Die Öffnung des Arbeitsmarkts für Bulgarien und Rumänien sorgt für Turbulenzen
Der Bus verlässt um 9.30 Uhr Bukarest. Um elf Uhr ist er in der Erdölstadt Ploiesti, um 13 Uhr in Brasov, um 21 Uhr in Timisoara, eine Stunde später nimmt er in Arad die letzten Passagiere auf dieser Reise auf, bevor die Grenze zu Ungarn überquert wird.
Um fünf Uhr am nächsten Morgen erreicht die Reisegruppe den Busbahnhof in Wien-Erdberg, einen an Tristesse nur schwer zu übertreffenden Ort: Einige Container dienen als Kassen und Warteräume, bei einem Würstelstand und einer Hamburger-Bude kann Proviant gefasst werden. Darüber braust auf der Südost-Tangente, der am stärksten befahrenen Straße Österreichs, rund um die Uhr der Verkehr.
An diesem so wenig attraktiven Eingangstor zum reichen Europa werden in den kommenden Wochen und Monaten viele Glücksuchende aus den Armenhäusern des Kontinents eintreffen: Seit Jahresbeginn dürfen auch Rumänen und Bulgaren frei in ganz Europa arbeiten Deutschland, Großbritannien, die Niederlande und Österreich haben jetzt als letzte Alt-EU-Staaten die Barrieren für die Bürger der beiden Balkanstaaten beseitigt. Für die anderen osteuropäischen Beitrittsstaaten waren die letzten Schranken schon am 1. Mai 2011 gefallen. Wie viele Bürger der ärmsten EU-Länder tatsächlich den Weg in Richtung Westen antreten werden, ist umstritten. Österreich wird vom Strom der Arbeitssuchenden höchstens gestreift, glaubt das Institut für Höhere Studien (IHS), das im Auftrag von Wirtschafts- und Sozialministerium eine entsprechende Expertise erstellt hat. Demnach würden heuer bloß 5500 zusätzlich Zuwanderer in Österreich ihr Glück suchen, davon drei Viertel aus Rumänien. Nächstes Jahr sollen dann weitere 4500 kommen einigermaßen realistische Zahlen angesichts der insgesamt 30.000 Arbeitskräfte, die seit 2004 aus den anderen acht mittel- und osteuropäischen EU-Beitrittsländern auf den heimischen Arbeitsmarkt strömten.
Aber es gibt von durchaus kompetenter Seite auch andere Schätzungen. Die deutsche Bundesagentur für Arbeit etwa erwartet bis zu 180.000 Arbeitsmigranten aus den beiden Balkanstaaten. Bei der im Ländervergleich zwischen Deutschland und Österreich üblichen Ratio von zehn zu eins ergäbe das fast dreimal so viele Zuwanderer aus Rumänien und
Bulgarien wie in der IHS-Schätzung. In Großbritannien glaubt die Organisation Migration Watch an 50.000 Neuankömmlinge jährlich.
Eine Umfrage der EU-Kommission in Bulgarien ergab vergangenen Sommer rund 400.000 Auswanderungswillige, in Rumänien sind es erfahrungsgemäß dreimal so viele. Ob jene rund 1,5 Millionen, die sich prinzipiell ein Auswandern vorstellen können, auch tatsächlich gehen, hängt vor allem von der Lage in den beiden verarmten Ländern selbst ab.
Und die ist schlimm: 15 Euro verdient ein Arbeiter im Durchschnitt pro Tag und damit weniger als jeder Bettler im Westteil der EU. Mehr als die Hälfte der Menschen lebt in heillos überbelegten Wohnungen, jeder vierte Jugendliche hat keinen Job. Für den Aufbau einer leistungsfähigen Wirtschaft fehlt an allen Ecken und Enden das Geld: Gerade ein halbes Prozent des Brutto-Inlandsprodukts wird für Forschung und Entwicklung ausgegeben.
Die Folge war schon bald nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ein beispielloser Massenexodus. Hatte Bulgarien Mitte der 1980er-Jahre fast neun Millionen Einwohner, sind es heute bloß noch 7,3 Millionen. Ähnlich verhält es sich mit Rumänien: 1989, als das Ceausescu-Regime fiel, hatte das Land mehr als 23 Millionen Einwohner, heute sind es knapp mehr als 20 Millionen. Drei Millionen Rumänen haben sich schon in den vergangenen Jahren auf die große Wanderschaft gemacht, die meisten aus sprachlichen Gründen in romanische Länder. Allein in Spanien leben heute mehr als 900.000 Rumänen.
Gegangen sind vor allem zwei sehr unterschiedliche Gruppen: Ungelernte Arbeitskräfte und Akademiker. Die in Deutschland zugewanderten Rumänen und Bulgaren sind fast zur Hälfte Niedrigqualifizierte, aber mehr als 20 Prozent haben Universitätsabschluss. Die starke Abwanderung hat zwar dazu geführt, dass sich die Arbeitslosenraten in Bulgarien und Rumänien in Grenzen halten, andererseits fehlen jetzt die Ärzte und IT-Techniker, die im EU-Ausland ein Vielfaches von dem verdienen, was sie in ihrer Heimat bezahlt bekamen.
