Veronika F.
Erwachsenenvertreter

Eine Mutter klagt an: „Meine psychisch kranke Tochter wurde im Stich gelassen“

Das vor fünf Jahren neu gemachte Sachwaltergesetz wollte das Beste für die Betroffenen. Wer ist schuld am bodenlosen Absturz einer 41-Jährigen?

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Veronika F. legt drei Fotos auf den Tisch. Es sind Schnappschüsse aus dem Leben einer strahlenden jungen Frau, die es schon lange nicht mehr gibt. Ihre Tochter. Mit 17 als zierliches Model im roten, langen Taftkleid auf dem Laufsteg. Einige Jahre später, ihr fröhliches Gesicht in Großaufnahme, die Haare platinblond und sehr kurz. Das letzte Bild zeigt eine lässige, immer noch junge Frau im weißen T-Shirt auf einem Segelboot. Ihr Blick wirkt nachdenklich.

Von ihrer heute 41-jährigen Tochter gibt es keine Aufnahme. Seit Monaten wird sie in der forensischen Psychiatrie angehalten, vollgepumpt mit Medikamenten und des Widerstands gegen die Staatsgewalt beschuldigt. Angeblich ist sie auf eine Polizistin losgegangen. Man wird ihr einen Strafprozess machen, und wenn es ganz schlimm kommt, landet sie für unbestimmte Zeit in einem forensisch-therapeutischen Zentrum („Maßnahmenvollzug“). Was ist aus der begabten, lebensfrohen Frau geworden? Noch vor der Matura attestierten Ärzte ihr eine schwere psychiatrische Erkrankung. Wie eine Löwin kämpfte Veronika F. dafür, dass ihrer Tochter dennoch alle Freiheiten offenstehen.

Anwälte und Notare nur im Notfall

Jetzt sitzt die Mutter, eine zarte 71-jährige Pensionistin mit grauen, kinnlangen Haaren, in einem Café in Wien und versucht, Ordnung in die Geschichte eines bodenlosen Absturzes zu bringen. In ihrem Zentrum steht das Erwachsenenschutzgesetz, ein Paragrafenwerk mit hehren Absichten, das Mitte 2018 in Kraft trat und das viel gescholtene Sachwalterrecht ablöste. 55.000 Menschen waren damals „besachwaltert“, was einer Entmündigung gleichkam – doppelt so viele wie eineinhalb Jahrzehnte zuvor. Österreich handelte sich eine Rüge der UN-Kommission für die Rechte von Menschen mit Behinderung ein.

So viel Selbstbestimmung wie möglich, lautet die Devise seit der legistischen Runderneuerung des Gesetzes vor fünf Jahren. Es sieht vier Stufen der Vertretung vor, wenn Menschen körperlich oder psychisch nicht in der Lage sind, ihren Alltag zu bewältigen. Die Vorsorgevollmacht stellt die gelindeste Form dar. Danach folgen ein von den Betroffenen ausgewählter Erwachsenenvertreter sowie – als dritte Stufe – Angehörige als gesetzliche Erwachsenenvertreter; wenn alle anderen Mittel erschöpft sind, macht das Gericht einen namhaft. 36.400 gesetzliche Erwachsenenvertreter weist die Statistik aktuell aus (Stand: Jänner 2023). Kommen dafür weder Eltern, Kinder, Geschwister noch Neffen und Nichten infrage, springen Erwachsenenschutzvereine mit geschultem Personal ein. Auf Anwälte und Notare sollte bloß in Notfällen zurückgegriffen werden. Und nur in juristischen Fragen.

Veronika F.s Tochter landete in der Obhut des Mödlinger Strafverteidigers Wolf Mazakarini, also in jenem Setting, das die Gesetzesreform hintanhalten sollte. Ein unglückliches Einzelschicksal? „Keineswegs“, behaupten Richter: „Ähnliche Fälle gibt es zuhauf.“ Und es werden künftig mehr, weil in einer alternden Gesellschaft Erkrankungen wie Demenz zunehmen. Immer noch sammeln sich Dutzende, mitunter Hunderte Erwachsenvertretungen in der Hand weniger Rechtsanwälte. Die Rechtsanwaltskammer Niederösterreich listet Kanzleien auf, die für Erwachsenenvertretungen „besonders geeignet“ sind und bereits mehr als 15 übernommen haben. Mazakarinis Kanzlei ist wegen starker Auslastung gelb eingefärbt. Wie viele Erwachsenenvertretungen es hier sind, ist nicht zu erfahren. „Das unterliegt dem Datenschutz“, sagt er auf Anfrage.

