Doris Bures: „Das Wahlergebnis der SPÖ war niederschmetternd“
Von Clemens Neuhold und Eva Linsinger
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Praktizieren Sie Yoga?
Doris Bures
Ja. Aber leider zu wenig.
Ex-SPÖ-Chef Christian Kern sagt, die SPÖ hat in Wien nur bei Yoga-Lehrern und Pensionisten gewonnen. Hat er Recht?
Bures
Das war ein bisschen ein Schmäh. Er hat es später relativiert. Kern gibt derzeit ja viele Interviews. Wer sich für Politik interessiert, neigt dazu, sie laufend zu kommentieren. Manche ehemalige Parteivorsitzende wie Werner Faymann äußern sich nicht öffentlich, weil sie ihre Zeit in der Politik genutzt haben und jetzt andere Personen Verantwortung tragen. Aber Temperamente sind unterschiedlich.
Würden Sie ein Comeback von Christian Kern begrüßen?
Bures
Ich nehme ihn beim Wort: Er sagt, dass er nicht daran denkt. Ich sehe keinen Grund, daran zu zweifeln.
Tatsache ist, dass die SPÖ rot-grüne Wechselwähler, aber wenige Arbeiter und Angestellte ansprach.
Bures
Wir als SPÖ müssen das Wahlergebnis einer offenen Analyse unterziehen. Es gab einen Wähleraustausch zwischen Grün und Rot. Das ist natürlich viel zu wenig, um mehrheitsfähig zu werden. Das müsste aber die Zielsetzung der SPÖ sein. SPÖ und Grüne kommen gemeinsam auf nicht einmal 30 Prozent. Es ist zu wenig, auf Rot-Grün-Austausch zu setzen.
Der SPÖ gelang es nicht, in Arbeiterhochburgen zu punkten. Insgesamt fuhr sie ihr schlechtestes Ergebnis ein.
Bures
Das Wahlergebnis der SPÖ war niederschmetternd. Da soll man nichts beschönigen. Das müssen wir eingehend analysieren. Wir müssen uns fragen: Bei Arbeiterkammerwahlen und Betriebsratswahlen hat die SPÖ Erfolge – wo zweigen die Menschen ab? Warum gelingt es uns als SPÖ nicht, ihr Vertrauen zu bekommen? Viele Menschen, auch Yogalehrer übrigens, sind in prekären Arbeitsverhältnissen. Und klassische Arbeiterinnen und Arbeiter haben oft keine Staatsbürgerschaft und kein Wahlrecht.
Was lief im Wahlkampf falsch?
Bures
Ich will nicht spekulieren. Das bringt uns nicht weiter, das sagt mir meine politische Erfahrung. Aber ich habe vor der Wahl deutlich darauf hingewiesen, dass ein Wahlprogramm auf Themen fokussieren muss, damit man weiß, wofür die SPÖ steht.
Sie nannten das SPÖ-Wahlprogramm „unernst“.
Bures
Es geht um Glaubwürdigkeit. Ein Wahlprogramm darf nicht das Blaue vom Himmel versprechen. Dazu neigten im Wahlkampf alle politischen Mitbewerber. Da bekommen die Menschen das Gefühl, dass das nicht realistisch ist.
Bleibt für die Analyse neben möglichen Regierungsgesprächen Zeit?
Bures
Für die Analyse muss jetzt Zeit sein. Die SPÖ, eine der Gründungsparteien der Zweiten Republik, wurde nur Dritter. Obwohl Türkis-Grün die unbeliebteste Regierung der Zweiten Republik war. Die SPÖ leidet unter Vertrauensverlust, die sozialdemokratische Gegenerzählung griff nicht. Es hat keinen Sinn, über eine Koalition zu verhandeln, wenn wir nicht analysieren, wo die Probleme und Ängste der Menschen liegen und warum sie so gewählt haben. Wir müssen glaubhaft machen, dass wir die Botschaft verstanden haben und unsere Schlüsse daraus ziehen.
Hatte die SPÖ die falschen Personen an der Spitze?
Bures
Auch diese Analyse gehört zur ehrlichen Aufarbeitung. Wir müssen aus dem niederschmetternden Wahlergebnis die richtigen Lehren ziehen. Schnelle Schuldzuweisungen haben aber keinen Sinn.
