Die verdrängte Wirtschafts-Krise
Von Eva Linsinger und Clemens Neuhold
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„Ich bin schon lange im Geschäft, aber so eine Rezession habe ich noch nicht erlebt.“ (Christoph Neumayer, Generalsekretär der Industriellenvereinigung)
„Die Lage ist katastrophal.“ (Timo Springer, CEO Springer Maschinenfabrik, IV-Präsident Kärnten)
„Uns bricht der Wirtschaftsstandort unterm Hintern weg.“ (Franz Schellhorn, Leiter der Agenda Austria)
Alarmismus hat in der Wirtschaft immer wieder Konjunktur. 2013 zettelte der damalige Chef der Wirtschaftskammer, Christoph Leitl, mit seinem Spruch „Österreich ist abgesandelt“ eine Debatte über den Wirtschaftsstandort an. Dahinter steckte eine Botschaft an die Politik: Keine neuen Steuern, sparen, länger arbeiten. Sein eigentlicher Befund war angesichts des Aufschwungs in den Folgejahren stark übertrieben. So gesehen könnte man die aktuellen Unkenrufe aus der Wirtschaft als Getöse vor der Nationalratswahl am 29. September abtun; als Lobbying gegen die Vermögenssteuerpläne der SPÖ und für eine möglichst konzernfreundliche Politik nach der Wahl.
Doch heute sind es auch nüchterne Indikatoren, die alarmieren und das Prädikat „historisch“ verdienen. So schrumpft die Wirtschaft erstmals seit 1950 das zweite Jahr in Folge. In den vergangenen fünf Jahren wuchs kein EU-Land schwächer als Österreich. Zwar brach die Wirtschaft in der Finanzkrise 2009 und der Corona-Pandemie 2020 viel stärker ein. Aber das Pendel schlug im Folgejahr in die Gegenrichtung aus. Heute sehen Betriebe kein Licht am Horizont und kündigen Mitarbeiter en masse.
Es hat sich ein giftiger Cocktail zusammengebraut: Der wichtigste Handelspartner Deutschland bleibt konjunkturell wie gelähmt. Auf den Übersee-Märkten verlieren heimische Betriebe an Boden, weil ihre Produkte deutlich teurer geworden sind, auch wegen der massiven Lohnsteigerungen – welche die hohe Inflation abfedern sollten. Und in Österreich schwächelt der Konsum, während die Bauwirtschaft im Keller ist. Für staatliche Impulse fehlt das Geld – dank eines Budgetdefizits, das aus dem Ruder gelaufen ist. Der Pessimismus in Zahlen: Jeder zweite der 1200 metallverarbeitenden Betriebe mit insgesamt 140.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erwartet im zweiten Halbjahr 2024 Verluste. Die Produktion ist im ersten Halbjahr um zehn Prozent geschrumpft. Nach einem Minus von acht Prozent im Jahr 2023.
„Aber Corona, aber Krieg“: Warum die Krisen als Ausreden nicht ziehen
Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) kann in Wahlkampfduellen richtig grantig werden, wenn die Wirtschaftsflaute seiner Regierung angelastet wird. Er erinnert zu Recht daran, dass es ÖVP und Grünen nicht vergönnt war, sich auf Wirtschaftspolitik zu konzentrieren; galt es doch, erst eine Pandemie und dann eine Teuerungskrise zu bekämpfen. Doch die Art und Weise, wie die Regierung auf diese Krisen reagierte, verschärfte die Probleme für den Wirtschaftsstandort. Als die Preise wegen des Ukraine-Krieges in die Höhe schnellten, verzichtete die schwarz-grüne Regierung auf Preisbremsen für Energie bis Lebensmittel. Um die Preislast zu dämpfen, verteilte sie lieber mit der Gießkanne Milliarden an Haushalte und Unternehmen, vom Energiekostenausgleich über die höhere Pendlerpauschale bis zum Extra-Familienbonus.
Das heizte nicht nur das Budgetdefizit, sondern auch die Preise weiter an, anstatt sie zu dämpfen. Die Teuerung segelte in Österreich verlässlich über dem Durchschnitt der Euro-Zone. Im August sank die Inflation zwar auf 2,4 Prozent, lag aber noch höher als anderswo.
