Wollte man Lopatka schmeicheln, dann erklärt man ihn zum besten Testimonial für den Anspruch der ÖVP, die originale Europapartei in Österreich zu sein. Für „Freiheit und das Zusammenwachsen von Europa“ engagierte er sich an der Seite des früheren ÖVP-Chefs Erhard Busek lange vor dem Fall des Eisernen Vorhangs im Wendejahr 1989. Mit Busek fuhr er zu geheimen Sitzungen der verbotenen Gewerkschaft Solidarność in Polen. In Rumänien wurde er 1989 nach einem Treffen mit Kirchenvertretern wegen angeblichen Schmuggels von Kulturgütern festgenommen. In Lettland musste er sich in einem Priesterseminar vor den Sowjets verstecken.
Der 2022 verstorbene Busek war Vizekanzler der rot-schwarzen Koalition, als Österreich nach einer Volksabstimmung am 12. Juni 1994 mit 1. Jänner 1995 der EU beitrat. ÖVP-Außenminister Alois Mock war der „Held von Brüssel“, der die komplizierten Verhandlungen mit der EU führte. Ihm zur Seite stand Wirtschaftsminister Wolfgang Schüssel. Aller drei Politiker galten als „glühende Europäer“ und begründeten den Ruf der ÖVP als Europapartei, die den Beitritt zur Union schon vorantrieb, als die SPÖ ihn noch geschlossen verweigerte.
Imagewandel
Mittlerweile hat das Image gelitten, was vor allem den ÖVP-Spitzenkandidaten der vergangenen Europawahl im Jahr 2019, Othmar Karas, erregt. Im Oktober 2023 hatte der derzeitige Erste Vizepräsident des Europäischen Parlaments öffentlich angekündigt, nach 25 Jahren nicht mehr zu kandidieren. In seiner Erklärung knöpfte sich Karas die eigene Partei vor: „Die ÖVP ist nicht mehr die Europapartei und nicht mehr die Kraft der Mitte.“ Für Karas’ Geschmack führt der schwarze Kurs bei Zuwanderung, Asyl und Integration zu weit nach rechts; gibt sich seine Partei zu wenig EU-euphorisch. So lautet ihr aktueller Slogan: „Europa. Aber besser.“ Früher war die ÖVP Europapartei pur, ohne Wenn und Aber.
Auch die schwarze Zusammenarbeit mit der EU-skeptischen FPÖ sah Othmar Karas kritisch. Einzelne Initiativen kritisierte er schlicht als „sinnlos“, etwa Nehammers Vorstoß gegen die – ohnehin nicht geplante – Abschaffung des Bargelds. Karas im Oktober 2023: „Solche Debatten sind das Spielen mit Ängsten ohne faktischen Hintergrund. Das stärkt am Ende nur jene, die keine Lösungen wollen, namentlich die FPÖ.“
Schon vor fünf Jahren hatte sich die ÖVP-Führung unter Sebastian Kurz mit Karas schwergetan und die heutige Europaministerin Karoline Edtstadler als Listenzweite an seine Seite gestellt. Heuer wollte die Partei sich den renitenten und intern als äußerst kompliziert bekannten Karas nicht mehr antun. Zumal der Langzeitmandatar auch nicht mehr als besonderer Stimmenbringer gilt. Also machten sich Karl Nehammer und die Seinen auf die Suche nach einem attraktiven Kandidaten, vorzugsweise einem Quereinsteiger wie schon 1996 bei der ersten Europawahl. Damals hatte die ÖVP die „ZIB“-Moderatorin Ursula Stenzel und Kaiserenkel Karl Habsburg nominiert. Vor fünf Jahren gewann sie ORF-Moderator Wolfram Pirchner für die schwarz-türkise Liste.