Vor der UNO „abgewatscht"

Ein Anruf beim geistigen Vater des Erwachsenenschutzgesetzes: Peter Barth. Er leitet die Abteilung für Personen-, Familien und Erbrecht im Justizministerium. In das Amt war er eben erst gekommen, als er vor zehn Jahren Österreich als Mitglied der UN-Behindertenkonvention vor der UNO vertrat: „Das Sachwalterrecht war sehr entmündigend“, dafür sei er damals ziemlich „abgewatscht“ worden. Vor zwei Wochen stand eine neuerliche Staatenprüfung in Genf an. Dem mittlerweile überarbeiteten Gesetz zollte man dieses Mal Anerkennung. Allerdings verpflichtet es Bund, Länder und Gemeinden, „dafür zu sorgen, dass die Betroffenen selbstständig leben können“, so Barth. Und hier hapert es gewaltig.

„Das neue Gesetz verpflichtet Bund, Länder und Gemeinden, dafür zu sorgen, dass die Betroffenen selbständig leben können."

Peter Barth, Leiter der Abteilung für Personen-, Familien und Erbrecht im Justizministerium

Am 8. September, zu Redaktionsschluss, veröffentlicht das zuständige UN-Gremium seine jüngsten Handlungsempfehlungen. Wieder setzt es eine Rüge für Österreich. Allerorten wurden in Heimen, Spitälern und Ämtern Ressourcen zurückgefahren, „weil man weiß, dass die Justiz dann einen Erwachsenenvertreter zur Verfügung stellt“, so Barth. Das mag für die Länder praktisch und kostenschonend sein, „für die Betroffenen ist das überhaupt nicht gut“. Menschenrechtsexpertin Marianne Schulze pflichtet bei: „Die Ziele des Erwachsenenschutzgesetzes sind State of the art.“ Jedoch: Eingelöst werden sie nur mit dem unterstützenden Rundherum. Immer noch gäbe es zu viele gesetzliche Erwachsenenvertretungen, und mangels ausreichender budgetärer Ausstattung übernehmen Erwachsenenschutzvereine davon nur ein Viertel. Zu viele landen also weiter bei Rechtsanwälten und Notaren, „die nicht über die nötige Professionalität verfügen“, so Schulze: „Im Jus-Studium lernt man nichts über die Bewältigung sozialpsychologischer Aufgaben.“

Jüngst in Genf fand Zivilrechtsexperte Barth recht offene Worte: „Entweder die Justiz stockt die Erwachsenenvereine auf, damit sie die an sie herangetragene Verantwortung übernehmen können. Dafür brauchen sie fast doppelt so viel Personal.“ Nachteil: Das verschlingt Millionen, bringt Betroffenen nicht die gewünschte Selbstbestimmung und birgt das Risiko in sich, dass sich die Länder erst recht zurücklehnen. „Oder“, so Barth, „man räumt Gerichten die Möglichkeit ein, Bestellungsverfahren einzustellen, wenn sie zur Ansicht kommen, dass die betroffene Person es mit Unterstützung allein schaffen könnte.“ Dann wären die Länder am Zug. Ausgetragen würde der Konflikt freilich auf dem Rücken der Betroffenen, also der Schwächsten.

Nichts abnehmen, nicht schimpfen

Die Tochter von Veronika F. schließt trotz ihrer schweren psychischen Erkrankung die Modeschule ab, arbeitet in einem technischen Büro und reist sogar allein nach Asien. Ihre Mutter dockt beim Verein „Hilfe für Angehörige von psychisch Erkrankten“ (HPE) an, um sich mittels Kursen und Referaten anzueignen, wie sie ihr am besten beistehen kann. Sie lernt, ihrer Tochter „nichts abzunehmen, sie nicht zu schimpfen, sondern zu bestärken, damit sie möglichst allein zurechtkommt“. Auf der Psychiatrie im Wiener AKH stellt man die junge Frau medikamentös ein und baut eine tragfähige Struktur – mit Tagesklinik, Ergotherapie, Psychotherapie auf Krankenschein und einer Psychiaterin, mit der sie sich gut versteht. „Sie war wie neu geboren“, sagt Veronika F.

