Die Macht der Impfgegner-Masse
Guten Morgen,
ich möchte Sie in aller Früh nicht mit einem Buchstaben aus dem griechischen Alphabet belästigen, dessen Bezeichnung mit O beginnt. Dafür - schwer genug - mit einem Klassiker der philosophischen Weltliteratur und seinem Bezug zu Corona-Demos.
„Die Masse liebt Dichte. Sie kann nie zu dicht sein. Das Gefühl größter Dichte hat sie im Augenblick der Entladung“, schreibt Elias Canetti in „Masse und Macht“ im Jahr 1960.
„Dichtes Gedränge. 25.000 Teilnehmer bei größter Grazer Corona-Demo", schreibt die Kronen-Zeitung am 27.11.2021.
Was verdichtet sich hier, bis zu welchem - womöglich explosiven - Punkt? Canettis Schlüsselwerk zum Verständnis moderner Gesellschaften wird im Klappentext alle zehn Jahre zur Lektüre empfohlen. Zu Recht. Wenn heute rationale Erklärungen fehlen, warum sich bei Corona-Demos Klangschalen-Therapeutinnen mit Neonazi Gottfried Küssel zu einer Masse verdichten, hilft Canetti:
„Die Masse braucht eine Richtung. Die Richtung stärkt das Gefühl von Gleichheit. Ein Ziel, das außerhalb jedes einzelnen liegt und für alle zusammenfällt, treibt die privaten, ungleichen Ziele, die der Tod der Masse wären, unter Grund.“
Fast 30 Prozent massiv gegen Impfpflicht
Bisher hieß die Richtung der Demozüge: Gegen die Impfung. Für die Freiheit. Nun hat die Regierung klipp und klargestellt: Daraus wird nichts. Ab 1. Februar gilt die Impfpflicht. Als Horrorszenario für Impfgegner stand sie immer im Raum, vehement dementiert von allen Regierungsmitgliedern. Nun, wo sie Realität wird, heißt die neue Richtung der Demozüge: Gegen die Impfpflicht. Und man kann derzeit live beobachten, wie die Masse dadurch größer und dichter wird. Die Straße hat eine beachtliche Rückendeckung. In der aktuellen profil-Umfrage finden 29 Prozent die Impfpflicht „absolut falsch“.
"Der äußere Angriff auf die Masse kann diese nur verstärken." (Canetti)
Die Impfpflicht ist der Generalangriff. Gestartet wird er heute, Dienstag, mit dem sehr österreichischen zeremoniell eines „Runden Tisches“ im Bundeskanzleramt, zu dem Verfassungsministerin Karoline Edtstadler Politiker und Experten lädt. Laut Gesetzesentwurf, der durchsickerte, soll die Impfpflicht ab zwölf Jahren gelten. „Hände weg von unseren Kindern“, ist das beliebteste Transparent der Demonstranten. Man spürt förmlich die Verdichtung. Bei Verstößen gegen die Impfpflicht drohen empfindliche Geldstrafen. Im Extrem-Fall bis zu 7200 Euro, mehrmals pro Jahr. Droht auch Gefängnis, wenn nicht gezahlt wird? Und die vielleicht heikelste Frage: Dürfen Ungeimpfte weiter arbeiten?
Der Industriellenvereinigung wird mit Blick auf die Masse ungeimpfter Arbeitskräfte bereits mulmig. Sie warnte in einem ersten Statement deutlich.
Der Regierung ist viel Glück zu wünschen bei dem Unterfangen, Menschen zu etwas zu zwingen, wogegen sie sich vehement sträuben. Verstehen Sie mich nicht falsch - es gibt auch verdammt gute Argumente für eine Impfpflicht, wie seit Monaten in profil ausgeführt. Doch die möglichen Risiken und Nebenwirkungen sollte die Regierung am Radar haben. "Wenn ich nicht mehr arbeiten darf, steck ich mich eben absichtlich an und bin dann ein Genesener", kommentiert ein Impfgegner auf Facebook.
„Nur der Zuwachs der Masse verhindert ihren Zerfall." (Canetti)
Das - auch international viel beachtete - Vabanque-Spiel der Regierung geht auf, wenn die Masse der Impfgegner durch die Impfpflicht stärker abnimmt als ihre Dichte zunimmt; wenn es keine Revolten, Anschläge gibt und sich mehr Menschen dem Druck beugen als neue Mitstreiter zur Masse hinzuströmen. Oder die Zuflucht zum Totimpfstoff die Masse ausdünnt.
Einer Impfpflicht mit Seitentürln, Hintertürln?
Um ihnen die Angst vor der Masse nun wieder zu nehmen, die laut Canetti „am liebsten Häuser und Gegenstände zerstört“ und „das Feuer“ liebt, weil es „weithin sichtbar ist und andere anzieht“: Es kann auch ganz anders kommen. Nämlich klassisch österreichisch, mit einer Impfpflicht samt Seitentürln und Hintertürln. So gesehen wäre der Runde Tisch im Kanzleramt ohne Ecken und Kanten bereits ein Indiz dafür.
Kaum ein Journalist des Landes spürt das typisch Österreichische an der Politik so zielsicher auf wie Gernot Bauer. „Bauer sucht Politik“ heißt seine neue Kolumne, die exklusiv auf profil.at erscheint. Fündig wurde er in der ersten Folge im Bundesrat, der laut Bauer nur deswegen noch nicht augestorben ist, weil er "verfassungsrechtlich unter Naturschutz" steht. In diesem Reservoir für politische Resteverwertung geht es zumalen derber zu als auf so mancher Corona-Demo, zeigt Bauers Beobachtung.
„Lebhaft wird es bei Wortmeldungen der Freiheitlichen zur Impfpflicht. Der Kärntner Mandatar Josef Ofner richtet dem Kanzler aus, das Volk würde sich ,nicht in die Nadel zwingen lassen‘; und dass er ,ein schreckliches Bild vor seinen Augen‘ habe, wenn er von ,Impfstraßen für Kinder‘ lese. Der Niederösterreicher Andreas Spanring lustfaselt von einer ,geheimen Impfpolizei‘, die ihn wohl unter ,Impf-Heil‘-Rufen in einer ,Nacht- und Nebelaktion aus dem Bett holen‘ würden."
Fad statt Fanal
Doch "irgendwann endet auch diese Bundesratssitzung. Erleichterung. Die Republik lebt, weder Fadesse noch Impfpflicht und nicht einmal abgründige Nazi-Vergleiche können sie erschüttern.“
Mögen Corona-Demos die Republik irgendwann so nachhaltig prägen und erschüttern wie eine Bundesratssitzung.
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