeden Tag mehrstündige Kommissionssitzungen, ein Marsch über die Ringstraße, Gartenfest im Dreherpark, Ausflug auf den Kahlenberg. Nach Abschluss der Tagung sollten die Delegierten fakultativ auf den Semmering oder Schneeberg fahren, oder mit dem Schiff in die Wachau. Organisiert wurde die Konferenz von Adlers 36-jährigem Sohn Friedrich, der als Parteisekretär angestellt war.

Als der Parteivorstand am 23. Juli in der Zentrale an der Rechten Wienzeile 97 in Wien-Margareten zusammentrat, war gerade Österreich-Ungarns 48-Stunden-Ultimatum an Serbien übergeben worden. Dass die Serben die darin enthaltene Forderung akzeptieren würden, österreichische Polizei in Belgrad ermitteln zu lassen, war praktisch ausgeschlossen.
Friedrich Austerlitz, seit fast 20 Jahren Chefredakteur der „Arbeiter-Zeitung“, legte gleich zu Beginn der Sitzung ein Positionspapier der Partei vor, das er in der Ausgabe am Tag darauf veröffentlichen wollte: „Wir lehnen jede Verantwortung für diesen Krieg ab; feierlich und entschieden beladen wir mit ihr diejenigen, die ihn hüben wie drüben angestiftet haben.“ Darin wisse man sich auch mit den Sozialdemokraten Serbiens einig, hieß es in einem Aufflackern des Internationalismus. Eine Passage, in der die Mitschuld Serbiens hervorgehoben wurde, entfernte man nach längerer Debatte.

Drei große Versammlungen wurden beschlossen: eine im Arbeiterheim Favoriten, eine im Hotel Wimberger und eine in Ottakring.
Die Stimmung im Lande entsprach freilich nicht dem, was die Internationale immer gepredigt hatte. Auch den einfachen Mann erfasste nun der Taumel, die Künstler und Intellektuellen waren ohnehin Feuer und Flamme für den Krieg (siehe Kasten Seite 30). „Die kochende Volksseele verbrühte alle, die mit ihr in Berührung kamen. Statt dieser Stimmung entgegenzutreten, wie es ihre Pflicht gewesen wäre, war die Parteileitung geneigt, ihr Rechnung zu tragen“, schreibt der Historiker Fritz Kaufmann in seinem 1978 erschienenen Opus „Sozialdemokratie in Österreich“.

Als die Parteispitze zwei Tage später wieder zusammentrat, sagte sie die drei geplanten Versammlungen ab. In einem neuen Manifest wurden die Genossen aufgefordert, wenigstens die Parteiorganisation aufrechtzuerhalten. Eine Passage des von Otto Bauer formulierten Textes war höchst missverständlich: „Zeigt, dass es auch in unseren Reihen keine Fahnenflucht gibt! Dass auch die Männer des Klassenkampfes bis zum letzten Atemzug zu ihren Fahnen stehen.“ Bauer meinte wohl die Fahnen der Partei – aber wer wollte, konnte den Text auch anders lesen.

Tickets in die Schweiz
Zwei Tage später erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Einige gute Dienste konnte Parteichef Victor Adler durch seine Beziehungen noch leisten. Sein Genosse Lenin war von den österreichischen Behörden in Galizien als zaristischer Spion festgenommen worden. Adler klärte das Missverständnis auf und ermöglichte Lenins Ausreise nach Zürich. Auch dem russischen Wahlwiener Lew Bronstein, der jeden Abend im „Café Central“ Schach spielte, verschaffte er ein Ticket in die Schweiz. Als Trotzki sollte Bronstein eine Schlüsselfigur der Russischen Revolution werden.
Am 4. August stimmte der deutsche Reichstag über die Kriegskredite ab, also über die Grundlage des Krieges. Die Sozialdemokraten stimmten nach schweren inneren Diskussionen zu.

Als die österreichischen Genossen am nächsten Morgen ihre „Arbeiter-Zeitung“ aufschlugen, prallten sie zurück. „Der Tag des deutschen Volkes“ hatte Chefredakteur Friedrich Austerlitz seinen Leitartikel getitel. „In der Stunde, in der ein beträchtlicher Teil Europas zum Vernichtungskampf wider das deutsche Reich antritt“, gelte es, „bis zum letzten Blutstropfen“ Einigkeit zu zeigen. Die Sozialdemokratie „weiht dem Staat Gut und Blut der arbeitenden Massen“. Die Entente nannte der Sozialdemokrat eine „Schacherkoalition, der jede sittliche Idee fehlt“.

Umgehend wurde der Parteivorstand einberufen, um Austerlitz zur Rede zu stellen. Der 52-Jährige schüttelte die Kritik, vorgetragen vor allem von Friedrich Adler, einfach ab: Der junge Adler sei ein Parteiangestellter, von dem lasse er sich gar nichts sagen. Außerdem würde er jeden Buchstaben wieder so schreiben. Was hatte Austerlitz zu diesem Artikel bewogen? Er sei „wie das gesamte assimilierte Wiener Judentum in der Tradition eines deutschen Kulturnationalismus“ gestanden, meint der Historiker Wolfgang Maderthaner, Chef des Staatsarchivs. Austerlitz blieb ohne weitere Diskussionen bis zu seinem Tod 1931 im Amt.

Gegen Ende der Sitzung wurde berichtet, die Militärverwaltung sei an die klammen parteieigenen Hammerbrotwerke herangetreten und habe vier Waggons Zwieback bestellt. Mit nur einer Gegenstimme wurde beschlossen, das Militär zu beliefern.

In Briefen versicherten einander Karl Kautsky und Victor Adler in den Wochen nach Kriegsbeginn, mit ihrer Politik des „Burgfriedens“ richtig zu liegen. „Gewiss sind wir der Internationale Rücksicht schuldig“, schrieb Adler: „Aber die Partei zu ruinieren, nützt der Internationale auch nicht, ganz abgesehen davon, welchen Schaden wir anrichten durch eine schwankende Haltung.“

Im Oktober standen in Deutschland abermals Kriegskredite zur Abstimmung. Diesmal verweigerte der SPD-Abgeordnete Karl Liebknecht die Stimme. Er wurde aus der Partei ausgeschlossen. Adler schrieb an Kautsky: „Dieser Liebknecht und die zwei alten Weiber (er meinte Rosa Luxemburg und Clara Zetkin, die „Erfinderin“ des Internationalen Frauentags) üben direkt Landesverrat gegen die Partei, um sich im Ausland als die einzigen Gerechten darzustellen.“

Liebknecht und Luxemburg gründeten den Spartakusbund, der später in der Kommunistischen Partei Deutschlands aufging. Sie wurden im Jänner 1919 von rechtsradikalen Freikorps-Männern ermordet. Die KPD erreichte in der Weimarer Republik bei Reichstagswahlen fast die Stärke der SPD. Die Spaltung der Linken erleichterte Hitlers Machtübernahme maßgeblich.
Wie sehr in der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts dessen größte Katastrophe bereits angelegt war, zeigt eine damals unbedeutende Episode in Italien: Die Sozialisten feuerten den Chefredakteur ihres Parteiblatts „Avanti“, weil dieser im Oktober 1914 – Italien war noch neutral – für den raschen Kriegseintritt gegen Deutschland und Österreich Stimmung machte. Er hieß Benito Mussolini. Acht Jahre später war er der erste faschistische Regierungschef Europas.

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