Aber auch in schlecht entlohnten Branchen ist die Situation hierzulande unvergleichlich besser. Der österreichische Mindestlohn im Hotel- und Gastgewerbe liegt derzeit bei 1320 Euro brutto pro Monat und ist damit zehnmal so hoch wie der Mindestlohn in Rumänien.
In Deutschland, Großbritannien und der Schweiz ist jetzt eine Debatte darüber entbrannt, ob die Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien auch alle Sozialleistungen bekommen sollen, die den Inländern zustehen. Besonders in Deutschland wird die Diskussion eher hitzig geführt. Vorreiter ist der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU), der ähnlich wie der britische Premier David Cameron fordert, Zuwanderer aus den
Armenhäusern Europas sollten zwecks Verhinderung von Sozialtourismus erst nach einer Wartezeit von drei Monaten am Sozialsystem mitnaschen dürfen. Ein Modell für Österreich? Nicht wirklich. Die entsprechenden gesetzlichen Regelungen sind bei uns längst weit schärfer, als sie Seehofer jetzt fordert.
Der Anlass für die Debatte in Deutschland ist die Klage einer 24-jährigen Rumänin, die seit 2010 mit ihrem Sohn bei ihrer Schwester in Leipzig lebt und nun neben dem Kindergeld und dem Unterhaltsvorschuss auch Hartz-IV-Leistungen (eine Art Mindestsicherung) einfordert, ohne Arbeit zu suchen. Darüber muss demnächst der Europäische Gerichtshof (EuGH) entscheiden.
Vergangenen Freitag meldete die Süddeutsche Zeitung, die
EU-Kommission habe sich in ihrer Stellungnahme zu diesem Fall der Ansicht der Klägerin angeschlossen: EU-Ausländer müssten auch dann Hartz-IV-Beihilfe bekommen, wenn sie keine Arbeit suchen. Als die Aufregung in Berlin und München hochbrandete, beeilte sich eine Sprecherin von Kommissionspräsident Manuel Barroso zu versichern, so habe die Kommission das nicht gemeint, aber die Katze war aus dem Sack.
In Österreich ist das Problem nicht unpfiffig geregelt: Genügt es in Deutschland, sich einen Meldezettel zu besorgen, müssen hierzulande EU-Bürger, die keinen Arbeitsplatz haben, eine Anmeldebescheinigung lösen. Diese wird allerdings nur dann ausgestellt, wenn der Zuwanderer eine Krankenversicherung und ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts nachweisen kann. Gelingt dies nicht, kann die Ausweisung verfügt werden, was im Vorjahr etwa 100 Zuwanderern widerfuhr. Verfügt der Antragsteller über ausreichende Existenzmittel, steht ihm aber keine Mindestsicherung zu, was Sozialminister Rudolf Hunds-torfer in den vergangenen Tagen wiederholt zur stolzen Feststellung veranlasste, in diesem Fall könne Deutschland von Österreich lernen.
Halten die Prognosen des IHS, wird das Land jedenfalls nicht an den Ankömmlingen aus Timisoara oder Sofia zugrunde gehen: Die Arbeitslosenquote würde sich bei der vorhergesagten Zahl an Arbeitsmigranten um ganze 0,03 Prozentpunkte erhöhen.
Infobox
Österreich
BIP pro Kopf: 49.256 US-Dollar
Jugendarbeitslosigkeit: 9,4%
Ärzte (pro 100.000 Einwohner): 478
Lebenserwartung (zum Zeitpunkt der Geburt): 81,2 Jahre
Jahresdurchschnittseinkommen (Brutto, Vollzeit): 42.357 Euro
Armutsgefährdungsquote (nach Sozialtransfers): 12%
Ausgaben Forschung (in Prozent des BIP): 2,76%
Anteil der Bevölkerung in überbelegten Wohnungen: 12%
Rumänien
BIP pro Kopf: 8630 US-Dollar
Jugendarbeitslosigkeit: 23,2%
Ärzte (pro 100.000 Einwohner): 237
Lebenserwartung (zum Zeitpunkt der Geburt): 74,6 Jahre
Jahresdurchschnittseinkommen (Brutto, Vollzeit): 6146 Euro
Armutsgefährdungsquote (nach Sozialtransfers): 21%
Ausgaben Forschung (in Prozent des BIP): 0,47%
Anteil der Bevölkerung in überbelegten Wohnungen: 55%
Bulgarien
BIP pro Kopf: 7411 US-Dollar
Jugendarbeitslosigkeit: 28,8%
Ärzte (pro 100.000 Einwohner): 371
Lebenserwartung (zum Zeitpunkt der Geburt): 74,2 Jahre
Jahresdurchschnittseinkommen (Brutto, Vollzeit): 4668 Euro
Armutsgefährdungsquote (nach Sozialtransfers): 21%
Ausgaben Forschung (in Prozent des BIP): 0,60%
Anteil der Bevölkerung in überbelegten Wohnungen: 47%