Bundeskanzer Sebastian Kurz bei seiner Rede vor dem Europäischen Parlament in Strassburg am Dienstag, 3. Juli 2018

EU-Vorsitz: Sind wir nach 23 Jahren endlich in Europa angekommen?

Am 1. Juli hat Österreich den EU-Vorsitz übernommen. Sind wir - 23 Jahre nach dem Beitritt - endlich in Europa angekommen? Oder gerade dabei, uns wieder zu entfremden? Gehören wir noch zum Westen oder sind wir schon Osten? Und welche Rolle spielt Kanzler Sebastian Kurz im Kreis der Regierungschefs?

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Anmerkung: Dieser Artikel erschien in der profil-Ausgabe vom 25.6. 2018.

Guntram Wolff gehört nicht zu den Untergangspropheten, die lustvoll Katastrophenszenarien auswälzen, dazu ist er zu sehr nüchterner deutscher Ökonom. Derzeit malt aber auch der Direktor des Brüsseler Thinktanks Bruegel die Zukunft der EU in düsteren Farben: "Die Themen Migration und Flüchtlinge sind eine Zerreißprobe für die EU -und zwar eine weit gefährlichere als die Euro-Krise."

Und eine Annäherung der Asyl-Streitpositionen ist, Sondergipfel hin, Flüchtlingsgipfel her, nicht in Sicht. Geschweige denn eine gemeinsame Vorgangsweise.

In dieser heiklen Gemengelage übernimmt Österreich am 1. Juli zum dritten Mal nach 1998 und 2006 sechs Monate lang den Vorsitz in der EU. Die Österreicher sehen das trotzdem nüchtern. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Unique research für profil meint eine relative Mehrheit von 36 Prozent, der Vorsitz sei "eine gute Sache, weil man Einfluss nehmen kann" - dicht gefolgt von 31 Prozent, die glauben, der Vorsitz gehöre "halt dazu, man könne realpolitisch aber nicht viel ausrichten". 21 Prozent würden auf die Präsidentschaft lieber verzichten, da diese "nichts bringt und nur Geld kostet". Und 39 Prozent sind der Ansicht, Österreich sei "zu klein, um Einfluss zu nehmen". Bundeskanzler Sebastian Kurz arbeitet derzeit intensiv daran, sein Gewicht in Europa zu stärken. Doch wie durchschlagskräftig ist er wirklich? Hat sich der Umgang der Politik mit der EU verändert? Und wo stehen Österreich und seine Einwohner im Vergleich? Eine Standortanalyse zur Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft.

Der Kurz-Faktor

Sebastian Kurz ist der erste österreichische Kanzler, für den die EU eine Selbstverständlichkeit darstellt: Er kennt seit Kindheitstagen nichts anderes. Doch wo steht Kurz? Und wo positioniert er Österreich in der EU? Erkundigt man sich bei Kurz oder seinen engsten Vertrauten, lautet die Antwort auf beide Fragen: "In der Mitte": geografisch, weltanschaulich, wirtschaftspolitisch. Erkundigt man sich bei Kurz' Kontrahenten, lautet die Antwort: "rechts" beziehungsweise "sehr rechts".

Das hängt zunächst mit den Freunden und Freundesfreunden des Kanzlers zusammen. Wenn Vizekanzler und FPÖ-Obmann Heinz-Christian Strache pseudolustige Selfies mit Italiens Innenminister Matteo Salvini ins Netz stellt, berührt das auch die Kanzler-Sphäre. Strache bezeichnet Salvini, Chef der rechten Lega, als "Freund und Verbündeten". Der italienische Innenminister hatte erst in der Vorwoche angekündigt, eine Zählung der Angehörigen der Roma-Minderheit durchführen zu wollen. In einem Interview mit dem "Standard" meinte Kurz, wer auf Salvini oder auch Ungarns Premier Viktor Orbán herabschaue, spalte die EU. Donnerstag vergangener Woche nahm Kurz auf Einladung von Orbán an einem Treffen der Visegrád-Staten (Ungarn, Tschechien, Slowakei und Polen) in Budapest teil. Das Thema: Flüchtlinge. Österreich und die Visegrád-Staaten seien sich beim Thema "Grenzschutz" einig, so Orbán, und sprach wörtlich von einer "Achse Visegrád-Wien".

Nüchtern betrachtet spielte noch kein österreichischer Bundeskanzler auf der EU-Bühne eine solche Hauptrolle wie Kurz. Innerhalb kurzer Zeit gelang es ihm, ein informelles Bündnis von Ländern zu bilden, die sich gegen die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel wenden. Ohne Abstimmung mit der deutschen Kanzlerin entwickelte Kurz mit Dänemarks Regierungschef Lars Lökke Rasmussen Pläne für Asylzentren außerhalb der EU. Sollte Kurz solche zwischenstaatliche Aktivitäten auch während der österreichischen Ratspräsidentschaft entfalten, wäre dies allerdings ein Bruch mit allen EU-Usancen. Ein Vorsitzland hat Neutralität zu wahren, eine Moderatorenrolle einzunehmen -auch wenn diese Rolle seit dem Lissabon-Vertrag kleiner wurde.

