Notlösung auf der Notaufnahme
„Ich bin komplett im Arsch! Weiß nicht wohin mit mir“, dröhnt es aus den Boxen. Das Lied der deutschen Punkband „Feine Sahne Fischfilet“ trifft ziemlich genau die Stimmungslage der Ärztinnen und Ärzte auf der Notaufnahme der Klinik Ottakring in Wien, die am vergangenen Freitagvormittag einen einstündigen Warnstreik vor dem Krankenhaus abhalten. „Ärzte am Limit, Patienten in Gefahr“ oder „Patientin todkrank, Ärztin todmüde“ steht auf den Protestschildern der zwei Dutzend Ärzte.
„Es wäre schöner gewesen, wenn es diesen Protest nicht gebraucht hätte“, sagt die Sprecherin des Streikkomitees, Aglaia Kotal. Ein Teil der Belegschaft hält die Notaufnahme am Laufen. Als just während der Streikstunde ein Schlaganfall-Patient eingeliefert wird, wird der Mann in Sekundenschnelle übernommen und ins Behandlungszimmer gebracht.
Der Protest in der Klinik Ottakring zeigt: Die Spitäler des Landes nähern sich dem Kollaps. Das Ende der Corona-Pandemie brachte nicht die erhoffte Normalisierung. Quer durch alle Bundesländer fehlen Tausende Ärzte und Pflegekräfte. Um die Misere zu bewältigen, wird auf unterschiedlichste Lösungen gesetzt: Das Burgenland lockt mit höheren Gehältern. Wien lagert ärztliche Leistungen aus. Salzburg zahlt angehenden Medizinerinnen und Medizinern die Studiengebühren. Und in Graz wechseln Chirurgen und Patienten für eine Operation gemeinsam in ein Peripherie-Spital.
Dramatisch ist die Situation vor allem in der Bundeshauptstadt, wie der Bericht der Wiener Pflege- und Patientenanwaltschaft zeigt. Demnach würde „der Personalmangel“ zu „Wartezeiten beziehungsweise Operations-Terminverschiebungen, Mehrklassenmedizin, unzumutbaren Wartezeiten in Ambulanzen, Kommunikationseinbußen und Qualitätsmängeln“ führen.
Notlösungen
Mit einem 10-Punkte-Plan will die Wiener Ärztekammer die lokale Spitalsmisere beenden. Darin finden sich klassische Forderungen wie höhere Gehälter, eine Ausbildungsoffensive und Bürokratieabbau, aber auch Sofortmaßnahmen. Ärzte und Pfleger sollen 24.000 Euro steuerfrei erhalten – entweder als einmalige „Bleibeprämie“ oder als „Rückkehrprämie“. Freiberufliche Ärzte sollen im Spital Dienste übernehmen und die angestellten Kollegen entlasten. Schon jetzt helfen Externe aus. So kann die Kinderpsychiatrie am Wiener Rosenhügel seit rund einem Jahr nur durch derartige Pooldienste am Laufen gehalten werden. Damit die unterbesetzte Radiologie in der Klinik Ottakring nicht zusammenbricht, hilft seit einem halben Jahr ein nahegelegenes privates Diagnosezentrum aus.
