Wahlen in der Türkei

Erdoğans Wahltaxi für Austrotürken

In Österreich stehen Türken besonders treu hinter Recep Tayyip Erdoğan. Seine rot-weiß-rote Bastion dürfte halten. Auch dank des Guerilla-Wahlkampfes mit zig Kleinbussen und einem „türkischen Tesla“.

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Der Abend am 2. Mai. Vor dem türkischen Generalkonsulat in Wien-Hietzing reicht die Schlange bis zur nächsten Kreuzung. Seit 27. März können Auslandstürken bis 9. Mai ihre Stimme für die Parlaments- und Präsidentschaftswahl in der alten Heimat abgeben. Der Andrang ist ungebrochen. Vor dem Eingang parken drei weiße Mini-Vans. Der Parkplatz scheint fix für sie reserviert. Aus einem der Autos steigt ein Mann mit UID-Leiberl. Die Abkürzung steht für den Verein „Union Internationaler Demokraten“, eine Vorfeldorganisation der AKP und so etwas wie Erdoğans Wahlkampfbüro in Österreich.

Die AKP war schon immer gut darin, ihre Wähler zu den Urnen zu bringen. Bei dieser Wahl nimmt die UID ihren Auftrag besonders wörtlich. Sie hat ein Shuttle-Service eingerichtet. Die Rede ist von 50 Mini-Vans, die Wahlberechtigte in den hintersten Winkeln des Landes abholen und gratis zu den sechs Wahllokalen zwischen Wien und Bregenz kutschieren. Ein Anruf genügt. Hunderte lokale Unterstützer sollen potenzielle Wähler auch gezielt kontaktieren, um den Fahrdienst anzupreisen, erzählen Insider. Als Quelle dient das Wählerverzeichnis.

Die Sprit-Spende

Einer der Fahrer erzählt, er sei bis ins oberösterreichische Gmunden und wieder retour gefahren. „Ich bin täglich bis zu 16 Stunden unterwegs“, sagt er. Auf die Frage, wer seine Dienste bezahle, gibt er sich wortkarg. „Freiwillig“, meint er. Und das Benzin? „Spenden“, meint der andere. Eine Anfrage an die UID bleibt unbeantwortet. Laut dem türkischen Botschafter in Österreich, Ozan Ceyhun, fließt dafür kein Geld aus Ankara. Wahlkampffinanzierung im Ausland verbiete die Türkei.

Wahltaxi

Flugzettel bewerben den Transport zu Wahlurnen in Wien und fünf anderen Städten. Gratis.  Aus ganz Österreich.

Rund 108.000 Menschen in Österreich sind in der Türkei wahlberechtigt. Bei den vergangenen Wahlen schnitten Erdoğan und seine AKP hierzulande um durchschnittlich 20 Prozent besser ab als in der Türkei selbst. Obwohl Erdoğans Herausforderer, Kemal Kılıçdaroğlu, in Umfragen führt, dürfte Erdoğans Bastion in Österreich auch dieses Mal halten. Der Nimbus als starker Führer, der auf seine Landsleute im Ausland schaut und ihnen neues Selbstbewusstsein verleiht, scheint hier ungebrochen. Die Wirtschaftskrise, die Erdoğan daheim massiv schadet, weit weg.

Diese Erdoğan-Folklore der Diaspora erzürnt die Gegner des Präsidenten in der Türkei. Sie werfen Auslandstürken vor, in Ländern wie Österreich Meinungsfreiheit, Demokratie und ein gutes Sozialsystem zu genießen, bei Wahlen in der alten Heimat jedoch jene Person zu unterstützen, die all das untergräbt. Erdoğan.

Hier spricht der Präsident

Damit seine Fans trotz der Distanz zur Türkei zur Wahl gehen, hat die AKP in Österreich über 20 Jahre ein Netz an Unterstützern gesponnen. Erdoğan selbst gab den Startschuss und besuchte Wien als frisch gebackener Ministerpräsident im Juli 2003. Am Wiener Brunnenmarkt schüttelte er Hände, redete mit Anwohnern und schlenderte wie ein Popstar zwischen den Verkaufsständen umher. Auch zwei Monate vor der Präsidentschaftswahl 2014 besuchte Erdoğan erneut Wien. Es war die erste Wahl, an der Auslandstürken in ihren neuen Heimatländern teilnehmen durften. 7000 Fans pilgerten in eine Eishalle in Wien-Donaustadt, um ihm zuzujubeln. Er holte in Österreich rekordverdächtige 80 Prozent der Stimmen.

Provokante Auftritte türkischer Politiker und der Protest heimischer Politiker dagegen wurden schon fast zum Ritual. So warnte der damalige Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) vor den Präsidentschaftswahlen 2018 medienwirksam davor, „den türkischen Wahlkampf nach Österreich zu tragen“. Das Erdoğan-Lager sah darin den Beweis, dass alle im Westen „gegen ihn“ seien. So half die Polarisierung den Populisten auf beiden Seiten.

Die Wahlbeteiligung in Österreich stieg über die Jahre auf 50 Prozent. Heuer erwartet der Botschafter einen neuen Rekord von mindestens 55 Prozent. Ein Wahlbeobachter glaubt an noch mehr. „Kurz vor Wahlschluss um 21 Uhr sind 1500 Menschen gekommen. Der Andrang ist ein Wahnsinn“, erzählt er am 4. Mai. Und das, obwohl die AKP wegen des Ramadan auf pompöse Wahlkampfinszenierungen verzichtete.

Mit einer Ausnahme. Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu nutzte seinen Staatsbesuch am 14. April auch für einen Wahlkampfauftritt vor geschätzten 2000 Fans in Wien-Liesing. Die UID hatte einen Hochzeitssaal gebucht, offiziell fürs Fastenbrechen. Wie alle seine offiziellen Termine an diesem Tag legte der Außenminister auch den Weg nach Liesing im Fond eines SUV der Marke TOGG zurück. Das neue Elektro-Fahrzeug markiert die Rückkehr der Türkei als Autoproduzent. Entsprechend beflügelt der „türkische Tesla“, der in der Türkei gerade vom Band rollt und in Westeuropa 2024 auf den Markt kommt, den Nationalstolz. In Erdoğans Wahlkampf ist TOGG omnipräsent. Für Çavuşoğlus Besuch ließ das türkische Außenministerium einen TOGG per Frachtflugzeug eigens von Ankara nach Wien ausfliegen. Als der Minister auf dem Weg zum Fastenbrechen in Wien-Favoriten an der Zentrale des größten türkischen Islam-Vereins Atib vorbeizuckelte, wurde er hundertfach bejubelt und fotografiert.

Angekommen in der Halle in Wien-Liesing, sprach Çavuşoğlu schließlich vom Pult aus zur fahnen-schwenkenden Menge und schaltete als Highlight Erdoğan per Handy zu.

Ein Bridge-Club gegen die AKP

„Auch wir versuchen, mit Bussen und Fahrgemeinschaften Wählerinnen und Wähler zu den Wahllokalen zu bringen. Zum Beispiel aus St. Pölten, wo viele Kurden leben. Die Mittel, die die AKP im Wahlkampf einsetzt, haben wir aber nicht“, erzählt Zülküf Karatekin in einem kargen Vereinslokal im 15. Wiener Bezirk. An der Wand Bilder der kurdischen Berge, die Fenster verdunkelt, ein paar Sitzgruppen lose im Raum verteilt, wirkt der Raum wie eine Antithese zum brechend vollen Hochzeitssaal.

Karatekin ist in Österreich einer der Wahlkampfleiter der kurdischen Partei HDP, die sich für die Parlamentswahlen in ein Bündnis mit der „Linken Grünen Partei“ eingegliedert hat und bei der Präsidentschaftswahl Erdoğans Gegner Kılıçdaroğlu unterstützt. Karatekin war Bürgermeister der 400.000-Einwohner-Stadt Kayapınar, saß wegen angeblicher Verbindung zu Terroristen viereinhalb Jahre in Haft, wie Dutzende Bürgermeister in Kurden-Hochburgen im Osten der Türkei, und floh 2020 über Griechenland nach Österreich.

Pilgern zur Wahl

Rekordverdächtiger Andrang von Austro-Türken vor Generalkonsulat in Wien-Hietzing

Bei den letzten Türkei-Wahlen erhielt die HDP in Österreich knapp zwölf Prozent und lag damit noch vor den Sozialdemokraten der CHP, die sich mit ihrem Vorsitzenden Kılıçdaroğlu in der Türkei eine Rückkehr an die Macht erhofft. In Österreich führt die 1923 vom Staatsgründer und ersten türkischen Präsidenten Mustafa Kemal Atatürk etablierte Partei seit jeher ein Randdasein.

„Im Vergleich zur AKP sind wir ein Pensionisten-Bridge-Club“, sagt Ecevit Uzunkaya, Generalsekretär des österreichischen CHP-Ablegers. Der eine oder andere Bustransport sei sich durch Spenden ausgegangen. Im große Stile Wähler herumzufahren wie die UID, sei aber nicht leistbar.

Hasan Altun bedauert die Schwäche der CHP in Österreich. Er achtet als Wahlbeobachter im türkischen Generalkonsulat auf die Rechtmäßigkeit der Wahl. „Ich unterstütze Kılıçdaroğlu, weil dieser die Menschenrechte achtet.“ In Österreich werde sich Erdoğan aber wieder durchsetzen, sagt er mit Blick auf die Schlange von Wählern, in der Frauen mehrheitlich Kopftuch tragen.