Auch heuer suchte man unter Promis aus dem Show- und Kulturbusiness – vergeblich. Aktive Regierungsmitglieder wie Edtstadler und Jugendstaatssekretärin Claudia Plakolm weigerten sich. Am Ende wurde es Reinhold Lopatka. Der sagte rasch zu. „Nihil petere, nihil recusare“ („Nichts anstreben, nichts ausschlagen“) sei eine wichtige politische Regel, die er in seiner Karriere befolgt habe, so Lopatka vergangene Woche zu profil. Als „dritte Wahl“ oder „Notlösung“ sieht er sich nicht: „Von allen Kandidaten habe ich mit Sicherheit die breiteste Erfahrung und das größte Netzwerk. Unter anderem bin ich seit mehr als zehn Jahren EU-Ausschussvorsitzender im Nationalrat.“
Er habe die italienische Premierministerin Giorgia Meloni kennengelernt, als diese in der Regierung von Silvio Berlusconi für die Sportagenden zuständig war, so Lopatka. Luxemburgs Premier Luc Frieden kenne er von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Ob Meloni und Frieden sich so gut an Lopatka erinnern wie er sich an sie, wird man ab Herbst in Brüssel beobachten können.
Europathemenarmut
Vergangenen Mittwoch steht Lopatka am wuselnden Wiener Schottentor in der Innenstadt, begleitet von einem Dutzend junger ÖVP-Helfer in weißen Überwurfjacken. Morgendliche Verteilaktionen zählen zu den mühsamsten Terminen für Wahlkämpfer. Der letzte Termin vom Vortag steckt meist noch in den Knochen. Und so früh am Morgen steht nur wenigen Bürgerinnen und Bürgern der Sinn nach Konversation. Solange Kipferl und Brioche-Weckerl zu verteilen sind, geht es noch leicht. An Flyern und Kugelschreibern sind die Passanten weniger interessiert.
Auf keinen Fall dürfen Bürger belästigt werden. Lopatka beherrscht die Technik, Passanten kurz den Weg zu verstellen, um Augenkontakt herzustellen. Gelingt das nicht, tritt er rasch beiseite. Einfach fallen Gespräche, wenn man einen Bekannten trifft, was an einem Ort wie dem Schottentor oft passiert.
Kommt Lopatka mit dem Volk ins Gespräch, dreht es sich nicht um die Wahl, für die er kandidiert, sondern um kommunale Themen. Eine Frau beklagt sich, dass der Schienenersatzverkehr für die U-Bahn nicht funktioniere; eine andere, dass die Straßenbahn überfüllt sei. Es ist eine Erfahrung, die Lopatka immer wieder macht: „Die Bürger interessieren sich weniger für EU-Themen. Alles wird schon von der Nationalratswahl im Herbst überlagert“, sagt er. Was er nicht sagt: Keinem Spitzenkandidaten gelingt es, ein Europathema zu platzieren.
Reinhold Lopatka hat bereits einige Wahlen gewonnen, allerdings nicht als Spitzenkandidat, sondern als Wahlkampfmanager. Im Jahr 2000 führte er die steirische Landeshauptfrau Waltraud Klasnic zu einem fulminanten Wahlerfolg. ÖVP-Obmann Wolfgang Schüssel wurde auf ihn aufmerksam und betraute ihn mit der Kampagne für die Nationalratswahl 2002. Die ÖVP triumphierte mit 42,3 Prozent. Schüssel wurde erneut Kanzler und Lopatka Generalsekretär der ÖVP. Vier Jahre später verlor die Partei – wider Erwarten – die Wahl gegen Alfred Gusenbauers SPÖ. Kaum einer hatte es für möglich gehalten, außer Lopatka, der aufgrund der Umfragezahlen bereits Tage vor der Wahl wusste, dass es sich nicht ausgehen würde. Schüssel ging, Wilhelm Molterer kam, Lopatka verließ die ÖVP-Parteizentrale und wurde Sportstaatssekretär; 2008 unter ÖVP-Chef Josef Pröll Staatssekretär im Finanzministerium; 2012 unter dessen Nachfolger Michael Spindelegger Staatssekretär im Außenamt. Ein Ministeramt – nihil petere – blieb ihm verwehrt. Seinen Karrierehöhepunkt erreichte Lopatka im Oktober 2013. Nach der Wahl machte ihn Spindelegger zum Klubobmann und damit zu einem der mächtigsten Politiker der Volkspartei.