„Im Jus-Studium lernt man nichts über die Bewältigung sozialpsychologischer Aufgaben.“

Menschenrechtsexpertin Marianne Schulze

2016 dann der Absturz. Ihre Tochter verliert die Wohnung, zieht nach Niederösterreich. Einbrecher verwüsten ihre Wohnung, kurz darauf wird sie von einem Unbekannten im Schlaf überfallen und vergewaltigt. „Davon hat sie sich nie mehr erholt“, sagt die Mutter. Je schlechter es ihr geht, desto mehr stößt sie die Mutter von sich. Veronika F. hat mittlerweile gelernt, dass für psychisch Erkrankte die nächsten Angehörigen oft als Blitzableiter herhalten. Das Bezirksgericht bestellt den Rechtsanwalt Wolf Mazakarini als Erwachsenenvertreter, ihre Tochter ist einverstanden. Nur die Mutter lehnt sie in der Rolle ab.

Seit Mai 2018 obliegen dem Mödlinger Strafverteidiger alle Verfügungen. Veronika F. bekämpft die Entscheidung, denn sie hält den Rechtsanwalt für eine schlechte Wahl: „Er redet meiner Tochter ein, dass sie ohne ihn verloren ist, kümmert sich aber kaum um sie.“ So verstreichen Monate, bis er sie bei der Sozialversicherung angemeldet habe. Veronika F. blitzt mit sämtlichen rechtlichen Einsprüchen ab. Für die Gerichte geht der deklarierte Wille der Tochter vor. Die Mutter hofft, dass es ihr irgendwann besser geht und sie „einem anderen Erwachsenenvertreter zustimmt, einem, der wirklich für sie sorgt“. Doch der Sinneswandel tritt nicht ein.

In Handschellen in die Psychiatrie

Seit fünf Jahren erhält ihre Tochter keine Therapiestunde. Kein einziges Mal ist sie bei einem niedergelassenen Psychiater in Behandlung. Alle paar Monate durchleidet sie psychotische Episoden und landet in Handschellen in der Psychiatrie, weil sie kaum bekleidet oder bei Eiseskälte in Badeschlapfen auf der Straße herumgeirrt ist und Passanten die Polizei gerufen haben. Jedes Mal ist sie nach einer Woche wieder draußen, „obwohl die Medikamente gar nicht so schnell wirken“, sagt Veronika F. Spitäler und Psychiatrien sind überlastet.

 

„Er redet meiner Tochter ein, dass sie ohne ihn verloren ist, kümmert sich aber kaum um sie.“

Veronika F. über den Erwachsenenvertreter ihrer Tochter

Im Mai dieses Jahres eskaliert die Lage vollends. Seit Tagen empfängt die Mutter kein Lebenszeichen. Als sie bei der Polizei die Abgängigkeit ihrer Tochter anzeigen will, erfährt sie, dass sie in U-Haft ist. Wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. „Angeblich hat sie dort in der Zelle nur geschrien“, sagt Veronika F. Erst nach zwei Wochen überstellt man sie in die forensische Psychiatrie nach Mauer-Öhling. Bis heute weiß die Mutter nicht, was genau vorgefallen ist. Ihre Tochter soll eine Polizistin attackiert haben. Zuvor soll eine Bankangestellte sich bedroht gefühlt haben, als ihre Tochter auf der Suche nach ihrer Bankomatkarte den Inhalt ihrerTasche ausgebreitet habe, darunter ein originalverpacktes Gemüsemesser aus dem Supermarkt.

Polizistin attackiert?

Die Bruchstücke fügen sich für Veronika F. nicht zusammen. Mitte Juni kann sie erstmals mit ihrer Tochter telefonieren. Einmal sagt ihre Tochter: „Ich weiß nicht, warum die Polizei mich geholt hat.“ Ein anderes Mal, aus dem Nichts heraus: „Hör auf, gegen den Anwalt zu arbeiten.“ Die Mutter schreibt dem Sozialminister, der Justizministerin, klappert alle Stellen ab, die ihr einfallen. Der Erwachsenenschutzverein hat keine Kapazitäten frei, sich ihrer Tochter zu widmen, und winkt ab.

profil kontaktiert Martin Marlovits, der im Verein Vertretungsnetzwerk den Bereich Erwachsenenvertretung stellvertretend leitet. Geschichten wie jene von Veronika F. sind ihm nicht neu: „Das Bundesland zu wechseln, ist manchmal, als würde man nach China auswandern. 100 Meter hinter einer Landesgrenze stehen Betroffene vor dem Nichts.“ Landet F.s Tochter womöglich im Maßnahmenvollzug, weil nach ihrem Umzug die haltende Struktur weggefallen ist? Ihre Mutter sieht das so: „Sie hat viele Jahre mit ihrer Krankheit selbstbestimmt gelebt. Seit sie in der Obhut des Anwalts ist, hat sie nie wieder Stabilität gewonnen.“

 

„Das Bundesland zu wechseln, ist manchmal, als würde man nach China auswandern. 100 Meter hinter einer Landesgrenze stehen Betroffene vor dem Nichts.“

Martin Marlovits, Verein Vertretungsnetz

Die jüngste Reform des Maßnahmenvollzugs sollte ausschließen, dass Menschen wie ihre Tochter hier eingesperrt werden. Marlovits: „Tatsächlich hängt es mitunter von Zufällen ab, ob jemand verwarnt wird, in der Psychiatrie oder im Maßnahmenvollzug landet. Menschenrechtlich ist das höchst bedenklich.“ Am Schreibtisch von Oliver Scheiber, Leiter des Bezirksgerichts Wien-Meidling, landen viele Beschwerden. Er konstatiert: „Die wenigsten Probleme gibt es, wenn gemeinnützige Vertretungsvereine im Spiel sind.“ Wolf Mazakarini, der F.s Tochter vertritt, sagt zu den Vorwürfen: „Was früher war, dürfte nicht funktioniert haben, sonst wäre ich nicht bestellt worden.“ Von Beginn an habe es mit Veronika F. „nur Schwierigkeiten“ gegeben: „Die Zusammenarbeit mit unserer Mandantin ist sehr gut, aber sie wird von der Mutter boykottiert.“

Fehlende Krankheitseinsicht

Dass seine Mandantin jahrelang ohne Psychotherapie und fachärztliche Behandlung blieb – sieht man von psychiatrischer Notfallversorgung ab – und ihr mehrere Zähne fehlen, erklärt er damit, dass er „Therapien und Behandlungen nur anbieten kann. Der Patient muss sie annehmen und zum Zahnarzt hingehen. Zwang darf ich nicht ausüben.“ Menschen, die nicht krankheitseinsichtig sind, seien kaum zu überzeugen: „Wir sind keine Psychologen oder Streetworker, sondern eine Kanzlei.“ In der forensisch-psychiatrischen Abteilung gehe es ihr „endlich besser. Sie ist gepflegt und medikamentös gut eingestellt.“ Ob er, Mazakarini, sie im Strafprozess vertrete, „werden wir sehen“.

„Die Zusammenarbeit mit unserer Mandantin ist sehr gut, aber sie wird von der Mutter boykottiert.“

Wolf Mazakarini, Rechtsanwalt und gesetzlicher Erwachsenenvertreter

Die Sorgen der Mutter zerstreut er nicht. Veronika F. sagt, der Erwachsenenvertreter habe erst 16 Wochen nach der Verhaftung nach ihrer Tochter gesehen. Mazakarini dazu: „Sie hatte eine Verfahrenshelferin. Ich habe telefonisch Kontakt gehalten.“ Dass die Mutter einen anderen Erwachsenenvertreter möchte, lässt er nicht gelten: „Ich dränge mich nicht auf. Die Tochter ist erwachsen, ich bin nur ihr verpflichtet, und sie will das so.“ Was hält er davon, dass die 41-Jährige im Maßnahmenvollzug zu verschwinden droht? Mazakarini: „Ich darf nicht zu viel verraten, aber es hat davor schon viele Vorkommnisse gegeben. Irgendwann hat die Staatsanwaltschaft gesagt: Schluss jetzt.“

„Ich bin total im Out.“

Für den Erwachsenenvertreter scheint die Lage klar: „Das Problem ist die fehlende Krankheitseinsicht.“ Veronika F. ist überzeugt, dass ihre Tochter „mit ärztlicher und therapeutischer Hilfe selbstbestimmt leben hätte können“. So wie früher. Am Ende des Gesprächs packt sie die Fotos wieder ein. Sie sind so etwas wie die letzten Beweise dafür, dass es so nicht hätte laufen dürfen. Zum Abschied sagt sie: „Ich weiß nicht, was ich noch tun soll. Ich bin total im Out.“

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

war von 1998 bis 2024 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges.