Die Stolpersteine auf dem Weg zu einer ÖVP-Grün-Regierung
"Nützen wir diese Chance und zeigen wir, dass in Österreich die Umsetzung der Energiewende gelingen wird!" So könnte Grünen-Chef Werner Kogler klingen, sollten sich seine Partei und die ÖVP zu echten Koalitionsverhandlungen miteinander durchringen. Er würde Anleihe nehmen bei 316 Unternehmen, die mit diesen Worten einen "Appell für Energiewende und Klimaschutz" an die vorige Regierung gerichtet haben - darunter Wienerberger, voestalpine, ÖBB, Allianz Versicherung, T-Mobile, Palfinger. Eine CO2-Steuer wird darin nicht explizit gefordert. Das Steuersystem sollte aber "schrittweise für die Energiewende optimiert" werden. Gewiss: Unternehmen können ihre grüne Seite leicht herauskehren, wenn am Ende die Konsumenten neue Umwelt-Steuern zahlen. Dennoch zeigt der Appell: Zwischen Unternehmen und Klimaschutz gab es bereits vor dem Hype um die schwedische Klima-Aktivistin Greta Thunberg eine Allianz. Warum soll das zwischen den Grünen und der Wirtschaftspartei ÖVP nicht möglich sein?
Die Konsumenten müsste man im Abtausch zu Umweltsteuern wohl entlasten. Einen möglichen Ansatz haben Kogler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz in der ORF-Elefantenrunde skizziert. Beide sagten zu, die "kalte Progression" abschaffen zu wollen (wie freilich schon viele Politiker zuvor). Diese schleichende Steuererhöhung lässt Steuerreformen regelmäßig verpuffen. Ein derartiges Geschenk müsste bei den Steuerzahlern größeren Jubel auslösen als eine Umweltsteuer wehtut. Eine Frage der Verpackung. Und wenn jemand politische Verpackungskunst beherrscht, dann Sebastian Kurz.
Blassgrün reicht nicht
Die Grünen vermeiden es derzeit akribisch, vor den Verhandlungen rote Linien einzuziehen. Eine CO2-Steuer nennt man vorsorglich "CO2-Mindestpreis", am Ende sei immer das "Gesamt-Paket" entscheidend. Doch eines machen sie klar: Eine blassgrüne Handschrift reicht nicht. Man will den Gründungsauftrag nicht gleich in der ersten Regierung verraten.
Einem Gründungsauftrag der anderen Art fühlt sich Kurz verpflichtet. Seine Kanzlerschaft gründet auf seiner harten Haltung in der Migration. Mit beinahe drei Mal so vielen Wählern im Rücken wie die Grünen - 260.000 holte die ÖVP von der FPÖ neu dazu - gibt die Volkspartei die Losung aus: Was liegt, das pickt. Reformen aus der türkis-blauen Periode werden nicht zurückgenommen. Der Mitte-Rechts-Kurs geht weiter. Hier könnte die türkis-grüne Geschichte enden. Denn kaum eine Partei definiert sich so sehr über moralische Standards wie die Grünen -und wird von ihren Anhängern derart geprügelt, wenn sie diese verletzt. Ein Kurs in der Mitte ist vorstellbar, Mitte-Rechts aber kaum.
Unnötige Sollbruchstellen
Eine "rechte" Reform war die Mindestsicherung neu. Flüchtlinge bekommen nur noch 560 Euro statt 860 Euro, bis sie ausreichend Deutsch gelernt haben. Für Großfamilien wurde ein "Deckel" von 1500 Euro eingezogen. Niederösterreich und Oberösterreich haben die Vorgabe des Bundes bereits umgesetzt, die rot-grüne Landesregierung in Wien weigert sich. Die Parteichefin der Wiener Grünen, Birgit Hebein, nannte die Reform ein "unmenschliches Armutsförderungsprogramm", weil sie auch Kinder treffe. Als ehemalige Sozialarbeiterin ist sie hier besonders kämpferisch. Nächstes Jahr im Oktober wählt Wien. Ist es denkbar, dass die Grünen im Bund die "hetzerische Herangehensweise" - so nannte Kogler die Mindestsicherung neu - einfach weiteradministrieren?
Eine Sollbruchstelle, die keine sein muss. Bei der Mindestsicherung können Länder und Gemeinden in Notlagen schon jetzt mehr auszahlen, von Heizkostenzuschüssen über Schulstart- oder Weihnachtsgelder bis hin zu monatlichen Wohnbeihilfen. Die Grünen könnten diese "Härtefall-Klauseln" stärker in den Mittelpunkt rücken oder erweitern.
Zurück zu "Integration durch Leistung"?
Bei Flüchtlingen, die erst Deutsch lernen müssen, könnte der Integrationswille der Kursteilnehmer stärker in den Mittelpunkt rücken. Derzeit werden von der Mindestsicherung rund 300 Euro als Kostenbeitrag für die Deutschkurse einbehalten. Dadurch sinkt die Mindestsicherung auf magere 560 Euro. Ein Cash-Bonus für jene, die besonders engagiert lernen, oder die auf andere Weise ihren Integrationswillen beweisen, könnte helfen, den gordischen Knoten Mindestsicherung zu durchschlagen.
Dafür müsste Kurz allerdings wieder sein früheres Leibthema entdecken: Integration. Immerhin war er über sieben Jahre dafür zuständig - zuerst als Staatssekretär und später als Minister. "Integration durch Leistung" (copyright Kurz) schließt Härten nicht aus, um rechte Wähler bei Laune zu halten. In Vorarlberg einigten sich ÖVP und Grüne etwa ohne ideologischen Theaterdonner auf eine Integrationsvereinbarung, die jeder Flüchtling unterzeichnen muss - mit klaren Konsequenzen bei Missachtung.
"Kurz war ein guter Integrationsstaatssekretär", so versuchte Kogler zuletzt, diese Seite des Altkanzlers wieder hervorzukitzeln.
Über Integration sprachen ÖVP und FPÖ nicht, umso mehr über Verbote. Doch selbst am symbolhaftesten Verbot muss eine türkis-grüne Zweckehe nicht per se scheitern: Die ÖVP will neuerdings ein Kopftuchverbot für Schülerinnen bis 14 Jahre. Bereits Anfang 2018 forderte die damalige Journalistin und nunmehrige Grün-Politikerin Sibylle Hamann eine "Kopftuch-Pause" in den Pflichtschulen. "Es kommt auf das Gesamtpaket für alle Schülerinnen an, unabhängig von der Religion", sagt eine langgediente Grün-Politikerin dazu.
Ein Leuchtturmprojekt von ÖVP und FPÖ war der "Kampf gegen den politischen Islam". Eine Beobachtungsstelle gegen religiösen Extremismus war ausgemacht. Mit der Ökopartei nicht undenkbar. Während die SPÖ in islamischen Vereinen gerne um Wählerstimmen buhlte, hielten die Grünen schon bisher größeren Abstand zu diesen patriarchalisch-konservativen Milieus.
Das Thema Migration nüchtern angehen
In der Migrationspolitik hängt der gefühlte Kurs stark von Sprache und Symbolik ab. Die tatsächliche Politik entsprach der scharfen Sprache nicht immer. Obwohl das Erstaufnahmezentrum Traiskirchen unter Türkis-Blau in "Ausreisezentrum" umbenannt wurde, blieb die Anerkennungsquote von Asylwerbern im EU-Spitzenfeld. Die Kosten der Mindestsicherung stiegen tendenziell - trotz Kürzungen bei Flüchtlingen und Großfamilien. Denn für Behinderte und Alleinerzieherinnen wurde das Sozialgeld in Summe stärker erhöht. Als die ÖVP-FPÖ-Regierung Asylberechtigten Sprachkurse demonstrativ strich, war der Aufschrei programmiert. Still und leise fanden sie in bestehenden Kursen für Migranten Platz. Ähnlich bei den Caritas-Lerncafés für Migranten-Kids: Die Kürzung der Gelder schlug Wellen, die spätere Aufstockung durch die blaue Ministerin Karin Kneissl erfolgte im Stillen.
Mit einer unaufgeregteren Sprache auf beiden Seiten könnten ÖVP und Grüne bei Zuwanderung, Migration und Integration Gräben überwinden - allerdings nur, wenn beide Seiten so viel Nüchternheit aushalten.
Allein über Sprachsteuerung nicht zu lösen ist der gordische Knoten UN-Migrationspakt. Die FPÖ brachte die ÖVP dazu, ihn nicht zu unterschreiben. Holt Kurz das mit den Grünen nach, stößt er die neu gewonnenen Rechts-Wähler vor den Kopf. "Den Pakt unangetastet zu lassen, wäre extrem schwer", sehen wiederum Grüne im Hintergrund eines der wirklich "problematischen Felder".
Die Fronten von 2003 sind weg
Das gilt auch für Handelsverträge nach Art von CETA. Die grünen Freihandelsgegner liefen Sturm gegen das Abkommen zwischen EU und Kanada. "Der Vertrag ist unterschrieben. Da kommen wir nicht mehr raus", bleiben Grüne bei CETA realistisch. Doch der nächste EU-Vertrag folgt bestimmt. Der Ökopartei weitere Unterschriften abzuringen, könnte sich als schwierig erweisen. Oder die ÖVP schwenkt selbst öfter zu den Grünen, wie bei Mercosur. Zunächst lehnte nur der ÖVP-Bauernbund das Handelsabkommen mit Südamerika ab, aus Angst vor Billig-Fleisch. Dann brachten die Bauern die gesamte Volkspartei auf Linie.
2003 sind die Verhandlungen zwischen ÖVP und Grünen weder am Freihandel gescheitert noch am Fremdenrecht, so die Überlieferung, sondern am grünen Widerstand gegen Studiengebühren und Eurofighter. Studiengebühren waren schon bisher nicht die oberste Priorität von Kurz. Und auf mehr Geld fürs Heer drängte zuletzt nicht der ÖVP-Chef, sondern Bundespräsident Alexander Van der Bellen, der wiederum 2003 für die grüne Pazifisten-Truppe über eine Koalition mit der ÖVP verhandelte.
So flexibel können scheinbar starre Fronten sein.