Der vergleichsweise große Personalpool und die geringen Distanzen im urbanen Raum halfen Wien auch durch die Corona-Pandemie. Gab es an einer Klinik einen Mangel, konnte eine andere aushelfen. In der Klinik Favoriten stößt auch das an seine Grenzen. Nun sollen pensionierte Anästhesisten, Niedergelassene und Ärzte aus anderen Kliniken auf Honorarbasis aushelfen. „Es löst das Problem nicht, das ist uns bewusst“, sagt eine Sprecherin des Wiener Gesundheitsverbunds, doch: „Wir haben jetzt eine Notsituation. Da muss man auch einmal ungewöhnliche Wege gehen.“
Not macht auch in der Steiermark erfinderisch. Aufgrund des Personalmangels an der Urologie des Uniklinikum Graz mussten regelmäßig Operationen verschoben werden. Gerade Pflegekräfte hätten sich aufgrund der hohen Arbeitsbelastung verabschiedet, sagt Klinikvorstand Sascha Ahyai. Wartezeiten von bis zu drei Monaten auf eine OP seien bei Tumorkranken aber schlicht „nicht vertretbar“. Gleichzeitig gab es im Landeskrankenhaus Deutschlandsberg freie OP-Kapazitäten und ausreichend Pflegekräfte. Seit Dezember 2022 pendelt daher ein Ärzteteam, die sogenannten „Flying Doctors“, mit dem E-Auto von Graz ins 47 Kilometer entfernte Deutschlandsberg, um dort unaufwändigere Eingriffe an Grazer Patienten durchzuführen. Pro OP-Tag werden laut Ahyai vier bis fünf Operationen nach Deutschlandsberg ausgelagert, zu Spitzenzeiten so 100 Patienten pro Monat peripher behandelt.
Auf der Grazer Urologie werden indes vermehrt kompliziertere Eingriffe durchgeführt – unter erschwerten Bedingungen: Um trotz Bettenreduktion möglichst viele Patientinnen und Patienten operieren zu können, werden sie nach der OP früher entlassen, sagt Ahyai: „Wer früher nach der Operation eine Woche lang im Spital lag, geht jetzt nach drei Tagen nach Hause - mitunter mit einem Katheter.“ Damit können mehr Patienten operiert werden – was mehr Arbeit für das Personal bedeutet.
Wer früher nach der Operation eine Woche lang im Spital lag, geht jetzt nach drei Tagen nach Hause - mitunter mit einem Katheter.
Zur Effizienzsteigerung und Verbesserung des Gesundheitssystems richtete Tirol 2016 das Landesinstitut für Integrierte Versorgung (LIV) ein. Als Leuchtturm-Projekt gilt das Programm „HerzMobil Tirol“, bei dem sich Patienten gewissermaßen selbst untersuchen. Mit einer speziellen Handy-App übertragen sie Puls, Blutdruck, Gewicht und die Einnahme ihrer Medikamente direkt an die Herzinsuffizienz-Pflegestation im Krankenhaus. Medikationen können so angepasst werden, ohne dass Patienten zum Arzt müssen. Laut LIV müssen durch HerzMobil Tirol um die Hälfte weniger Patienten wegen Herzinsuffizienz wieder im Spital aufgenommen werden. Mittlerweile wird das Programm in allen Tiroler Bezirken angeboten.
Wunsch nach Sicherheit
Alfred Mayr, Zentralbetriebsratsobmann der Oberösterreichischen Gesundheitsholding (OÖG), glaubt zu wissen, wie man Mitarbeiter hält: durch „Dienstplansicherheit“. Der Druck auf seine Kolleginnen und Kollegen sei „enorm“, sagt Mayr. Wenn am Wochenende das Handy läutet und der Chef dran ist, kann das nur bedeuten: Extra-Schicht. Kaum ein Mitarbeiter ignoriert das Läuten, denn das Arbeitsethos sei hoch, aber wohl auch der Gruppendruck, sagt Mayr. Als Lösung wünscht sich Mayr ein Stand-by-Modell: Eine gewisse Zahl an Mitarbeitern hält sich in der Freizeit bereit – und wird dafür auch entlohnt.
Die Salzburger Landeskliniken haben ein besonderes Problem. Das Einzugsgebiet der Stadt Salzburg umfasst auch Oberösterreich und das benachbarte Bayern. Krankheiten kennen keine Grenzen. Im Süden des Bundeslandes griff das Landeskrankenhaus Tamsweg im Lungau zu einer radikalen Maßnahme: Aufgrund mangelnder Kapazitäten wurden für elektive (also nicht akute, sondern planbare) Untersuchungen keine Patienten aus den steirischen Nachbargemeinden mehr aufgenommen. Auch Wien will weniger Menschen aus anderen Bundesländern behandeln. Seit Dezember letzten Jahres gilt in Gemeindespitälern die Anordnung, Gastpatienten für planbare Routinebehandlungen an ihr Heimatbundesland zu verweisen. Soweit die Theorie. Abgewiesen soll in Wien in der Praxis dadurch allerdings niemand werden.
