Dornbirn: Wie ein Kriminalfall den Diskurs über die Menschenrechte verändert
Es gibt nicht mehr viel, worauf sich Linke und Rechte, Regierungsgegner und Regierungsfans, Mitglieder der heimischen Twitterblase und Poster auf "Krone.at" einigen können. Aber nach dem jüngsten Kriminalfall in Vorarlberg herrschte kurz so etwas wie Konsens zwischen den Lagern. Das hätte nicht passieren dürfen, lautete der Tenor. Irgendetwas läuft falsch, wenn sich derart gefährliche Leute unbehelligt in Österreich aufhalten dürfen. Die Fakten sind bekannt: Am 6. Februar erstach ein 34-jähriger Mann mit türkischem Pass den Sozialamtsleiter der Bezirkshauptmannschaft Dornbirn. Gegen den (in Vorarlberg geborenen) mutmaßlichen Täter war 2009 wegen diverser Straftaten ein Aufenthaltsverbot für den Schengenraum ausgesprochen worden. Anfang 2019 kehrte er mit der Hilfe von Schleppern nach Österreich zurück und suchte um Asyl an. Da ihm die Grundversorgung für Asylwerber noch nicht überwiesen worden war, hatte der Mann bereits mehrfach auf der BH interveniert. Bei seinem letzten Besuch trug er ein Küchenmesser bei sich und tötete den Beamten.
"Keine gesetzliche Grundlage für präventive Haft"
Seither diskutieren Juristen, ob es nicht wenigstens möglich gewesen wäre, den Mann gleich bei seiner Ankunft in Österreich in Gewahrsam zu nehmen und damit den Mord zu verhindern. Die meisten Experten glauben das nicht. "Es gibt keine gesetzliche Grundlage für präventive Haft", meint etwa der Verfassungsrechtler Bernd-Christian Funk. Wenig Zweifel bestehen indes daran, dass der türkische Staatsbürger gemäß Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) das Recht auf ein ordentliches Asylverfahren hatte - und sehr wahrscheinlich, wenn schon kein Asyl, dann zumindest subsidiären Schutz erhalten Option gewesen; die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) steht dem entgegen, weil dem Mann zu Hause möglicherweise Folter oder erniedrigende Behandlung drohen würde. Der Verdächtige wird voraussichtlich zu einer langen Haftstrafe verurteilt werden. Ob man ihn wenigstens nach deren Verbüßung abschieben kann, ist ebenfalls unklar.
"Keiner weiß, wie dann die menschenrechtliche Lage in der Türkei sein wird", erklärte der Jurist Manfred Nowak im profil (7/2019). Wie klein der Aktionsradius nationaler Politik in solchen Fällen noch ist, lässt sich aus den Erläuterungen des Innenministeriums zur Bluttat in Dornbirn ablesen: Das Asylgesuch in einem Schnellverfahren zu behandeln, wäre nur möglich gewesen, wenn der Betreffende aus einem als sicher eingestuften Herkunftsland wie etwa Georgien gekommen wäre. Das 2009 ausgesprochene Aufenthaltsverbot sei wohl nicht mehr aufrecht gewesen, weil laut einem Erkenntnis des Europäischen Gerichtshofs derartige Verbote nur zeitlich befristet gelten dürfen. Schubhaft wiederum könne nur verhängt werden, um eine bereits avisierte Abschiebung sicherzustellen. Mit anderen Worten: Politik und Behörden waren machtlos. Selbst wer international geltende Grundrechte für ein hohes Gut und einschlägige Vereinbarungen für eine zivilisatorische Errungenschaft hält, kann angesichts dieser Fakten ins Grübeln geraten.
Unbefriedigender Status quo
Weder die Genfer Flüchtlingskonvention noch die Europäische Menschenrechtskonvention wurde einst geschaffen, um Kriminelle zu schützen. Wenn genau das nun manchmal die Folge ist: Müsste man die Regelwerke nicht adaptieren? Innenminister Herbert Kickl hatte schon vor einigen Wochen von "irgendwelchen seltsamen rechtlichen Konstruktionen " gesprochen, "die uns daran hindern, das zu tun, was notwendig ist". Er habe vor, das zu hinterfragen. Anlass für seinen Vorstoß war eine Serie von Frauenmorden gewesen, bei denen die Verdächtigen überproportional häufig keinen österreichischen Pass hatten. Vom Bundespräsidenten abwärts war Kickl heftig kritisiert worden. Jetzt darf sich der Minister ein Stück weit bestätigt fühlen. Der Status quo ist unbefriedigend, da hat er recht. Die Europäische Menschenrechtskonvention wurde am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet und drei Jahre später allgemein in Kraft gesetzt. Österreich trat der EMRK 1958 bei und hob den Pakt 1964 in den Verfassungsrang. Bis auf den Vatikan und Weißrussland sind alle europäischen Länder dem Vertrag beigetreten. In 18 Artikeln gibt die EMRK den Mitgliedsstaaten Mindeststandards für den Umgang mit ihren Bürgern vor - etwa die Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte (Artikel 1), das Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit (Artikel 4) oder die Freiheit der Meinungsäußerung (Artikel 10). Über die Einhaltung dieser Standards wacht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.
Die Genfer Flüchtlingskonvention wurde 1951 beschlossen und trat 1954 in Kraft. Ergänzt wurde die GFK 1967 durch das "Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge" und gilt seither zeitlich und geografisch uneingeschränkt für alle Menschen, die wegen Bedrohungen in ihrer Heimat Schutz benötigen. Die GFK listet auf, welche Rechte ein Flüchtling hat, also etwa Schutz vor Diskriminierung, Religionsfreiheit und Straffreiheit für illegale Einreise, sofern er sich umgehend bei den Behörden meldet und unmittelbar aus dem Fluchtland kommt.
Beide Konventionen spiegeln die Situation der 1950er-Jahre wider, als die Schrecken des Weltkrieges kaum überwunden waren und der Kalte Krieg eben erst seinen Anfang nahm. Dass sich Jahrzehnte später Millionen von Menschen auf den Weg machen würden, um in einem anderen Kulturkreis Schutz vor Krieg und Verfolgung oder auch nur eine bessere Zukunft zu suchen, konnte sich damals niemand vorstellen. Die schiere Zahl der Menschen, die seit ein paar Jahren unterwegs ist, übertrifft alles, was sich die Rechtsgelehrten und Politiker der Nachkriegszeit ausmalen konnten. Nicht einmal das UN-Flüchtlingshochkommissariat bestreitet, dass die Bestimmungen der Flüchtlingskonvention für die aktuelle Situation nur bedingt taugen. Aber solange es keine neuen Spielregeln gibt, seien diese noch die beste Basis. Man darf auch bezweifeln, dass die Welt je wieder in der Lage sein wird, sich auf ein gemeinsames Papier zu diesem Thema zu einigen.
"Refoulement"-Verbot
Zwangsweise Abschiebungen waren vor 70 Jahren kaum ein Thema. Auch deshalb konnte man bei den Bedingungen streng sein. Artikel 33 der Genfer Konvention definiert das sogenannte "Refoulement"-Verbot. Es besagt, dass ein Flüchtling nicht in seine Heimat zurückgeschickt werden darf, wenn ihm dort Folter oder andere Menschenrechtsverletzungen drohen. Unter Punkt zwei findet sich allerdings eine Einschränkung: "Auf die Vergünstigung dieser Vorschrift kann sich (...) ein Flüchtling nicht berufen, der aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes anzusehen ist, in dem er sich befindet", heißt es darin. Das wäre ein Henkel, um kriminelle Asylwerber und Migranten loszuwerden oder gar nicht erst einreisen zu lassen. Im Widerspruch dazu steht aber häufig Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention: das Folterverbot. Dieses gilt absolut und ohne Einschränkungen - und zwar nicht nur für das eigene Staatsgebiet, sondern auch für das Land, in das ein Delinquent abgeschoben werden könnte. "Ein Staat darf nicht nur selbst nicht foltern, er ist auch verpflichtet, Menschen auf seinem Staatsgebiet davor zu schützen, dass sie woanders gefoltert werden", erläutert der Verfassungsrechtler Bernd-Christian Funk. Im Gegensatz zu anderen Bestimmungen der EMRK wurde das Folterverbot nie geändert oder verwässert. Es gehört zu den Säulen des Vertrags.
Diversen Nachjustierungen unterlag im Lauf der Jahre allerdings die Begrifflichkeit als solche. "Die Entwicklung in der Antifolterkonvention war expansiv - und zwar in die Richtung, dass auch psychischer Druck wie zum Beispiel permanenter Schlafentzug jetzt als Folter gilt", so Funk: "Das ist menschenrechtlich ein Fortschritt." Er verstehe grundsätzlich, dass es nun Einwände und Debatten gebe, zumal nach einer so scheußlichen Straftat. "Aber es ist einfach so, dass die Rechtsordnung manchmal vor Problemen steht, die sie nicht wirklich lösen kann. Die einfachen Antworten, nach denen gerne gerufen wird, würden nur neue Schwierigkeiten verursachen."
Die österreichische Juristin Elisabeth Steiner war 14 Jahre lang Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, unterrichtet heute weltweit und arbeitet für die Wiener Rechtsanwaltskanzlei Lansky, Ganzger und Partner. Sogar in ihrem privaten Bekanntenkreis herrsche seit dem Kriminalfall in Vorarlberg blankes Unverständnis, erzählt sie. "Die meisten Menschen können einfach nicht fassen, dass so etwas möglich ist. Ich sehe das Problem durchaus. Aber die EMRK basiert auf dem Gedanken, dass jedes Menschenleben schützenswert ist. Davon umfasst ist auch das Leben von Straftätern." Deshalb hielte sie Änderungen etwa an Artikel 3 Menschenrechtsverordnung für äußerst problematisch, sagt Steiner. "Änderungen beim Folterverbot sind gefährlich. Nicht umsonst wurde dieses Recht als absolutes Recht konzipiert. Sonst landet man irgendwann bei der Frage, welche Art von Folter man unter welchen Umständen vielleicht doch erlauben könnte." Ein möglicher gangbarer Weg wäre vielleicht, über vorläufige Anhaltungen oder andere vorbeugende Maßnahmen unter Berücksichtigung der EMRK nachzudenken, meint Steiner. "Das obliegt jedoch dem Gesetzgeber und nicht der Judikatur."
Mehrklassensystem
Zu den gröberen Schönheitsfehlern sowohl der Flüchtlings-wie der Menschrechtskonvention gehört auch der Umstand, dass selbst unter ihren Unterzeichnern ein Mehrklassensystem herrscht. Der GFK unterwerfen sich auf dem Papier 146 Länder - darunter einige, die es nicht einmal mit den Grundrechten der eigenen Bürger sonderlich genau nehmen. Wenn Deutschland, Österreich oder Frankreich der Konvention zuwiderhandeln, sorgt das für großes Gezeter. Was auf den Philippinen, in der Ukraine oder in Kasachstan passiert, wird für gewöhnlich achselzuckend hingenommen. Unter den Vertragspartnern der EMRK wiederum befinden sich Länder wie die Türkei, die derzeit nicht einmal als sicheres Land für Abschiebungen gilt. Russland hat den Pakt zwar brav ratifiziert, behält sich aber vor, Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nur zu vollstrecken, wenn sie nicht den "grundlegenden Verfassungswerten der russischen Föderation" widersprechen. Dafür halten Wladimir Putin und seine Kollegen die Bürokratie in Straßburg ordentlich auf Trab: Von derzeit 57.250 anhängigen Verfahren entfällt mehr als ein Fünftel auf Beschwerden gegen Russland. Ein Ausschluss des anstrengenden Mitglieds steht dennoch nicht zur Debatte.
Innenminister Herbert Kickl möchte nun für besonders gefährliche Asylwerber die Möglichkeit einer vorbeugenden Sicherungshaft einführen. Das ginge nur über ein Verfassungsgesetz, weshalb die Regierung die Zustimmung von SPÖ oder NEOS braucht. Danach sieht es derzeit nicht aus. Kickl wolle lediglich vom Versagen seiner eigenen Behörde ablenken, meinte Jörg Leichtfried, stellvertretender Klubobmann der SPÖ.
Allerdings ist Kickl nicht der erste heimische Regierungspolitiker, der einen internationalen Grundrechtekatalog infrage stellt. Schon 1998 verfolgte Karl Schlögl, damals Innenminister der SPÖ, mit Unterstützung durch seinen Sektionschef Manfred Matzka, den Plan, die Flüchtlingskonvention "neu zu konstruieren". In einem Positionspapier wurde vorgeschlagen, das individuelle Asylrecht durch "ein politisches Angebot des Aufnahmelandes zu ersetzen oder zu ergänzen". Die Genfer Konvention sei eben ein Produkt des Kalten Krieges und auf die Situation von Flüchtlingen aus kommunistischen Staaten zugeschnitten, erklärte Matzka. Auf EU-Ebene wurde das von vielen so verstanden, als wolle Österreich das Asylrecht abschaffen -und entsprechend hart kritisiert. Über die "ungeheuerlichen Vorschläge" empörte sich etwa die damalige Chefin der Deutschen Grünen, Claudia Roth. Schon damals galt Österreich in dieser Frage als Outlaw. Manche Dinge ändern sich nie.