Prozession zum Wahllokal

„Wir sind wegen der Religion hier“, sagt eine junge Muslima aus Niederösterreich, die ebenfalls verhüllt ist. Sie wartet auf ihre Eltern, die gerade ihren Stimmzettel einwerfen. Unter Kılıçdaroğlu und der CHP könnten die Rechte türkischer Frauen, im öffentlichen Dienst oder an den Unis Kopftuch zu tragen, wieder eingeschränkt werden, fürchtet sie. Eine Angst, die von der AKP bewusst geschürt wird. Tatsächlich war die CHP historisch eine treibende Kraft hinter strengen Verhüllungsverboten im öffentlichen Leben. Doch Kılıçdaroğlu hat wiederholt klar gemacht, dass er an der Freiheit, den Hijab zu tragen, nicht rütteln werde.

Eine andere Frau in der Schlange hat ihre schwarzen Haare mit grauen Strähnen zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. „80 Prozent da drin sind für Erdoğan. Für die Leute scheint der Wahlgang ein religiöses Ritual zu sein“, ist sie erstaunt über den Konservatismus der Austro-Türken. In den USA, wo sie bis vor einem halben Jahr gelebt habe, würden sie bei Wahlen in der alten Heimat mehrheitlich links wählen.

TOGG in Favoriten

Der türkische Außenminister winkt in Favoriten aus neuem türkischen E-Auto TOGG, das extra von der Türkei eingefolgen wurde.

„Viele der türkeistämmigen Gastarbeiter und ihre Nachfahren stammen aus AKP-Hochburgen in Zentralanatolien. Sie sind deutlich religiöser als der Durchschnitt der türkischen Gesellschaft. Und dadurch auch weniger motiviert, vom traditionellen Wahlverhalten in der Familie abzugehen“, nennt der kurdischstämmige Soziologe, Kenan Güngör, einen wesentlichen Grund, warum Österreich anders tickt.

Ein weiterer: Die große Mehrheit der Austrotürken sind Sunniten. Nur geschätzt 20 Prozent der Wahlberechtigten zählen sich zu den Aleviten, einer liberalen Strömung des Islam, zu der sich auch Kılıçdaroğlu im Wahlkampf bekannte. Ein Tabubruch, weil Aleviten von Sunniten gemeinhin nicht als wahre Moslems angesehen werden und wiederholt Opfer blutiger Anschläge wurden. Auch viele Kurden gehören der Religionsgruppe an.

Aleviten wählen wegen ihrer westlicheren Lebensweise in der Regel nicht AKP oder Erdoğan. Mitunter führt diese Lebensweise dazu, sich rascher im neuen Land zu integrieren und die Staatsbürgerschaft zu holen – womit sie in der Türkei nicht mehr wahlberechtigt sind. Uzunkaya von der CHP Österreich drückt es so aus: „Die Leute, die einer republikanisch-sozialdemokratischen Partei wie der CHP nahestehen, legen viel eher die türkische Staatsbürgerschaft ab als die ‚integrationsträgen‘ AKP-Wähler.“

Der SPÖ-Bezirksrat in Wien-Favoriten, Ali Bayraktar, ist Alevit und findet es befremdlich, wie leidenschaftlich Türken auch nach 20 Jahren Aufenthalt in Österreich noch Erdoğan wählen. Durch niedrige Hürden zur österreichischen Staatsbürgerschaft könnte die Türkei-Wahl für Austro-Türken eines Tages irrelevant werden, hofft er.

Letzte Ausfahrt Brunnenmarkt

Am Wiener Brunnenmarkt, der trotz vieler syrischer Stände noch immer ein Zentrum türkischen Lebens ist, erhitzt der Wahlkampf weiterhin die Gemüter. In seinem Restaurant zählt der Besitzer die angeblichen Errungenschaften Erdoğans auf – vom TOGG über ein neues Kriegsschiff, Eigenbau-Kampfdrohnen bis zum neuen Atomkraftwerk. Dass sich mehrere Parteien gegen Erdoğan verbünden müssten, beweise nur dessen Stärke.

Vor einem Gemischtwarenhandel sitzt Verkäufer Yilmaz Uzun, der seit 2011 in Österreich lebt. Diesmal wird er zum ersten Mal, seitdem er den Militärdienst verweigerte und von Istanbul nach Wien zog, zur Wahl gehen. „Es ist die letzte Ausfahrt“, sagt er. Er spricht von Steuermilliarden, die in der Türkei versickert seien, vom Abbau der Pressefreiheit und von den islamischen Würdenträgern, die die AKP in einflussreiche Ämter gehievt habe. Wenn Erdoğan abgewählt wird, würde Uzun auch wieder einmal seine Familie und Freunde in der Türkei besuchen. Zurzeit traut er sich das nicht.

Moritz Ablinger

Moritz Ablinger

war bis April 2024 Redakteur im Österreich-Ressort. Schreibt gerne über Abgründe, spielt gerne Schach und schaut gerne Fußball. Davor beim ballesterer.

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.