Doppelmord in Stiwoll: Ein Jahr danach fehlt vom Täter jede Spur
Es ist kurz nach 9:20 Uhr, als Friedrich Felzmann zu laufen beginnt. Als er die Stiegen vom Dachboden des Wirtschaftsgebäudes hinunterhetzt, hinaus vor die Tür, vorbei an seinen Nachbarn Adelheid H. und Gerhard E., die vor seinem Haus am Boden liegen, beide tot. Martina Z. konnte inzwischen fliehen und bemerkt erst im Laufen den brennenden Schmerz am linken Oberarm. Auch sie hat ein Projektil getroffen.
Es ist Sonntag, der 29. Oktober 2017, ein milder Herbstmorgen. Felzmann stürmt zu seinem weißen VW-Caddy, seine grüne Kapuzenjacke weht im Wind. Darunter trägt er ein grau-braun gestreiftes Hemd, in seiner Hand hält er ein Gewehr. Es ist jene alte Langwaffe, mit der er wenige Minuten zuvor durch die Wandluke am Dachboden neun Schüsse abgefeuert hat. Als er den Motor startet, hat er weder Führerschein noch Reisepass bei sich. Hat sich Felzmann vorbereitet? Bargeld, Proviant, gefälschte Papiere im Wagen versteckt?
Felzmann steuert auf die Straße, die durch das Waldstück hinter seinem Haus führt. Nach einigen Sekunden hat er die erste Kreuzung erreicht. Er könnte sich jetzt für jene Route entscheiden, die ihn in rund 25 Fahrminuten auf die nächstgelegene Autobahnauffahrt führt. Aber das tut er nicht. Er biegt rechts auf die Straße ab, die sich vorbei an Wiesen und Wald abwärts schlängelt, in Richtung des Ortskerns von Stiwoll. Jene 700-Einwohner-Gemeinde westlich von Graz, in der Felzmann aufgewachsen und bis jetzt, bis zu seinem 67. Lebensjahr, geblieben ist.
Er fährt seit drei Minuten, seit vier Minuten, immer der Straße entlang. Hat Felzmann einen Plan? Weiß er, wo er hin will? Oder will er nur weg?
Drama in Dorfidylle
Er hat Glück. Die Straßen sind weitgehend leer. Die einen Stiwoller sitzen am Frühstückstisch, die anderen im Gottesdienst. Kein Dorfbewohner konnte erahnen, dass sich in jenem Moment, als Pater Stephan in der Kirche zum Vaterunser anstimmte, Stiwoll für immer verändern wird. Dass sich ein paar Höhenmeter weiter, oben bei den Felzmanns, das schrecklichste Ungleichgewicht im gesellschaftlichen Zusammenleben ereignet, dass ein Mensch anderes Menschenleben auslöscht.
Felzmann fährt an diesem Morgen nicht in Richtung Kirche, sondern biegt in die Nachbargemeinde Gschnaid ab, steuert durch den Ortsteil Sankt Pankrazen. Nach insgesamt rund neun Kilometer Fahrt erreicht er einen tiefen Graben. Rechts von der Straße führt ein unscheinbarer Weg mitten in eine natürliche Sackgasse, tief in den Wald hinein. Dort bleibt Felzmann stehen. Es ist jetzt in etwa 9:35 Uhr, vielleicht etwas früher, vielleicht etwas später. Friedrich Felzmann nimmt seine Waffe, steigt aus, sperrt den Wagen ab - und verschwindet.
An dieser Stelle endet die polizeiliche Rekonstruktion der Fluchtroute. Es ist der letzte gesicherte Aufenthaltsort, der sich in den Ermittlungsakten findet. Ein Jahr ist seit der mutmaßlichen Tat von Friedrich Felzmann vergangen. Hunderte Artikel und TV-Beiträge arbeiteten sich an der Biografie und dem Innenleben des verdächtigen Doppelmörders ab, der seit Jahrzehnten als Querulant weit über die Dorfgrenzen hinaus bekannt war. Der im Dauerprotest gegen das Justizsystem und politische Parteien stand, gegen Firmenchefs und Dorfbewohner im Internet oder auf Flugblättern wetterte. Der mit "Heil Hitler"-Schildern durch die Gegend fuhr, Behörden mit Anzeigen überflutete, es geschafft hat, im Grazer Straf- und Oberlandesgericht ein Hausverbot umgehängt zu bekommen, weil er Richter und Staatsanwälte bedrohte. Und der schlussendlich im vergangenen Oktober seine Nachbarn wegen eines jahrelang schwelendem Wegestreites aus dem Hinterhalt erschossen haben soll.
440 Hinweisen ging die Polizei seither nach - teilweise mit überbordendem Einsatz (siehe Kasten). 85.600 Stunden waren Hunderte Beamten insgesamt im Dienst. 3,5 Millionen Euro kostete das Großaufgebot aus Ermittlern, Suchtrupps, Ausrüstung. Bereits einen Tag nach der Tat wurde die Fahndung auf den gesamten Schengenraum ausgeweitet. Und trotzdem: Bis heute ist Felzmann spurlos verschwunden.
Der weiße VW-Caddy wurde 24 Stunden nach den tödlichen Schüssen entdeckt. Ein Jahr danach beschäftigt Rene Kornberger dieselbe Frage wie damals: "Welchen Weg hat er danach gewählt?"