Kurz wird den EU-Vorsitz auch dazu nützen, seinen Wahlkampfschlager "Flüchtlinge" auf die europäische Ebene zu heben. Beim Besuch der bayerischen Staatsregierung vergangenen Mittwoch in Linz kritisierte der Kanzler seine deutsche Amtskollegin Merkel höflich, aber frontal. Diejenigen, "die 2015 die Grenzen öffneten", würden "die Schuld" daran haben, dass es heute "Grenzkontrollen zwischen Österreich und Bayern, Ungarn und Österreich, Italien und Österreich" gebe. Die gemeinsame Sitzung der bayerischen Staats-und der österreichischen Bundesregierung eignete sich perfekt als Propagandaspektakel für die bayerische CSU. Nahezu das gesamte Kurz-Kabinett war mit dem Zug angereist, ein rechter Zeitaufwand. Deutsche Journalisten witzelten: "Seid ihr jetzt 17. Bundesland?" und: "Breaking News. Er hat wieder einmal die Balkanroute geschlossen."

Dass Kurz die Nähe von EU-Kritikern - manche meinen: zu EU-Spaltern - sucht, stößt bei seinen innenpolitischen Kontrahenten auf heftige Kritik. Der scheidende NEOS-Chef Matthias Strolz schrieb in einem Gastbeitrag für "Die Zeit" von einer neuen "Achse der Prinzipienlosen". Nationalkonservative Populisten um Kurz und Orban würden "professionell und kaltschnäuzig, eloquent und hemmungslos" versuchen, Europa umzubauen. Kurz und seine Verbündeten hätten "keine Vision für Europa, aber sie haben Lust auf Macht".

Abseits des Flüchtlingsthemas ist es tatsächlich schwer, klare Positionen oder gar Visionen in Kurz' EU-Politik auszumachen. Bei diversen Veranstaltungen vergangene Woche, bei der Mitarbeiter der EU-Kommission in Wien, Experten und besorgte EU-Aficionados zusammentrafen, wurde allseits beklagt, dass die österreichische Haltung zu den wichtigsten Fragen weitgehend unbekannt sei. Es gebe keine Stellungnahme zu einzelnen Eckpunkten des Budgetentwurfs, man höre immer nur: dass man nicht mehr zahlen wolle. Auch zum 2017 von der EU-Kommission veröffentlichten Grundsatzpapier "Future of Europe", das um Weichenstellungen kreist -EU-Kompetenzen beschränken? Ausweiten? Auf den Binnenmarkt reduzieren? -, gibt es keine offizielle Positionierung Österreichs.

Vielleicht sind derart inhaltsschwangere Festlegungen auch mit dem EU-kritischen Koalitionspartner FPÖ unmöglich. Vor zwölf Jahren polterte FPÖ-Obmann Heinz-Christan Strache heftig gegen den EU-Vorsitz Österreichs und nannte die Präsidentschaft "Schmierenkomödie", "eine einzige Buffetfresserei" und "absurdes Elitentheater".

Triumphgeheul und Anti-EU-Populismus

Wird das kleine Österreich gegen das große Deutschland bestehen? Kann es seine Identität bewahren? Derart bange Fragen wurden vor dem EU-Beitritt 1995 hitzig diskutiert -und vom Mann mit Steirerhut, der durch den Regierungswerbefilm stapfte, mit "eh kloa" beantwortet. Als identitätsstiftende Ingredienzien wurden "Eierschwammerl", "Paradeiser", "Grammeln" und 20 andere Kulinarik-Austriazismen im "Protokoll Nummer 10" des Beitrittsvertrags und damit im EU-Primärrecht verankert. Österreichs Politiker bejubelten das fast so euphorisch wie den Sieg von Cordoba. Ohne übertriebenes Triumphgeheul ging es selten ab, wenn Österreich von Verhandlungen aus Brüssel zurückkam. Schon der Beitrittsvertrag wurde als "Wunder" verkauft, dabei war es schlicht ein rechtschaffenes Kompromissergebnis.

Wer mit derartigem Getöse in Gespräche zieht, dem bleiben blamable Niederlagen nicht erspart: Vom Transitvertrag über das Bankgeheimnis bis zu deutschen Studierenden zog Österreich den Kürzeren -in Bestemm-Themen wie dem Kampf gegen Gentechnik und Atomkraft sowieso. Beim rechtzeitigen Suchen von Verbündeten scheiterte Österreich regelmäßig. "Wir bilden kaum strategische Allianzen", kritisiert Paul Schmidt von der Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE). Die Rechnung dafür wird bei Abfuhren präsentiert -zuletzt im Vorjahr, als sich Österreich um zwei EU-Agenturen (Bankenaufsicht und Arzneien) bewarb und mit der "Ohrfeige" (ein EU-Diplomat) ganz weniger Punkte hochkant durchfiel. Noch peinlicher: Für EU-Posten nominierte Österreich bevorzugt zwei Kandidaten - einen der SPÖ, einen der ÖVP -mit dem Resultat, dass ein anderer Mitgliedsstaat zum Zug kam, dessen Regierung geeint eine Person ins Rennen schickte.