Mit drastischen Folgen für die Betriebe: Da sich die Löhne in Österreich traditionell an der Inflation orientieren, stiegen die Löhne umso kräftiger zwischen sieben und neun Prozent. „2024 gab es in Österreich die stärksten Reallohnzuwächse hinter Dänemark“, erinnert Franz Schellhorn von der Denkfabrik Agenda Austria, „trotz schrumpfender Wirtschaft“. Nun ist die Teuerung wieder auf zwei bis drei Prozent gesunken. Die deutlich gestiegenen Lohnstückkosten wirken aber weiter – in Form verteuerter Produkte. Schellhorn sieht heimische Betriebe deswegen „aus vielen Märkten fliegen“.
Der Chef-Ökonom der Arbeiterkammer, Markus Marterbauer, relativiert: „Wer bei heimischen Weltmarktführern wie dem Seilbahnhersteller Doppelmayr einkauft, macht seine Entscheidung wohl nicht von ein paar Prozent Unterschied im Preis abhängig.“ Aktuell sei die Lage für die heimische Industrie „wirklich sehr schlecht“, meint auch er. „Aber von einem hohen Niveau aus gesehen. Unsere jährliche Industrieproduktion ist seit 2015 um 20 Prozent gewachsen, während sie in Deutschland um zehn Prozent geschrumpft ist.“ Auch Nehammer verweist gern auf den fünften Platz im EU-Wohlstandsranking (BIP pro Kopf), um die Stimmung zu heben.
Anders als die Industrie betont Marterbauer die positiven Effekte der Lohnabschlüsse. Durch die deutlichen Lohnerhöhungen für die Arbeitnehmer seien die hohen Energiepreise abgefedert und die Kaufkraft erhalten worden.
Aber warum geben die Menschen dann nicht mehr aus und kurbeln so die Wirtschaft an? Weil Meldungen über Kündigungswellen Angst machen. Und Angst verleitet eher zum Sparen als zum Shoppen.
Die zweite Baustelle bei der Inlandsnachfrage ist die Bauwirtschaft selbst. Sie verharrt wegen der gestiegenen Kosten für Kredite und Materialien im Keller – eine weitere Zutat im giftigen Konjunktur-Cocktail. Denn je weniger gebaut wird, desto höher sind die Mieten für die verbliebenen Wohnungen, um die sich Interessenten anstellen.
Warum sich die ewigen teuren Baustellen rächen
Der Wahlkampf schien bisher in einer anderen Realität zu spielen. Mit der historischen Wirtschaftsflaute als Nischenthema und Ansagen aus der Kategorie „Wünsch dir was“. Fast alle Parteien (mit Ausnahme der NEOS) präsentierten Wahlzuckerl – und hofften, der Flaute durch Wachstum zu entkommen („den Kuchen größer machen“, nennt das die ÖVP). Gespart werden soll bei Förderungen – eine Forderung, die bekannt klingt.
Der ÖVP-Obmann war wild entschlossen: In Österreich werde viel gefördert, vom Bund, von den Ländern, direkt und indirekt, manchmal doppelt und dreifach. Schluss damit! Milliarden sind bei den Förderungen einsparbar! Das war im Jahr 2009, und der ÖVP-Obmann hieß Josef Pröll. Österreich ist Förder-Europameister, von Alarmanlagen bis Ziehharmonikawettbewerben wird vielerlei gefördert, bei Weitem nicht alles davon ist notwendig. Satte 37 Milliarden Euro gab allein der Bund zuletzt für Förderungen aus, das sind 8,7 Prozent der Wirtschaftsleistung und deutlich mehr als der EU-Schnitt (6,7 Prozent). Im Wahlkampf 2017 versprach ÖVP-Obmann Sebastian Kurz, fünf Milliarden Euro bei Förderungen einzusparen. Passiert ist das Gegenteil: Seither stiegen die Förderungen um 35 Prozent – und zwar wohlgemerkt ohne die Corona- und sonstigen Krisenförderungen, die aus der Kalkulation herausgerechnet sind. Derzeit kündigt ÖVP-Obmann Karl Nehammer an, vier Milliarden Euro bei Förderungen sparen zu wollen. Er wäre der Erste, der dieses Versprechen auch umsetzt.
Das Wirrwarr an vielen milliardenteuren Förderungen – manche sinnvoll, manche kontraproduktiv – ist eine der teuren Dauerbaustellen, an denen Österreich leidet. Zu den weiteren zählen, unter anderem: verzweigter Föderalismus mit Doppeldreigleisigkeiten und viel Bürokratie. Die Ausgaben für Pensionen liegen in Österreich deutlich über dem EU-Schnitt (siehe Grafik) – auch wegen der nur langsam auslaufenden teuren Beamten-Pensionen. 17 Milliarden Euro schießt der Staat jährlich zu ASVG-Pensionen zu, 13 Milliarden Euro zu Beamten-Pensionen. Christine Mayrhuber, Wirtschaftsforscherin und Vorsitzende der Pensionskommission, warnt: Es brauche Anstrengungen, um das Pensionssystem finanzierbar zu halten – die nächste Regierung sei da gefordert.