Neue Wege gehen die Salzburger im Umgang mit so genannten „Langliegern“. Dabei handelt es sich um meist ältere Patienten, die nach einem Eingriff in ein Pflegeheim überstellt werden sollen, mangels verfügbarer Plätze aber weiterhin im Spital bleiben. Das summiert sich in Salzburger Kliniken auf 5000 Belagstage pro Jahr. Nun sollen die Patienten an den Kosten – analog zur Betreuung in einem Pflegeheim – beteiligt werden.
An der Fachhochschule Salzburg wurde die Zahl der Studienplätze für die Gesundheits- und Krankenpflege aufgestockt. Das Land Salzburg zahlt ausgewählten Studierenden an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität die Gebühren, wenn sie sich verpflichten, als fertige Mediziner in Salzburg zu arbeiten. Und auch in der Freizeit sollen es Mitarbeiter kommod haben. Derzeit werden 360 Dienstwohnungen neu gebaut.
Prämie für Springerdienste
Die Gynäkologie am Spital Bludenz geht dieser Tage in die Sommerpause. Patientinnen müssen ins 23 Kilometer entfernte Feldkirch fahren. Auch Neurologie-Betten in Rankweil mussten gesperrt werden. Um die Probleme zu lösen, helfen Ärzte und Pfleger aus kleineren Spitälern in den großen Schwerpunkt-Krankenhäusern aus – umgekehrt funktioniert der Transfer nicht so gut. Die Entlohnung ist großzügig: Fachärzte, die kurzfristig in einem anderen Spital einspringen, erhalten bis zu 800 Euro Prämie. Dazu gibt es Kilometergeld obendrauf. Die Zuteilung von Springerdiensten im Pflegedienst erfolgt mittlerweile digital durch eine Care-Support-App auf den Handys der Mitarbeiter.
Geld ist wichtig, aber nicht alles.
Aufgrund der eklatanten Mängel ist der Wettbewerb zwischen den Bundesländern ums Personal voll in Fahrt. Mit dem höchsten Fachärztegehalt in ganz Österreich hat das Burgenland vorgelegt. Oberärztinnen und Oberärzte verdienen dort bis zu 30 Prozent mehr als Kollegen in Vorarlberg. Im Österreich-Schnitt kommen Oberärzte (inklusive Zulagen) auf etwa 7500 Euro brutto pro Monat.
„Geld ist wichtig, aber nicht alles“, sagt Stephan Kriwanek, medizinischer Geschäftsführer der Burgenländischen Krankenanstalten. Zusätzlich finanziert das Land die Teilnahme an Ärztekongressen und bietet Kindergartenplätze. Im ersten Halbjahr 2023 konnte das Burgenland 69 Ärztinnen und Ärzte gewinnen, weitere 34 haben bereits Verträge unterschrieben. Dazu bildet das Bundesland mit über 300 Pflegeschülerinnen ab Herbst mehr Pflegekräfte aus als je zuvor. Ein guter Teil von ihnen wird im Burgenland bleiben. Sie sind bereits während ihrer Ausbildung beim Land angestellt, sozialversichert und erhalten 1200 Euro pro Monat. Im Gegenzug müssen sich an ein burgenländisches Spital oder die Sozialen Dienste Burgenland als künftige Arbeitgeber binden.
Auch das Land Steiermark gibt sich überaus spendabel, um die Personal-Knappheit in Landeskrankenhäusern zu bekämpfen. Ab September werden jährlich um 130 Millionen Euro mehr an die Mitarbeiter ausgeschüttet. Das Pflege-Personal erhält im Schnitt um 12,5 Prozent mehr. Ein Vollzeit-Diplompfleger mit einem Wochenenddienst und fünf Nachtdiensten im Monat verdient als Berufsanfänger 3979 Euro brutto, um 650 Euro mehr als zuvor. Die Finanzspritze tut not. In steirischen Spitälern sind derzeit 710 Stellen offen. Als Akuthilfe locken Anwerbeprämien für die Beschäftigten. Wer einen Bekannten für eine Daueranstellung in einer Landesklinik gewinnt, erhält 750 Euro. Der Wiener Gesundheitsverbund zahlt sogar 1000 Euro Prämie.
