profil-Morgenpost

Drei Jahre Ibiza – jetzt nur kein Rückfall

Im Mai 2019 erblickte das Ibiza-Video das Licht der Welt. Die Erkenntnisse daraus sollten trotz Corona-Krise und Ukraine-Krieg nicht in den Hintergrund gedrängt werden.

Drucken

Schriftgröße

Gedanklich sind wir schon wieder zwei Krisen weiter: Zunächst drang das Corona-Virus tief in unser gesellschaftliches Gefüge und unsere persönlichen Freiheiten ein. Dann blies Wladimir Putin zum Angriff auf die Ukraine, was nicht nur die europäische Sicherheitsarchitektur, sondern auch das Wirtschaftsgefüge gehörig verändern wird. Wie genau, wird sich zeigen. Zu befürchten ist, dass vieles – auch dauerhaft – teurer wird. Bei zentralen Fragen wie der Energieversorgung zeichnen sich keine einfachen Lösungen ab. Dafür zu sorgen, dass zu den unausweichlichen Bequemlichkeits- nicht auch noch dramatische Wohlstandsverluste treten, wird eine der Hauptaufgaben der Politik in den kommenden Jahren und Jahrzehnten sein.

Immer mehr in den Hintergrund rückt da der – chronologisch vor Corona und Ukraine-Krieg angesiedelte – dritte potenziell staatsverändernde Vorgang der vergangenen drei Jahre: Mitte Mai 2019 veröffentlichten „Süddeutsche Zeitung“ und „Spiegel“ das Ibiza-Video. Wenige Tage später ging außerdem bei der Justiz eine – bis heute anonym gebliebene – detaillierte Anzeige zu mutmaßlichen Korruptionshandlungen an der Schnittstelle zwischen Politik und Glücksspielindustrie ein. Video und Anzeige formten den Nukleus strafrechtlicher Erhebungen in den höchsten Ebenen der Republik. Einige Monate suchten die Ermittler auch einen gewissen Thomas Schmid heim und stellten ein Datenbackup-Gerät sicher. Der Rest ist Chat-Geschichte. Letztlich zerbrach an Ibiza und seinen Folgen nicht nur die türkis-blaue Koalition von Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache. Auch Kurz selbst musste später – dann bereits in Koalition mit den Grünen – als Kanzler den Hut nehmen.

Ignoriert, verwässert, vergessen

Trotz derart tiefgreifender Auswirkungen besteht die Gefahr, dass die in den vergangenen drei Jahren gewonnenen Erkenntnisse über das schmutzige Innenleben gewisser Partei-, Regierungs- und Verwaltungskreise ignoriert, verwässert oder vergessen werden. Rücktritte in höchster Not sind das Eine, strukturelle Veränderungen zur Stärkung von Demokratie und Rechtsstaat etwas völlig Anderes.

Bisher ist es zum Beispiel nicht gelungen, ein Informationsfreiheitsgesetz umzusetzen, das diesen Namen auch verdient. Ein solches wäre jedoch ein wesentliches Instrument dafür, jene Transparenz in Politik und öffentlicher Verwaltung herzustellen, die Grundvoraussetzung für die Vermeidung von Korruption ist. Inseratenkorruption – der Versuch der Politik, mit Einschaltungen der öffentlichen Hand geneigte Berichterstattung in Boulevardmedien zu erkaufen – ist nicht erst seit diesbezüglichen Ermittlungen im Vorjahr ein zentrales Thema. Dennoch fehlt es bis heute an einer qualitätsorientierten Medienförderung, die derartigen Umtrieben von vornherein den Boden unter den Füßen wegziehen würde.

Rückfall in alte Muster

Werden derartige Themen nicht strukturell gelöst, folgt – wie das Amen im Gebet – ein Rückfall in alte Muster. Das zeigt das Beispiel der Telekom-Affäre vor gerade einmal einem Jahrzehnt, die damals ein riesengroßes Thema war und dennoch zu keinen grundlegenden Verhaltensänderungen im Bereich der kreativen Parteienfinanzierung und der Korruptionsanfälligkeit geführt hat. Jüngste Aussagen aus der ÖVP lassen eher nicht darauf hoffen, dass diesmal alles besser wird.