Fragen über Fragen
Kornberger sitzt vergangenen Dienstagmorgen in einem kleinen Besprechungszimmer des Landeskriminalamts Steiermark. Er hat als Ermittlungsleiter die Sonderkommission "Friedrich" angeführt, die Ende Jänner aufgelöst wurde. "Lebt er noch oder lebt er nicht mehr? Und falls ja: Was hat er seither getan? Wie hat er sich über Wasser gehalten? Oder hat er sich umgebracht? Ist er verunglückt?" Kornberger weiß es nicht. Ein ungelöster Fall lässt einen Ermittler nie ganz los. Das Verschwinden von Felzmann ist für Kornberger dennoch einzigartig, weil er nach 365 Tagen Ermittlungs- und Fahndungsarbeit eingestehen muss: "Wir haben keine Anhaltspunkte. Wir haben die Tatwaffe nicht. Wir haben seit der Tat keine einzige Spur."
Kornberger führt das nicht zuletzt auf die schwierige Suche in dem unwegsamen Gelände zurück - und einen entscheidenden Vorteil des Täters. Stiwoll liegt im Grazer Bergland. Zwischen tiefen Gräben erheben sich Kogel, teils über 1000 Meter hoch. Der Großteil der Landschaft ist bewaldet und unbesiedelt. Viele verlassene Häuser und Hütten ohne Nummer verteilen sich auf das Gebiet. Erdlöcher und Steinspalten durchschneiden den Boden. Unter der Oberfläche befinden sich die Stollen eines alten Bergwerks, die sich, je weiter sie sich ins Gestein graben, zu einem unbegehbaren Labyrinth verästeln. Wochenlang marschierte die Cobra ausgehend vom Fluchtfahrzeug in alle Himmelsrichtungen und durchkämmte das Gebiet. Die Sonderheit fand: nichts.
"Wenn sich wer in dieser Gegend auskennt, dann ist es der Fritz", sagt Herbert P. mit Blick auf den Graben, wo das Fluchtauto gefunden wurde. "Der kennt mehr Löcher als jeder andere." Felzmann ging oft in den Wald, filmte Tiere, und kam erst Tage später wieder zurück. Herbert P. ist Anfang 50, gebürtiger Stiwoller und fuhr schon oft die mutmaßliche Fluchtroute ab. Seinen echten Namen will er nicht in der Zeitung lesen. "Der Fritz hat mit seiner Tat, und mit allem, was danach kam, eine ganze Region traumatisiert."
Wochenlang kreisten Hubschrauber und Drohnen über dem Dorf, Medien belagerten die Gemeinde. Auch der Bürgermeister hat seine letzten Interviews gegeben. Er will "einen Schlussstrich" ziehen. Aber wie, fragt sich Herbert P., kann man mit einer Sache abschließen, wenn man die Antwort nicht kennt?
Esoterische Unterstützung
Soko-Leiter Kornberger ist überzeugt, dass "polizeilich alles unternommen" wurde. Zwischendurch versuchten es die Kriminalisten selbst mit Unterstützung von esoterischer Magie. Hellseher meldeten sich mit Hinweisen bei der Polizei, Pendler gaben den Beamten Koordinaten durch. "Wenn es realistisch war, sind wir denen auch nachgegangen - wir haben sowieso sehr viel akzeptiert." Der Soko-Leiter meint damit etwa die "Wünschelrutengeher", die auf ihren Wunsch hin in die Suche eingebunden wurden. Mit Stäben aus Holz etwa und der Beihilfe von menschlicher "Energie" wollen Rutengeher "Störzonen" ausfindig machen können. In der Felzmann-Suche sind sie dabei sichtlich gescheitert: "Wir haben sie auf das Gelände geführt. Dann waren sie dort und haben die Cobra-Beamten gefragt, wo sie hingehen sollen."
Auch auf den Konten, die Felzmann zuzuordnen sind, gab es keine Geldbewegungen. Keine Kontakte zu Bekannten oder zur Familie. Die Polizei fand keine Einbruchspuren in den umliegenden Jagdhütten. Kein strafbares Delikt. Keine Fingerabdrücke, keine DNA. "Mich wundert es auch, dass er nach der Tat nie eine Rechtfertigung abgegeben hat. Ich hätte mir persönlich erwartet, dass er seine Sichtweise der Vorfälle mitteilt, weil er ja über Jahre hindurch äußerst sendungsbewusst war", sagt Kornberger. All das stütze die Theorie, dass Felzmann nicht mehr lebe. In Polizeikreisen ist das die gängigste Vermutung. In Stiwoll glaubt das keiner.
Der Fritz könnte in einem vorbereiteten Bunker hausen, meinen die einen. Andere halten es für möglich, dass er bei einem Verbündeten Unterschlupf gefunden hat, wo er seinen nächsten öffentlichen Auftritt plant. "Der Fritz bringt sich nicht einfach um", hört man hier oft. Das glaubt auch Herbert P. nicht. Manche Bewohner sich nicht vor einer gewaltsamen Rückkehr Felzmanns.
"Wir haben es hier nicht mit einem Monster zu tun", sagt Werner Schlojer. Schlojer zählt zu der Handvoll "Profiler", die im Bundeskriminalamt tätig sind. Er arbeitete in der Soko "Friedrich" mit. "In seiner Welt war Friedrich Felzmann sicher das Opfer. Er hat ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden - das er für sich selbst interpretiert hat." Fühlte er sich ungerecht behandelt, konnten selbst aus Freunden sofort Feinde werden. Auch die Tat sei nicht geplant gewesen, sondern "spontan" erfolgt. "Er ist ein Doppelmörder. Es wäre fatal, zu sagen, er ist nicht gefährlich", sagt der "Profiler"."Trotzdem ist er für mich keine Person, die auf der Jagd ist, sondern eine, die auf der Flucht ist - falls er noch am Leben ist."