Teilzeit-Ärzte
Rasche Hilfe würde die Ausweitung der faktischen Arbeitszeiten bringen. So sind in Oberösterreich etwa ein Drittel der Spitalsärzte teilzeitbeschäftigt. In Wien kritisierte Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ) zuletzt offensiv, dass an der Notaufnahme in Ottakring ein hoher Teil des Personals Nebenbeschäftigungen hat. In Zukunft sollen Ärzte in Gemeindespitälern nur dann eine Genehmigung für eine Nebentätigkeit (etwa als Wahlarzt) erhalten, wenn sie in Vollbeschäftigung sind.
„Ich glaube, dass Zwang nie die Probleme lösen wird“, hält dem Stefan Ferenci entgegen, Obmann der Kurie angestellte Ärzte in der Ärztekammer Wien. „Wenn ich als Dienstgeber 40-Stunden-Kräfte haben will, muss ich mir überlegen: Was biete ich dieser Person, damit sie bei mir 40 Stunden arbeiten will?“ Ein Verbot von Nebenbeschäftigungen würde zu mehr Kündigungen führen und das Personalproblem nur verschärfen, argumentiert er. In Tirol sieht man das anders. Dort gilt für die Spitalsmediziner der landeseigenen Kliniken ein Konkurrenzverbot. Operiert wird nur im eigenen Spital, nicht im privaten Sanatorium. Der steirische Krankenhausbetreiber Kages wird das Nebenverdienst-Verbot nach einer Reihe an Abgängen hingegen mit September aufheben.
Überprüft auf die Ambulanz
Zu den größten Belastungen im Spitalsbetrieb zählen – österreichweit – die überfüllten Ambulanzen. Im Zuge der laufenden Finanzausgleichsverhandlungen fordern die Länder als Spitalsbetreiber mehr Geld vom Bund. Denn nach wie vor drängen zu viele Menschen in die Krankenhäuser. Aus Vorarlberg heißt es, dass bis zu 70 Prozent der Ambulanz-Patienten auch bei niedergelassenen Ärzten behandelt werden könnten.
Jeder, der krank ist, sieht sich als Notfall.
Um die Ambulanzen zu entlasten, werden die Patienten in Vorarlberg durch eine Allgemeine Ersteinschätzung geschleust. Das Problem: Aus gesetzlichen Gründen muss auch dabei ein Arzt anwesend sein, um etwa Eltern zu erklären, dass die Schürfwunden ihres Kindes, der Insektenstich oder Zeckenbiss nicht in einem Krankenhaus behandelt werden müssen.
„Jeder, der krank ist, sieht sich als Notfall“, sagt Michael Binder, Medizinischer Direktor des Wiener Gesundheitsverbunds. In so genannten Erstversorgungsambulanzen der Gemeindespitäler wird überprüft, wer tatsächlich auf der Notfallambulanz behandelt werden muss. Das System bewährt sich: Im Schnitt können sechs von zehn Patienten direkt in der Erstversorgungsambulanz versorgt werden. Die Notaufnahme kann sich auf wirkliche Notfälle konzentrieren. Für die Klinik Ottakring sieht Binder allerdings noch Verbesserungspotenzial. Zu oft würden Patientinnen und Patienten an der Erstversorgungsambulanz vorbei direkt in die Notaufnahme gehen.
Am vergangenen Freitagvormittag – während des Warnstreiks – haben sie auch keine Alternative. Denn die Erstversorgungsambulanz in Ottakring öffnet unter der Woche immer erst um 13 Uhr. Und schließt um 20 Uhr. Auch an Nicht-Streiktagen.