Proporzdenken, ein Hang zum Kleingeistigen, gewürzt mit einer deftigen Prise Anti-EU-Populismus bildeten stets die Grundmuster des österreichischen Europaverhaltens: Kandidatenküren arteten in Bazarhandel aus - Motto: Tausche EU- Kommissar gegen ORF-Chef. Für Europawahlen wurden bevorzugt Fernseh-Moderatoren, Schauspielerinnen, Kaiser enkel und andere Promis aufgeboten, profunde Europapolitiker kommen selten zum Zug. Man darf schon jetzt gespannt sein, wen die Parteien für die EU-Wahl 2019 nominieren.

Angesichts der teils platten Wir-gegen-Brüssel-Attitüde heimischer Spitzenpolitiker kann es niemand wundern, dass die Europaskepsis hoch ist. Erschwerend kommt dazu, dass der EU-Beitritt zeitgleich mit der Globalisierung passierte: Konkurrenz durch Billiglohnländer, prekäre Jobs und Reallohnverluste wären mit oder ohne Beitritt gekommen, wurden aber vor allem der EU angelastet. Nicht zuletzt von österreichischen Politikern, für die sich "Brüssel" als Schuldiger für alles anbietet.

Auf der anderen Seite neigen Regierende zu hemmungslosem Schönreden der EU und der überbürokratischen Übererfüllung von Normen. Die Buchstabensuppe auf den Speisekarten etwa ist eine Fleißaufgabe. Ein schlanker Verweis auf Allergene und das fachkundige Personal hätte völlig gereicht. Aber so lässt sich leichter gegen die "Bürokratie aus Brüssel" schimpfen.

Das kleine Wir-sind-wir

Im EU-Kosmos galt Österreich nach dem Beitritt 1995 als das Portugal oder Belgien Mitteleuropas: ein kleines Land, wirtschaftlich abhängig von einem dominanten Nachbarn. Die Osterweiterung der Union brachte auch eine Aufwertung Österreichs. Aus dem Kleinstaat unter 15 Mitgliedsländern wurde ein vergleichsweise mittelgroßes unter 28 Ländern mit Nachbarn wie Ungarn, Slowenien oder der Slowakei, in denen österreichische Industrie- und Finanzkonzerne eine dominante Rolle spielen. Anders formuliert: Österreich ist wieder wer. Ohne genau zu wissen, wer eigentlich.

Das Selbstbild ist einigermaßen klar. Laut der Umfrage von Unique research geben 15 Prozent der Befragten an, Österreich sei ein Störenfried in der EU. 18 Prozent folgen der bevorzugten Sicht des Bundeskanzlers, wonach Österreich ein "Brückenbauer" sei. 39 Prozent zeigen Minderwertigkeitsgefühle und glauben, Österreich sei zu klein, um Einfluss zu haben. Guntram Wolff vom Bruegel-Institut formuliert es so: "Österreich ist eines der wichtigen kleinen Länder."

Alles in allem sind die Österreicher halbwegs zufrieden mit Europa, wie eine Umfrage der Gesellschaft für Europapolitik belegt. So schreiben über 60 Prozent der Union eine verbindende Rolle zu, sehen die EU als Hüterin von Demokratie und Grundrechten und als Garant für Wohlstand. "Eine Mehrheit ist der Ansicht, dass unser Land von den EU-Institutionen fair behandelt wird und auch weiß, seine Interessen durchzusetzen", sagt ÖGfE-Generalsekretär Paul Schmidt.

Die Österreicher sind aber auch zufrieden mit sich selbst. Laut einer Eurobarometer-Umfrage im Auftrag der EU-Kommission bezeichnen sich 86 Prozent als "glücklich", EU-weit sind es dagegen nur 83 Prozent. Dass in einer (von Erwin Ringel präzise analysierten) neurotischen Verdrängungsgesellschaft überdurchschnittliche Fröhlichkeit herrscht, hätte man so nicht vermutet. Österreicher sind auch optimistischer: Während laut Eurobarometer 58 Prozent der EU-Bürger meinen, alle Menschen hätten die gleichen Chancen, glauben dies hierzulande 70 Prozent. Gegen uns spricht, dass wir resistenter gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen sind. Laut Daten des European Social Survey zweifeln Österreicher häufiger am Klimawandel als andere Westeuropäer. Mögen die Österreicher in Migrationsfragen rechts denken, anderswo stehen sie links. Unter 21 abgefragten Ländern liegt Österreich an siebter Stelle, wenn es um ein Ja zum Kampf gegen Einkommensungleichheit geht. Und nach wie vor sind wir religiöser als andere Europäer.

Umverteilung und Glaubensfragen stehen allerdings nicht auf Österreichs Agenda für den EU-Vorsitz.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin