Befremdlichkeiten: Warum wir (nicht) für Erdoğan gestimmt haben
Das also ist der normale Erdoğan-Wähler. S.*, 37, schlug das "Café Europa“ in Wien-Neubau vor. Er wartet vor der Tür und raucht. An der schwarzen Lederjacke, dem hellblauen Pulli und dem Gel im Haar ist er gleich zu erkennen. Es ist das erste von mehreren Treffen zur Frage, warum türkische Gastarbeiter und ihre Nachfahren in der alten Heimat einen starken Führer haben wollen.
profil sprach mit Anhängern und Kritikern von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Das erste Interview fand vergangenen Montag statt, das letzte vergangenen Donnerstag in einem Haus am Stadtrand, wo jenes junge Paar lebt, das wochenlang für die Oppositionspartei durch Wien gelaufen war. Am Ende kreuzten 26,5 Prozent Nein an ("Hayir“). Drei von vier Wählern (72,5 Prozent) aber fanden es gut, dass Erdoğan künftig mit eiserner Faust durchgreifen kann. Oder geht es gar nicht um Demokratie, sondern um Stolz und Dankbarkeit?
Erdoğan-Wähler S., 37
Draußen ist es dunkel, nasskalter Regen fällt. S. wirkt nervös und bestellt ein Soda Zitron. Warum will eine Journalistin mit ihm reden? Rund drei Millionen Auslandstürken durften beim Referendum am 16. April abstimmen, 108.561 in Österreich. Davon ging etwa die Hälfte zur Wahl. Am Ende hatten sich hierzulande 38.000 Türkinnen und Türken für Erdoğans Verfassungsänderung ausgesprochen. S. ist einer von ihnen.
Sein Vater kam in den 1970er-Jahren als Gastarbeiter ins Land. Die Familie stammt aus Aksaray, einer Stadt in Mittelanatolien, wo die Menschen früher entweder CHP wählten, Sozialdemokraten mit nationalistischem Einschlag, oder MHP, die faschistischen Grauen Wölfe. Am 16. April fuhr Erdoğan hier sein zweitbestes Ergebnis ein.
Sein ältester Bruder war noch in der Türkei auf die Welt gekommen, S. in Österreich. Er habe sich immer ein bisschen geschämt, wenn seine Mutter mit Kopftuch und schlechten Deutschkenntnissen in der Schule auftauchte, erzählt er. Sie arbeitete als Hausbesorgerin, der Vater war Lagerarbeiter. Heute leben die Eltern die Hälfte des Jahres in der Türkei. Jedes ihrer Kinder erhielt in Aksaray eine Wohnung.
Mit Erdoğan kam etwas Anerkennung ins Leben. S. schwärmt vom türkischen Präsidenten, auf seinem Handy sind Filme gespeichert. "Unutma“ steht in einer Ecke (Vergiss nicht!). Die Bilder zeigen, wie es früher war: Die Spitäler überfüllt, die Straßen aufgerissen, Kinder schleppten schwere Kübel voll Wasser. S. entdeckte die Videos auf der Site einer Facebook-Gruppe, die sich wörtlich übersetzt "Erdoğan-Verliebte“ nennt.
Die türkische AKP, die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, habe das Leben der Armen besser gemacht - "das ist ausschlaggebend“, sagt S. Am 16. April gab er zum ersten Mal in seinem Leben eine Stimme ab. Aus Trotz, sagt er, weil "die Medien hier eine Riesensache aus der Macht Erdoğans machen, ohne abzuwarten, was er damit will“. Er liest die "Krone“ und die Gratisblätter in der U-Bahn. Früher kaufte sein Vater die Zeitung "Hürriyet“; seit es über Satellit türkische TV-Kanäle gibt, sieht die Familie nur noch fern.
S. betrachtete es als seine Pflicht, in der türkischen Armee zu dienen. Sie schickte den damals 25-Jährigen in ein Skigebiet im Osten. Dort habe er gelernt, dass Demokratie etwas für stabile Länder sei, die Türkei aber einen starken Mann brauche. Dass Journalisten und Kritiker ins Gefängnis kommen, findet S. nicht gut, aber auch nicht besonders empörend. Eine seiner Schwestern lebt in Istanbul. Sie und ihr Mann gehen gegen die Regierung auf die Straße und werden nicht eingesperrt. So schlecht könne es um die Freiheit nicht bestellt sein.
Seine Frau lernte S. in der Türkei kennen. Ein Bräutigam aus Europa habe einst als Lottogewinn gegolten. "Jetzt wollen die Frauen nicht mehr weg.“ Auch das gehört zur neuen, stolzen Erzählung: Man muss nicht mehr auswandern. S. handelte in Österreich mit Autoteilen, das Internet ruinierte das Geschäft. Seit einem Jahr ist er arbeitslos. "Im Mercedes-Werk in Aksaray sucht man Leute mit Deutschkenntnissen“, sagt er. Der jüngere seiner beiden Söhne ist eineinhalb; bevor er in die Schule kommt, möchte die Familie in die Türkei übersiedeln. Er könnte auch in einem Tourismusgebiet am Meer neu anfangen: "In der Türkei hätte ich heute alle Chancen.“ Unnötig zu betonen, dass diese ihm in Österreich fehlen.
Hüseyin Tütüncü, 57
Der Besitzer des Restaurants "Kent“ am Brunnenmarkt in Wien-Ottakring sitzt im Speisesaal, der früher einmal ein Tanzlokal war. Er trägt eine sportliche Dreiviertel-Hose, Turnschuhe und eine graue Mütze auf dem kahlen Kopf: "Österreich ist mein Land. Ich will, dass es ihm besser geht. Das geht nur mit Arbeit“, sagt Hüseyin Tütüncü. Ein Angestellter huscht vorbei, um Aufträge in Empfang zu nehmen. Zwei der Söhne kümmern sich um das Geschäft, der Seniorchef zieht im Hintergrund die Fäden: "Ich habe neun Kinder und alle unter Kontrolle.“ Tütüncü war 14, als er 1973 aus Trabzon am Schwarzen Meer, seit jeher eine Hochburg der Rechtskonservativen und Nationalisten, ins niederösterreichische Mauerbach kam.
Der Vater arbeitete in einem Sägewerk. Der Bub fand eine Stelle in der Fernsehproduktion von Grundig-Minerva in Wien. 1988 kam Bürgermeister Helmut Zilk auf Betriebsbesuch. Tütüncü wurde ihm als jüngster Arbeiter präsentiert. Er nutzte die Gelegenheit in eigener Sache: "Binnen drei Wochen habe ich die Staatsbürgerschaft und eine Gemeindewohnung bekommen.“ 1990 sperrte die Grundig-Fabrik zu, kurz darauf eröffnete Tütüncü das "Kent“. Aus anfänglich 80 Quadratmetern wurden mittlerweile 1000. Es sei schwer, Personal zu finden, sagt der Gastronom: "Der österreichische Staat gibt zu viel Unterstützung. Kellner verdienen 1500 Euro netto, aber viele Leute haben lieber 1000 Euro und schlafen den ganzen Tag.“
Erdoğan ist das Stichwort für ausgiebige Huldigungen. Tütüncü goutiert den "tüchtigen Mann an der Spitze“ ebenso wie die Mauer zu Syrien, "damit keiner mehr drüberkommt“, und die vollen Gefängnisse: "Nur im Parlament sitzen noch einige, die weggehören.“ Er fliege selbst oft in die Türkei. "Warum habe ich nie Probleme?“, fragt er und gibt auch gleich die Antwort: "Weil ich brav arbeite und keine Politik mache.“
Sirvan Ekici, 44
Sie war Integrationsbeauftragte der Wiener ÖVP, arbeitet als Universitätslektorin in Wien und Ankara und pendelt als Unternehmensberaterin zwischen den Welten. Sirvan Ekici kennt den Blick der Ausgewanderten, der nur das Positive umfasst: die bombastischen Flughäfen, die aufgewertete türkische Lira, die Schokolade, die es längst auch in Supermärkten in Anatolien zu kaufen gibt. Sie fühlen sich missverstanden und bevormundet, wenn Europa nur dunkle Bedrohungen sieht - Demokratieabbau, Menschenrechtsverletzungen, Wiedereinführung der Todesstrafe -, während ihnen selbst alles hell und freundlich erscheint. Ekici ist mit allen Seiten vernetzt, ihr Bild von der heutigen Türkei enthält auch das, was die türkischen Gastarbeiter im Heimaturlaub nicht mitbekommen: europäische Unternehmen, die sich verunsichert zurückziehen; türkische Unternehmen, die noch schnell versuchen, in der EU Fuß zu fassen; Machtkämpfe innerhalb der Regierungspartei; eine Bürokratie, die sich durch Denunzierungen selbst lähmt; nachhaltig gestörte internationale Beziehungen.
Durch das Land geht ein Riss: die Wohlhabenden und Gebildeten versagen Erdoğan die Gefolgschaft; in den ländlichen Regionen hingegen herrscht Ergebenheit. Europa mache sich nicht die Mühe, zu hinterfragen, warum 50 Prozent der türkischen Bevölkerung Erdoğan und seine AKP nun schon zum vierten Mal wählen, sagt Ekici: "Das können nicht nur die Reden sein, die er schwingt.“ Für seine Wähler gehe es nicht um Außenpolitik. Viele haben in Spontansiedlungen ohne Wasser, Klo und Strom gehaust und leben nun in einer Sozialwohnung, ihre Eltern bekommen Pflegegeld und ihre Kinder ein Stipendium: "Das muss man wissen, auch wenn man mit der Politik Erdoğans nicht einverstanden ist.“ Ekici konnte als österreichische Staatsbürgerin beim Referendum nicht abstimmen.
Mahmut Mirzanli, 39
Es geht dieser Tage oft um die Frage, wie es die türkischen Einwanderer mit der Demokratie halten. Mahmut Mirzanli kommt eben von einer Debatte im ORF-Sender Ö1. Der Sprecher der AKP-nahen Union Europäisch-Türkischer Demokraten (Uetd) in Wien hatte in die Runde geworfen, dass es den Minderheiten in der Türkei besser gehe als türkischstämmigen Migranten in Österreich. Darüber ärgert sich Mirzanli eine Stunde später immer noch. Sein Vater, ein kurdischer Alevit, war Anfang der 1970er-Jahre mit einer fixen Jobzusage eines Stahlunternehmens nach Österreich gekommen. Die Mutter folgte einige Jahre später. In der Schule bot man dem Buben Türkischkurse und islamischen Religionsunterricht. Mirzanli schaffte es ins Gymnasium, danach begann er in einer Bank zu arbeiten. "Ich habe hier jede Chance bekommen. Es wäre schön, wenn es Minderheiten in der Türkei auch nur annähernd so gut hätten.“
Mirzanlis Vorfahren stammen aus Tunceli, wo die Mehrheit die sozialdemokratisch-kemalistische CHP oder die prokurdische HDP wählt. Am 16. April holte sich Erdoğan dort die bitterste Abfuhr im ganzen Land. Mirzanli war nicht wahlberechtigt, stimmte im Geiste aber ebenfalls mit Nein. In politischer Hinsicht ist die Provinz das Gegenteil von Anatolien, wo seit jeher nationalistische und fromme Strömungen ineinanderfließen. Von hier kommt das Gros der türkischen Gastarbeiter. Auch in Mirzanlis Bekanntenkreis finden sich AKP-Anhänger. Die ideologischen Gräben seien immer tief, aber nicht unüberwindlich gewesen: "Bei manchen hing zu Hause die Fahne der Grauen Wölfe, bei uns gab es linke Symbole - alles kein Thema.“ Neuerdings aber höre man bei Demos in Österreich immer öfter osmanische Märsche. Die Textzeilen seien für einen kurdischen Aleviten kaum zu ertragen: "Ich sterbe für dich, Türkei.“ Oder: "Ich opfere mich für deine Schönheit, mein Land.“
Ebru Fidan, 27, und Çağdaş Arslan, 28
Ebru Fidan, 27, ist die Generalsekretärin der türkischen Oppositionspartei CHP in Wien, Çağdaş Arslan, 28, fungiert als Vizeobmann. Die junge Frau stellt Kokosgebäck auf den Tisch: "Es hat mich geschmerzt, dass ich als österreichische Staatsbürgerin nicht abstimmen durfte“, sagt sie. Arslan kocht schwarzen Tee. Er arbeitete am Institut für internationale Beziehungen an der Bosporus Universität in Istanbul und schreibt in Wien nun seine Masterarbeit. Beim Referendum kreuzte er selbstverständlich Nein an.
Arslan legt CHP-Folder auf den Esstisch aus Glas, daneben die Flyer der AKPler. Auf seinem Handy ruft er eine rot-blau eingefärbte Karte von der Türkei auf. Das blaue Nein-Lager in den ländlichen Gebieten wird von roten Ballungsräumen und Industriezonen gesäumt. Der Schlüssel zum Verständnis der türkischen Diaspora in Österreich liegt für Arslan in Mittelanatolien, genauer in der östlich von Ankara sich erstreckenden Provinz Yozgat. 72 Prozent stimmten hier mit Ja. Das deckt sich mit dem hiesigen Wahlergebnis.
"In Österreich leben 30.000 Menschen aus dieser Region“, sagt Arslan. Allein in Wien gibt es drei große Vereine, in denen sich Yozgat-Auswanderer treffen. Österreich habe es verabsäumt, ihnen beim gesellschaftlichen Aufstieg unter die Arme zu greifen. Nun, da in Europa die Rechtspopulisten auf dem Vormarsch seien, bleibe den angefeindeten türkischen Muslimen nur noch Erdoğan als letzter Held. In den Wochen vor dem Referendum stellte das junge Paar Infostände in Wiener Migrantenbezirken auf. In vielen Wohnzimmern laufe nur türkisches Staatsfernsehen.
Laut einer Auswertung von eksisozluk.com kamen Erdoğan und seine Partei in den ersten Märzwochen hier auf 4113 Minuten Sendezeit, die sozialdemokratische CHP auf 216 Minuten und die prokurdische HDP auf eine einzige Minute. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht zum Weinen wäre, sagen Fidan und Arslan: "Das Abstimmungsergebnis hat uns zwar nicht gefreut, überrascht hat es uns aber auch nicht.“ Nicht viele in Österreich können das von sich behaupten.
*Name der Redaktion bekannt
Dieser Artikel stammt aus dem profil Nr. 17 vom 24.4.2017. Das aktuelle profil können Sie im Handel oder als E-Paper erwerben.