Giftküche und Telefonzelle
Wollte man Reinhold Lopatka reizen, dann hält man ihm seinen Ruf vor. Selbst die nüchterne Austria Presse Agentur bezeichnet ihn als „Ränkeschmied“, dem vorgehalten würde, „ein Meister der politischen Intrige zu sein“, dem „Dirty Campaigning“ nicht fremd sei, obwohl er stets dreinblicke, „als könnte er kein Wässerchen trüben“.
Vor allem in der SPÖ war er schlecht gelitten. Wiens früherer Bürgermeister Michael Häupl sprach gern von der „Giftküche Lopatkas“. Als Klubobmann warb er Abgeordnete des sich auflösenden Team Stronach für den ÖVP-Klub an – gegen den Willen des damaligen Parteichefs und Vizekanzlers Reinhold Mitterlehner, der Lopatka gern losgeworden wäre. Doch dieser blieb, verhielt sich aber wenig konstruktiv.
So sah das auch der 2016 angetretene SPÖ-Kanzler Christian Kern, der Lopatka nach dessen wiederholten Sticheleien vorwarf, „ein politischer Selbstmordattentäter“ zu sein, „der sich einsam in einer Telefonzelle in die Luft sprengen“ würde. Lopatka konterte, Kern lebe in einer „Schwarz-Weiß-Welt“. Neben Innenminister Wolfgang Sobotka galt er als Hauptsaboteur der Koalition unter Kern und Mitterlehner. Im Mai 2017 trat Mitterlehner zurück. Die vorgezogenen Wahlen gewann Sebastian Kurz. Doch in der neuen, türkisen ÖVP war kein Spitzenplatz mehr für den aus einer anderen Generation stammenden Lopatka.
Wer sich so lang in der Berufs- und Spitzenpolitik hält, muss das Handwerk beherrschen. Dazu gehört, sich eine Homebase zu schaffen. Bei Lopatka ist dies sein Heimatbezirk Hartberg in der Oststeiermark, wo er sich ein Grundmandat für den Nationalrat sicherte.
Neuerfindung
Überdies gelang es Lopatka, sich immer wieder neu zu erfinden. Nach dem Regimewechsel in der ÖVP von Schwarz auf Türkis schuf er sich eine Nische in der Außen- und Europapolitik. Er wurde Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlungen von OSZE und Europarat und leitete Beobachtungsmissionen bei Parlamentswahlen, etwa im vergangenen Jahr in Serbien. Vergangene Woche traf er sich im Dienste der OSZE mit russischen Diplomaten in Istanbul.
Politische Strategie ist die große Stärke des Reinhold Lopatka. Deshalb sprach er sich parteiintern immer für die Option einer schwarz-blauen Zusammenarbeit aus, um die SPÖ so unter Druck setzen zu können. Bei der Bundespräsidentenwahl 2016 war er der einzige Promi-Schwarze, der den FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer für wählbar erklärte. Doch nun schließt er eine Zusammenarbeit mit der FPÖ – auch ohne deren Obmann Herbert Kickl – kategorisch aus. Aus taktischen Motiven: Der Kampf gegen die FPÖ soll ihm im EU-Wahlkampf ein stärkeres Profil verleihen.
Sein politisches Motto fand Lopatka, Jurist mit Zweitfach Theologie, einst beim Ordensgründer Don Bosco: „Fröhlich sein, Gutes tun und die Spatzen pfeifen lassen.“ Wer das verinnerlicht, hat wohl wirklich nichts zu verlieren.