Mit den Langzeitbaustellen ist der Staatshaushalt belastet – in einer Zeit, wo der Wirtschaftsstandort eigentlich Stupser bräuchte.
Warum die Lage am Arbeitsmarkt wieder gekippt ist
„Die Woche hat vier Tage. Zumindest bei uns. Kommen Sie zu uns!“ Oder: „Wir suchen Sie!“ Derartige riesige Lockschilder standen seit Sommer 2021 neben Fabriken, vor Tischlereien, bei Autobahnabfahrten. Es war die Zeit, als nach Corona die Wirtschaft brummte, die Arbeitslosigkeit niedriger als vor der Pandemie war, in Industrie-Bundesländern wie Oberösterreich Vollbeschäftigung herrschte und quer durch Österreich händeringend Arbeitskräfte gesucht wurden, von Programmiererinnen, Pflegern, Küchenchefinnen bis zu Installateuren. Auch auf Schildern und Plakatwänden.
Diese Boom-Phase ist vorbei. Im August kletterte die Arbeitslosigkeit um zehn Prozent nach oben, 352.200 Menschen hatten keinen Job. In der Industrie stieg die Arbeitslosigkeit überhaupt um deutliche 17 Prozent, ein Abbild der hartnäckigen Industrierezession. AMS-Chef Johannes Kopf zeigt sich recht pessimistisch: Impulse der Weltwirtschaft seien nicht in Sicht. Nachbar Deutschland schwächelt. Schocknachrichten wie jene, dass der deutsche Autoriese VW nach 30 Jahren die Jobgarantie aufkündigt, lassen befürchten, dass drastischer Personalabbau im Nachbarstaat bevorsteht. In Österreich ist die Lage ähnlich düster: Unter dem Eindruck des Arbeitskräftemangels 2021 wurde Personal teils im Jahr 2023 und in der ersten Hälfte 2024 gehalten, in der Hoffnung, dass sich Wachstum einstellt. Jetzt aber wird gekündigt, die Arbeitslosenzahlen steigen. Gleichzeitig fehlen nach wie vor Fach-Arbeitskräfte. Zum Beispiel im Tourismus, der – zur Abwechslung ein Lichtblick – in diesem Jahr boomt wie schon lange nicht mehr.
In dieser widersprüchlichen und kritischen Situation würde eine Arbeitsmarktreform helfen – mit diesem Projekt ist Wirtschaftsminister Martin Kocher aber im Herbst 2022 gescheitert. Das könnte sich nun bitter rächen.
Warum kaum eine Partei vom Sparpaket sprechen will – es aber kommt
Christoph Badelt, der Präsident des Fiskalrates, formuliert deutlich und ohne Herumreden: „Die nächste Regierung muss mit einem Sparpaket starten.“ Margit Schratzenstaller, die Budgetexpertin des Wirtschaftsforschungsinstituts, spricht die bittere Wahrheit ebenso unmissverständlich aus: „Österreich wird nicht um Maßnahmen herumkommen, die das Land wieder auf einen nachhaltigen Budgetpfad führen.“ Das Institut für Höhere Studien sagt, ein Sparpaket von zwei bis vier Milliarden Euro sei notwendig.
So weit die Botschaften von Ökonomen und Wirtschaftsforschern. Die wahlkämpfenden Politiker hingegen – mit der Ausnahme der NEOS – meiden das böse S-Wort vom Sparpaket tunlichst. ÖVP-Obmann und Bundeskanzler Karl Nehammer versichert, es brauche kein Sparpaket, SPÖ-Chef Andreas Babler will Bereiche wie Pensionen dezidiert von Sparmaßnahmen ausnehmen.
Die Prognose des Fiskalrates zeigt wenig Spielraum: Die Staatsverschuldung steigt auf über 78 Prozent des BIP, im Jahr 2024 wird Österreich die EU-Maastricht-Defizit-Grenze von drei Prozent mit 3,4 Prozent übersteigen – und erst 2028 wieder die erlaubten drei Prozent schaffen, warnt Badelt. Und drängt deshalb auf ein Sparpaket – oder zusätzliche Einnahmequellen.
Die Zeit des Verdrängens ist vorbei. Spätestens nach der Wahl werden die Parteien Klartext reden müssen.
Eva Linsinger
Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin
Clemens Neuhold
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.