Franz Schausberger ist da, extra mit dem Zug angereist. Er weiß, wie sich bittere Niederlagen anfühlen, wurde er doch im Jahr 2004 als Salzburger Landeshauptmann abgewählt und musste der energiegeladenen SPÖ-Herausforderin und Charmebombe Gabi Burgstaller Platz machen. Diesmal steht Schausberger ohne „allzu große Erwartungen“, aber durchaus mit einer gewissen Hoffnung im ÖVP-Wahlzelt: „Bei der EU-Wahl im Juni wurde ein Durchmarsch der FPÖ prophezeit. Es kam aber besser als befürchtet und wurde relativ knapp, die ÖVP lag nur 0,8 Prozentpunkte hinter den Freiheitlichen. Theoretisch könnte eine derartige Überraschung auch bei der Nationalratswahl gelingen.“
Den Optimismus, den Abstand zur FPÖ gering ausfallen zu lassen oder gar Platz 1 halten zu können, hatten die ÖVP-Wahlstrategengezielt seit Juni angeheizt, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit die „Aufholjagd“ und das „Kanzlerduell“ beschworen. „Der Vergleich macht sicher“, plakatierte die ÖVP im Wahlkampffinale, getragen von der Überzeugung, dass die FPÖ Protest- und Zornstimmen einsammeln, in der K-Frage um die Kanzlerschaft aber weniger punkten kann. „Als Spitzenkandidat muss man zumindest Hoffnung zeigen, sonst ist die Wahl eh verloren“, fachsimpelt Schausberger. Und erinnert sich an seinen Moment der Niederlage: „Mir sind damals am Wahlabend die Tränen gekommen vor lauter Enttäuschung.“
Ein derartiger Emotionsausbruch unterläuft ÖVP-Obmann und Kanzler Karl Nehammer nicht. Um 16.40 Uhr betritt der 1,90 Meter große und 100 Kilo schwere Hobbyboxer das Zimmer im dritten Stock der Parteizentrale, in dem Minister, Klubobmann, Generalsekretär tagen. Er ist ernst, aber gefasst und gesteht ein, dass die erhoffte Aufholjagd auf die FPÖ nicht gelungen sei. „Es ist nicht das Ergebnis, das wir uns erwartet haben“, sagt er in seiner kurzen Rede. Und fügt gleich ein großes Aber hinzu: „Der Abstand zur SPÖ ist groß, das ist uns gelungen.“
Derartige Sätze knapp an der Grenze zum Schönreden wird man noch öfter hören. Kurz vor 17 Uhr marschiert die ÖVP-Führungsriege mit ernsten Mienen hinunter ins Zelt, nur Nehammer nicht. Die Ministerinnen und Minister flankieren mit Klubobmann August Wöginger den ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker und stellen sich gemeinsam vor der Bühne im Zelt auf. Dort wird auf großen TV-Schirmen die ORF-Berichterstattung übertragen. Ohne Ton. In wenigen Minuten wird die erste Hochrechnung erwartet. Die Botschaft ist eindeutig: Die ÖVP zeigt Geschlossenheit und hält zusammen, auch wenn es empfindliche Niederlagen setzt.
Wie bitter diese ausfällt, wird um 17.02 Uhr deutlich: Die erste Foresight-Hochrechnung zeigt ein dramatisches zweistelliges Minus der ÖVP, mit über minus zehn Prozent den größten Verlust der Parteigeschichte, Platz 1 ist deutlich an die FPÖ verspielt. Die Köpfe hängen. Nur als auf der Leinwand das miese Ergebnis des ziemlich besten Feindes, des ungeliebten grünen Regierungspartners, aufscheint, brandet kurz Applaus auf – wenn auch höhnischer. „Es war eine Aufholjagd, aber zu wenig“, tönt Nehammer ein wenig später, umringt von seinen Ministern.
850 Meter oder zehn Gehminuten entfernt steht SPÖ-Bundesgeschäftsführer Klaus Seltenheim als einziger hochrangiger Sozialdemokrat um 17 Uhr bei der SPÖ-Wahlfeier im Volkskundemuseum. Die SPÖ hat in den schwierigen Oppositions- und Zerfleischjahren auch Kampagnen-Know-how eingebüßt, an eine Wir-stehen-zusammen-Inszenierung hat niemand gedacht.
Ein kollektiv schockiertes „Boahhhhh!“ geht durch den Raum, als der FPÖ-Balken bei der ersten Hochrechnung immer weiter nach oben klettert und erst knapp unter 29 Prozent stehen bleibt. Es wird immer leiser, als das SPÖ-Ergebnis prognostiziert wird, ein kleines Minus, noch schlechter als 2019. „Ein schwarzer Tag für die Demokratie“, kommentiert Seltenheim und meint damit vor allem den Kantersieg der FPÖ – das erste Mal, dass sie bei Nationalratswahlen Platz 1 erobert. Das steht schon um 17.15 Uhr, 15 Minuten nach dem Schließen der Wahllokale, fest.
In Umfragen ist die FPÖ seit Monaten in der Poleposition gelegen. Dennoch hat man in der SPÖ bis zuletzt gehofft, dass der erdige Fighter und Parteichef Andreas Babler Nichtwähler elektrisieren und die Niederlage abwenden könne. Gar von Platz 1 haben die Babler-Fans geträumt, von der Rückeroberung des Kanzleramts – und nicht zuletzt vom Erfolg über die zahlreichen parteiinternen Quer- und Gegenredner. All diese Wünsche zerplatzen nach der ersten Hochrechnung, die bittere Realität sickert: Erstmals in der stolzen Geschichte der Sozialdemokratie auf den blamablen Platz 3 zurückgefallen, in ehemaligen roten Hochburgen wie der Steiermark hochkant von der FPÖ geschlagen. Traurige, gar ungläubige Gesichter bei jedem neuen Tiefstand. Nur die Ergebnisse aus den Städten, allen voran aus Wien, wo massenhaft Stimmen von den Grünen zur SPÖ fließen, bewahren die SPÖ vor einem deutlichen Wahlminus. „Wien hat das Wahlergebnis gerettet“, lautet die Parole der machtbewussten Wiener Genossen, die rasch ihre Wünsche klarmachen. Erstens: Die SPÖ will in eine Regierung, und zwar in eine Dreierkoalition mit ÖVP und Neos. Zweitens: Babler bleibt.
Um 22 Uhr stößt dann auch Andreas Babler zu „seiner“ Wahlparty. „I wäre ned der Andi, wenn ich jetzt mit Politsprech anfangen würde“, tönt er. Und: „Wir werden daraus lernen und das nächste Mal breiter werden.“ Bis dahin gelte es, eine Koalition zu bilden und die FPÖ zu verhindern: „Helft’s mir, dass ich gute Verhandlungen führe.“ Dann wird im Volkskundemuseum die „Internationale“ angestimmt. Es klingt fast ein wenig trotzig.
Niemand kann Niederlagen so freudig feiern wie die ÖVP. Auch an diesem Sonntag ist die Stimmung in den Zelten überraschend gut, frei nach dem Motto: Wahl verloren, Kanzleramt gerettet. Rund 1000 Funktionäre, Ex-Politiker und ÖVP-Fans sammeln sich in den Zelten. Karl Nehammer holt sich die Unterstützung der Landesparteichefs für die Dreierkoalition, die Parteispitzen sammeln sich wieder in den oberen Stockwerken des ÖVP-Hauses, quasi im VIP-Bereich der ÖVP-Wahlfeier. Parteigranden, aktuelle und ehemalige, wie Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner, ihr Vorgänger Erwin Pröll und Ex-Klubobmann Andreas Khol, gesellen sich dazu. Die Partei um sich versammeln, das kann Nehammer.
Bewältigt er aber auch den Husarenritt, eine Dreierregierung auszuverhandeln und anzuführen? Die Frage bleibt auch noch Monate nach diesem denkwürdigen Wahlsonntag unbeantwortet.