Wie beurteilen Sie das Antreten von Rudi Fußi?
Bures
Mich erstaunt einigermaßen, wie breit darüber berichtet wird – obwohl er in einem seiner zahlreichen Interviews selbst gesagt hat, dass man ihn nicht zu wichtig nehmen soll.
War es ein Fehler, ein Parteistatut zu beschließen, wo jedes Parteimitglied Unterschriften sammeln kann, um für den Vorsitz zu kandidieren?
Bures
Das bekommt leicht eine schwierige Dynamik. Ich bin seit zehn Jahren im Präsidium des Nationalrates und überzeugt, dass repräsentative Demokratie das richtige Modell ist. Natürlich soll die Sozialdemokratie ihre Mitglieder einbeziehen. Aber Berufspolitiker werden auch dafür bezahlt, Entscheidungen zu treffen.
Die Öffnung der SPÖ war ein Fehler?
Bures
So habe ich das nicht gesagt. Aber man kann Konflikte nicht mit Mitgliederbefragungen lösen. Wenn es Dissens gibt, auch über die richtige Person an der Spitze wie voriges Jahr, muss das ausdiskutiert und die Einheit der Partei erarbeitet werden. Das kann aber keine Mitgliederbefragung leisten. Wir müssen nicht immer einer Meinung sein. Wenn wir aber über 20 Prozent kommen wollen, müssen wir auch unterschiedliche Zugänge und unterschiedliche Biografien tolerieren. In der SPÖ gab es Platz für ganz unterschiedliche Personen, für Hannes Androsch etwa und Caspar Einem, das hat unsere Breite und Stärke ausgemacht. Wir müssen wieder lernen, dass nicht jede Diskussion ein Streit ist – sondern ein Ringen um die besten Ideen.
Sie haben viele SPÖ-Vorsitzende erlebt. Alfred Gusenbauer, Werner Faymann, Christian Kern, Pamela Rendi-Wagner, Andreas Babler. Bei allen gab es Gesudere, ob das die richtige Person ist.
Bures
Es gab schon in den 1960-er Jahren eine Kampfabstimmung um den Parteivorsitz, die Sozialdemokratie war immer diskussionsfreudig. Aber es stimmt, dass eine Art von politischer Unkultur entstand, die man früher von der ÖVP kannte: Ständig die Parteispitze in Frage zu stellen.
Sollen die SPÖ-Mitglieder über ein Koalitionsabkommen abstimmen?
Bures
Der Parteivorstand kann eine Mitgliederbefragung beschließen. Ich glaube aber nicht, dass man sich politischer Verantwortung durch eine Mitgliederbefragung entledigen kann. Wenn es zu einem Koalitionsverhandlungsergebnis kommt, werden darin Kompromisse enthalten sein. Darüber kann man schwer mit Ja oder Nein abstimmen. Wir sollten stattdessen transparent erklären, warum es in diesen ernsten Zeiten sinnvoll wäre, wenn sich die zwei Gründungsparteien der Zweiten Republik auf ein Regierungsprogramm verständigen.
Braucht es eine dritte Partei?
Bures
Ja. Denn ÖVP und SPÖ haben nur ein Mandat Überhang, das ist zu wenig. Aber so weit sind wir noch lange nicht.
Soll Andreas Babler Parteichef bleiben und die Koalitionsgespräche führen?
Bures
Ich sehe überhaupt keinen Grund, warum er nicht Parteichef bleiben sollte. Ob und wann es zu Koalitionsgesprächen kommt, das kann ich heute nicht beantworten.
Die SPÖ, eine der Gründungsparteien der Zweiten Republik, wurde nur Dritter.
Sollte die SPÖ ihr Nein zu einer Regierung mit FPÖ überdenken?
Bures
Die gesellschaftspolitischen Ideen und das Menschenbild der FPÖ stehen diametral zur SPÖ. Daher muss man das Nein nicht überdenken.
Wenn Sie die FPÖ als Partner ausschließen, schließen Sie damit nicht auch 1,4 Millionen Blauwähler aus?
Bures
Nein. Ich will sie zurückholen. Das ergibt sich logisch daraus, wenn ich sage, es ist zu wenig, wenn uns nur noch 21 Prozent der Menschen wählen. Mit einer Partei, die Österreich zur Festung machen möchte und eine Politik gegen Europa betreibt, können wir nicht an der Zukunft für kommende Generationen bauen. Die Freiheitlichen haben mehrfach versucht, staatspolitisch Verantwortung in einer Regierung zu übernehmen und sind jedes Mal gescheitert. Sie können es nicht.
1999 versprach die ÖVP, in Opposition zu gehen, wenn sie Dritter wird. Am Ende stellte sie – als Dritter - den Bundeskanzler in einer Koalition mit der FPÖ. Trauen Sie der ÖVP heute Ähnliches zu?
Bures
Die Frage habe ich mir natürlich schon gestellt. Ich habe sie auch dem Herrn Bundeskanzler gestellt und den Eindruck gewonnen, dass er tatsächlich der Auffassung ist, dass mit Herbert Kickl kein Staat zu machen ist. Ich schenke dem jetzt einmal Glauben. Sonst bräuchten wir uns gar nicht an einen Verhandlungstisch zu setzen.
Sind sich ÖVP und FPÖ nicht deutlich näher als ÖVP und SPÖ?
Bures
Das stimmt für die Migrationspolitik und neuerdings auch die Wirtschaftspolitik. Dafür haben Barbara Kolm und Teile der Industriellenvereinigung gesorgt, die gemeinsam das Wirtschaftsprogramm der FPÖ verfasst haben. Es ist schon erstaunlich, wie sehr Kickl diese Gemeinsamkeiten nun plötzlich betont, weil er die ÖVP braucht. Davor war die Volkspartei gemeinsam mit allen anderen Parteien die böse „Einheitspartei“.
Was verbindet ÖVP und SPÖ außer die Ablehnung Kickls?
Bures
Auch wir haben viele Schnittmengen mit der ÖVP. Etwa in der Frage des Ausbaus der Kinderbetreuung, der Ganztagsschulen sowie in der Europapolitik. Mir fällt kein Bereich ein, wo ÖVP und SPÖ sich nicht in der Mitte treffen können.
Die Lage der Staatsfinanzen ist angespannt. Wie wichtig sind Ihnen Vermögen- und Erbschaftssteuern?
Bures
In ihrer gesamten Geschichte stand die Sozialdemokratie für Verteilungsgerechtigkeit. Wir haben eine extreme Schieflage zwischen Besteuerung von Arbeit und Vermögen, was auch Wirtschaftsforscher oder die OECD ganz ideologiefrei betonen. Auch für mich ist das keine Frage der Ideologie. Ich bin daher davon überzeugt, dass wir mit der ÖVP etwas zusammenbringen.
Könnte das bedeuten, dass man auf Vermögenssteuern verzichtet und stattdessen die im internationalen Vergleich mickrige Grundsteuer anhebt?
Bures
Es gibt viele Elemente für mehr Steuergerechtigkeit. Nachdem ich für das Sondierungsteam nominiert wurde, werde ich in dieser Frage klar Position beziehen. Und nochmals: Wir werden etwas zusammenbringen.
Wirtschaftsforscher sagen, man könne den Klimabonus kappen oder zumindest für Besserverdienende streichen. Haben Sie dazu eine Meinung?
Bures
Das wird das Budget nicht retten. Eine soziale Staffelung kann ich mir aber vorstellen, wenn der Aufwand die Einnahmen nicht übersteigt.
Die ÖVP will Förderungen kürzen, um das Budget zu sanieren. Glauben Sie daran?
Bures
Wie viele Regierungen haben das schon versprochen und nie ansatzweise geschafft? Was es jetzt braucht, ist ein Kassasturz. Denn das Budgetdefizit klettert schon in Richtung vier Prozent. Als nächstes müssen wir ein kluges Investitionsprogramm aufsetzen, um aus der hartnäckigen Rezession zu kommen. Mit hohen Investitionen in Infrastruktur, Forschung und Entwicklung.
Frage an die frühere Verkehrsministerin. Wie wichtig ist der Lobautunnel als Teil der Investitionsoffensive? Die grüne Umweltministerin Leonore Gewessler hat ihn gestoppt.
Bures
Die Antwort ist einfach. Der Tunnel steht im Bundesstraßengesetz. Und als Nationalratsabgeordnete bin ich der Meinung, dass Gesetze einzuhalten sind.
Braucht es den erwähnten Kassasturz vor Regierungsverhandlungen?
Bures
Ja, jedenfalls.
Soll man danach aufs Tempo drücken oder sich die Zeit für ein möglichst detailliertes hundertseitiges Regierungsprogramm nehmen?
Bures
Es ist jetzt nicht die Zeit, herumzutrödeln. Ich glaube, der beste Weg wird sein, wenn wir zwei bis drei Leuchtturmprojekte gemeinsam erarbeiten, die für die Zukunft dieses Landes entscheidend sind und dann loslegen.
Zählt der Bereich Zuwanderung zu diesen Leuchtturmprojekten?
Bures
Auf jeden Fall.
Inwieweit ist die SPÖ hier bereit, sich auf die ÖVP zuzubewegen?
Bures
Oder die ÖVP auf die SPÖ? Ich denke, dass konservative und sozialdemokratische Parteien in ganz Europa bei dieser Frage näher zusammenrücken. Die EU hat erkannt, dass wir die Probleme, die es im Migrationsbereich gibt, gemeinsam lösen müssen. Erst diese Woche hat die EU-Kommission eine Gesetzesvorlage für mehr Abschiebungen von abgelehnten Asylwerbern angekündigt. Die Antwort kann aber nicht sein, alle Ausländer raus und Festung Österreich.
Ausländer raus, so simpel legt es die FPÖ schon lange nicht mehr an. Sie buhlt neuerdings auch um die „fleißigen“ Türken.
Bures
Da zeigt nur die Beliebigkeit der Freiheitlichen.
Warum schwenkt die SPÖ erst jetzt langsam auf einen breitenwirksameren Kurs ein?
Bures
Wir haben uns bereits 2018 auf das Grundsatzpapier „Integration vor Zuzug“ geeinigt. Für mich gilt es seither uneingeschränkt. Deswegen geht es nicht, bei Integrationskursen zu kürzen, um kurzfristig ein paar Millionen zu sparen. Das kostet langfristig viel mehr.
Die ÖVP will Zuwanderern erst nach fünf Jahren die vollen Sozialleistungen auszahlen.
Bures
Und davor? Bekommen sie wie viel? Das muss die ÖVP erst erklären, wie man Menschen in den Arbeitsmarkt integriert, wenn man sie davor in die Armut oder gar Kriminalität treibt.
Sie wollen den Zugang zur Staatsbürgerschaft erleichtern, wie genau?
Bures
Die Voraussetzungen würde ich nicht ändern, wohl aber die Gehaltsschwelle. 1200 Euro netto im Monat nach Abzug aller Lebenserhaltungskosten: Das könnten sich auch viele österreichische Familien nicht leisten. Und es führt dazu, dass selbst Menschen, die in Österreich ihre Ausbildung gemacht haben, seit zehn, zwanzig Jahren hier arbeiten oder sogar hier geboren sind, keine Staatsbürger werden können. Das ist absurd und gehört natürlich in Regierungsverhandlungen behandelt.
Das Thema Zuwanderung betrifft Wien sehr stark. In Floridsdorf hat die FPÖ bei den Nationalratswahlen erstmals die SPÖ überholt.
Bures
Wir haben eingangs darüber geredet, dass es einen starken Austausch zwischen Rot- und Grün-Wählern gibt. In Floridsdorf gibt es weniger Grünwähler, die zur SPÖ wechseln hätten können. Aber abgesehen davon, dass die SPÖ in Wien – gegen den Trend – um 2,8 Prozent zugelegt hat: Die Ergebnisse bei den Wiener Landtagswahlen in einem Jahr werden ganz anders aussehen. Davon bin ich überzeugt. Das rote Wien ist die lebenswerteste Stadt der Welt.
Wo werden Sie in einem Jahr sein? Reizt es Sie, wieder Ministerin zu sein?
Bures
Mein Ziel ist eine sozialdemokratische Regierungsverantwortung. Ich selbst bin und bleibe leidenschaftliche Parlamentarierin.
Und 2028 kandidieren Sie für das Amt der Bundespräsidentin?
Bures
Das sage ich Ihnen 2027 oder 2028. Es entspricht jetzt aber nicht meiner Lebensplanung.
Clemens Neuhold
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.
Eva Linsinger
Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin