Dazu passt die hohe Wahlverweigerung bei EU-Wahlen. Nur in der Euphorie des Anfangs, bei der ersten EU-Wahl 1996, überstieg die Wahlbeteiligung die Marke von 50 Prozent. Danach raffte sich über ein Jahrzehnt nicht einmal jeder und jede Zweite ins Wahllokal auf, 2014 etwa erreichte die Wahlbeteiligung nicht mehr als kümmerliche 45,4 Prozent. Nur bei der Europawahl 2019, die eine Woche nach der Veröffentlichung der Politbombe Ibiza-Video und nach dem Platzen der ÖVP-FPÖ-Koalition stattfand, stieg die Wahlbeteiligung auf 59,8 Prozent. Immer noch niedrig, der Vergleich macht sicher: Nationalratswahlen sind dagegen wahre Publikumsrenner. 2019 wählten dort immerhin 75 Prozent. Dabei werden 80 Prozent der heimischen Gesetze in der EU eingeleitet, aber das scheint sich noch nicht recht herumgesprochen zu haben.
So richtig ernst nimmt das Wahlvolk die Europawahl also nicht. Die Parteien aber erst recht nicht. Die EU-Wahl gilt als kein Fall für Profis, bei keinem anderen Urnengang wird so bereitwillig und oft Laiendarstellern die Politbühne überlassen. Erfahrung oder Kompetenz galten dabei nur selten als Kriterien – als wichtigste Eigenschaft der Kandidaten für Brüssel und Straßburg zählte anderes: Prominenz.
So hat sich bei den bisher sieben EU-Wahlen in Österreich ein seltsames Bündel an Kandidaten angesammelt: Schauspielerinnen, Fernsehansager, Journalisten, Ex-Politiker. Die teils fröhlich dilettierten. Bei einer Wahl, die Parteichefs für wirklich bedeutsam halten, werden Quereinsteiger nie in die allererste Reihe gestellt, dort sollen sie weiter hinten glänzen – bei der Europawahl hingegen führen sie oft die Liste an. Offensichtlich in dem Bemühen, der ungeliebten EU mehr Glamour und Strahlkraft zu verleihen.
Ruf als Wunderwuzzis
Das Prinzip „Hauptsache prominent“ galt schon bei der allerersten EU-Wahl 1996: Damals setzte die ÖVP mit ORF-Journalistin Ursula Stenzel, der bekannten „Zeit im Bild“-Moderatorin, und dem Kaiserenkel Karl Habsburg gleich zwei Quereinsteiger an die Listenspitze. Und eroberte damals erstmals überraschend nach 30 Jahren Pause und SPÖ-Dominanz wieder Platz 1 bei einer bundesweiten Wahl – womit Quereinsteiger ihren Ruf als Wunderwuzzis bei EU-Wahlen etabliert hatten. Die Politkarriere von Karl Habsburg dauerte nicht lange, sie endete 1999 unrühmlich mit dem World-Vision-Spendenskandal. Ursula Stenzel hielt es länger in der Politik: Bis 2005 saß sie im Europaparlament, danach sorgte sie als Bezirksvorsteherin der Wiener Innenstadt mit lautstarkem Anwettern gegen Silvesterpfad, eingetragene Partnerschaft und Muslime für Daueraufregung – bis sie 2015 für die FPÖ kandidierte.
Für diese wiederum hatte der damalige Parteichef Jörg Haider bei der EU-Wahl 1996 auch auf Quereinsteiger gesetzt: Spitzenkandidat war damals Franz Linser, der ehemalige Konditionstrainer des Ski-Nationalteams. Auf Platz 2 der zweite Quereinsteiger: Peter Sichrovsky, streitbarer Publizist. Die FPÖ schaffte 1996 mit 27,5 Prozent das bis heute ungeschlagene Rekordergebnis bei einer bundesweiten Wahl.
Bei der nächsten Wahl 1999 kopierte die SPÖ das Erfolgsmuster „Prominenz von außen“ und setzte auf den Bestsellerautor und Globalisierungskritiker Hans-Peter Martin. Sie eroberte damit zwar Platz 1 – handelte sich aber viel Zores mit dem eigenwilligen Martin ein, der sich aufs Aufdecken von Spesenmissbrauch spezialisierte und 2004 als Ich-AG und „Liste Martin“ kandidierte – und sich mit ORF-Journalistin Karin Resetarits wieder eine Quereinsteigerin holte. Martin blieb länger in der Politik als seine Quereinsteiger-Kollegin von 1999 – die Schauspielerin Mercedes Echerer, die für die Grünen antrat, aber nur eine Amtsperiode im EU-Parlament ausharrte.
2004 setzte die SPÖ nach dem Abenteuer Hans-Peter Martin auf den langjährigen EU-Abgeordneten Hannes Swoboda, der Platz 1 halten konnte. Für die FPÖ errang der rechte Publizist Andreas Mölzer ein Mandat und etablierte sich als blauer EU-Mann – bis er 2014 vor einem „Negerkonglomerat“ in der EU warnte und auf Druck der FPÖ-Spitze weichen und für Harald Vilimsky Platz machen musste.
2009 holte die ÖVP ihren ehemaligen Innenminister Ernst Strasser aus der Polit-pension zurück und setzte ihn Othmar Karas als Spitzenkandidaten vor die Nase – was sie später bereute: Strasser stolperte spektakulär über die Cash-for-Law-Affäre, die Korruptionsdiskussion begleitete die ÖVP noch lange.
Als nächster Quereinsteiger versuchte ORF-Journalist Eugen Freund für die SPÖ als Spitzenkandidat bei der Wahl 2014 sein Glück, Platz 1 konnte er aber nicht erobern. Bei der Wahl 2019 verfielen die Grünen, damals außerparlamentarische Opposition, auf die Fernsehköchin Sarah Wiener, die neben Werner Kogler kandidierte. Und im EU-Parlament nicht weiter auffiel.
Wie viele ihre Vorgängerinnen und Vorgänger als Quereinsteiger.