Ukraine-Krieg und Corona-Krise treffen die Bürgerinnen und Bürger direkt in ihren Freiheiten und vor allem auch in ihren Geldbeuteln. Strukturelle Korruptionsbekämpfung hingegen wirkt sich zwar auch positiv auf die Gesellschaft und somit auch auf jeden Einzelnen aus, dies jedoch eher  indirekt, langfristig und nicht unmittelbar spürbar. Direkt im Geldbeutel trifft sie in jedoch Parteien, Politiker und ihre Vasallen. Also genau jene, die letztlich Umsetzung von Reformen sorgen müssten. Die Gefahr besteht, dass die grundlegenden Lehren aus Ibiza auf der Prioritätenliste soweit nach unten rutschen, bis wenig von ihnen übrig bleibt.

Das Match um die Aufmerksamkeit

Natürlich ist auch die öffentliche Wahrnehmung stärker auf ein jüngeres Ereignis mit drastischen Auswirkungen fokussiert, als auf kleinere neue Facetten eines Vorgangs, der mittlerweile drei Jahre andauert. Das Aufmerksamkeits-Match Russland vs. Ibiza gewinnen aktuell ganz klar die Kriegstreiber im Kreml. Um Ihre Wahrnehmung erneut auch in die andere Richtung zu schärfen, lade ich Sie – geschätzte Leserinnen und Leser – ein, mit mir gemeinsam ein kleines Gedankenexperiment anzustellen.

Die ursprüngliche Legislaturperiode der Kurz-Strache-Koalition wäre heute eigentlich immer noch am Laufen. Es ist also gut möglich, dass ohne Ibiza-Video und dessen Folgen...

  • FPÖ-Außenministerin Karin Kneissl schon am ersten Tag des russischen Einmarschs in der Ukraine gegenüber ihrem Hochzeits-Tanzpartner Wladimir Putin dauerhaft eingeknickst wäre,
  • FPÖ-Innenminister Herbert Kickl angesichts ankommender Flüchtlinge aus der Ukraine Polizeipferde zum Wiener Hauptbahnhof beordert hätte,
  • FPÖ-Gesundheitsministerin Beate Hartinger-Klein jetzt gerade dabei wäre, sich mit ihrer maßnahmenkritischen Parteispitze ein Konzept für den kommenden Corona-Herbst zu überlegen,
  • Sebastian Kurz regelmäßig Lobeshymnen auf die gute Zusammenarbeit mit Heinz-Christian singen würde,
  • Thomas Schmid als ÖBAG-Chef mitverantwortlich wäre, den teilstaatlichen Supertanker OMV durch die Russland- und die Klimakrise zu steuern,
  • Sophie Karmasin und Sabine Beinschab munter bei Umfrage- und Studienaufträgen im öffentlichen Bereich mitmischen würden,
  • parteinahe Vereine längst damit begonnen hätten, am Rechnungshof vorbei Spenden mit Blick auf die bevorstehende Wahlkampfzeit einzusammeln und
  • die unbequeme Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft unter maßgeblicher Einbindung von Justiz-Sektionschef Christian Pilnacek tiefgreifenden Veränderungen unterworfen worden wäre.

Gut funktionierende Institutionen sind kein Selbstzweck, sie sind auch eine Voraussetzung dafür, große Krisen erfolgreich zu meistern. Aus der Ibiza-Affäre keine strukturellen Lehren zu ziehen, wäre ein Schaden für jede Österreicherin und jeden Österreicher. Ein Rückfall ist dann nämlich nicht nur möglich, sondern leider auch wahrscheinlich.

Einen schönen Freitag und starten Sie gut in das Wochenende!

Stefan Melichar

Stefan   Melichar

Stefan Melichar

ist Chefreporter bei profil. Der Investigativ- und Wirtschaftsjournalist ist Mitglied beim International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ). 2022 wurde er mit dem Prälat-Leopold-Ungar-Journalist*innenpreis ausgezeichnet.