Was hat Österreich aus der Fluchtwelle 2015 gelernt, Herr Konrad?
profil: Welche Unterschiede sehen Sie zwischen den Fluchtwellen 2015 und 2022?
Konrad: 2015 kamen Leute aus Syrien, Irak, Afghanistan, die lange Wege übers Meer und über den Balkan hinter sich hatten, zum Teil zu Fuß. Entsprechend sind sie auch angekommen. Schlecht gekleidet, schlechtes Schuhwerk, erschöpft. Jetzt kommen Flüchtlinge mit Autos, mit der Bahn, mit Bussen, Koffern und sind ganz anders gekleidet, sind Mitteleuropäer. 2015 gab es zu Beginn eine große Willkommenskultur. Doch bald entstand der Eindruck, wir werden überrannt. Die Haltung in der Regierung ist rasch gekippt-und damit auch in der Bevölkerung. Heute gibt es anscheinend eine länger andauernde Willkommenskultur, vor allem auch vonseiten der öffentlichen Hand.
profil: Sind Ukrainer leichter integrierbar?
Konrad: Dass Flüchtlinge unterschiedlich gesehen werden, irritiert mich. Vom Grundsatz der Menschenwürde her ist das nicht zulässig. Aber ich muss die Realität zur Kenntnis nehmen. Die meisten Österreicher haben eine andere Einstellung zu Frauen und Kindern aus der Ukraine als zu Buben und Männern aus Afghanistan. Deswegen ist dieses Mal auch die Bereitschaft, privat Menschen aufzunehmen, viel größer als vor sieben Jahren. Die Situation mit den Ukrainern ist eher mit dem Ungarnaufstand 1956 zu vergleichen als mit 2015. Wie im Jahr 1956 ruft die Regierung die Bevölkerung aktiv auf, die Flüchtlinge zu unterstützen. 2015 war es fast das Gegenteil.
profil: Welche Rolle für die Aufnahmebereitschaft spielt der nicht islamische Hintergrund der Ukrainer?
Konrad: Offenbar eine große. Die Akzeptanz des Islams hat sich in eine unerfreuliche Richtung entwickelt. Für meine Einstellung macht die Religionszugehörigkeit keinen Unterschied, auch wenn es in der Praxis natürlich Herausforderungen gibt. Ich hatte 2015 und 2016 bei mir im Haus irakische Flüchtlinge aufgenommen. Einen Vater mit zwei Söhnen. Wir hatten das Problem, dass die Männer meiner Frau nicht in die Augen schauen konnten und prinzipiell mit Frauen nicht geredet haben. Das hat eine Zeit lang gedauert. So etwas spielt eine gewisse Rolle im Umgang miteinander.
profil: Wie sehen Sie es heute, dass die Flucht ab 2015 zunächst männlich dominiert war?
Konrad: Das hatte mit den größeren Distanzen und ganz anderen Fluchtrouten zu tun. Gerade in Afghanistan haben viele Familien ihre jungen Leute, die keine Perspektive hatten, losgeschickt, damit sie im Westen Fuß fassen und andere aus der Familie nachkommen können-oder auch nicht. Im Vergleich zu ukrainischen Männern, die ihre Frauen und Kinder an die Grenze bringen und selbst wieder zurückgehen und zur Waffe greifen, mutet es weniger heroisch an, wenn man aus Syrien oder Afghanistan vor dem Wehrdienst flüchtet. Aber die Verbundenheit eines afghanischen oder ukrainischen Flüchtlings zu seinem Land ist in keinster Weise zu vergleichen. Deswegen bin ich sehr, sehr vorsichtig mit dem Urteil: Du flüchtest zu Recht, du nicht. Das zu werten, ist für mich inhuman. Es ist nie eine einfache Entscheidung, sich mit Sack und Pack in eine ungewisse Situation zu begeben.
profil: Was haben wir aus der Flüchtlingswelle 2015 gelernt?
Konrad: Erstens: Die Aufnahme der Ukrainer ist nun eine gemeinsame europäische Aktion. Das ist ein Riesen-unterschied zu 2015. Zweitens: Unsere Behörden haben rascher reagiert. Drittens: Wir hatten mehr Ressourcen in petto. Auch deswegen ist es jetzt leichter, die Menschen unterzubringen.
profil: Die anerkannten Flüchtlinge von 2015 und danach bekamen Mindestsicherung. Ukrainer nur Grundsicherung. Das ist ein Bruchteil davon.
Konrad: Aber sie werden wohl viel rascher zu arbeiten beginnen. Deswegen ist es gut und wichtig, dass bei uns bei der ersten Registrierung sofort die berufliche Qualifikation erhoben wird. Auch das ist eine wesentliche Lehre aus 2015.
profil: Lösen Ukrainer Österreichs Fachkräfteproblem?
Konrad: Das können wir nicht erwarten. Die meisten wollen wieder zurück, was ihnen zu wünschen ist. Dann hinterlassen sie vielleicht größere Lücken als vorher.
profil: 2021 suchten wieder beinahe 40.000 Menschen aus dem Nahen Osten oder Afrika um Asyl an. Schafft Österreich zwei Fluchtwellen parallel?
Konrad: Österreich hat nach wie vor eine negative Bilanz zwischen Geburten und Sterbefällen. Wir brauchen Zuzug, wenn wir nicht schrumpfen wollen. Woher der Zuzug kommt, können wir uns vermutlich nicht mehr so sehr aussuchen. Von einer Durchdringung mit Menschen aus dem Nahen Osten oder Afrika wie in Frankreich oder Italien sind wir zudem noch weit entfernt.
profil: Sie meinten einmal, Österreich hat durch die letzte Fluchtwelle "keinen Schaden erlitten". Haben wir 2015 geschafft?
Konrad: In Wahrheit, ja. Zunächst war wichtig, dass niemand erfriert auf der Straße, wenn wir uns an die Zelte vom Winter 2015 erinnern. Und in weiterer Folge hat sich auch die politische Propaganda, dass die Kriminalität dramatisch steigt, nicht bewahrheitet.
Für die traurigen Rekorde an Frauenmorden in Österreich waren Afghanen und Syrer kaum verantwortlich"
profil: Es gab mehrere Mädchenmorde, wie jenen an Leonie, begangen von jungen Flüchtlingen. Bei sexualisierter Gewalt stachen vor allem Afghanen aus der Statistik eindeutig heraus.
Konrad: Das stimmt. Solche Phänomene treten in einer offenen Gesellschaft leider auf. Aber es ist nach wie vor so, dass sich Menschen weiterhin bei Nacht auf die Straße trauen, im Unterschied zu anderen Ländern. Die Sicherheitslage ist im Griff. Und für die traurigen Rekorde an Frauenmorden in Österreich waren Afghanen und Syrer kaum verantwortlich.
profil: Damals war von rund zwei Milliarden Euro die Rede, welche die Fluchtwelle 2015 gekostet hat. Wann kippt der Beitrag der Flüchtlinge zum Sozialsystem ins Positive?
Konrad: Das kommt auf die berufliche Ausgangsposition an. Die Staatsverschuldung hat durch die Flüchtlingskrise von 2015 insgesamt nicht wesentlich zugenommen. Die ganzen politisch verstärkten Sorgen, dass unser Sozialsystem kippt, waren unbegründet. Unser Wohlstand hat sich nicht verschlechtert.
profil: Haben damals die Schlagzeilen über Kriminalität und Sozialhilfe die Stimmung kippen lassen von Willkommenskultur zu Verabschiedungskultur, oder war das die Politik?
Konrad: Es war ein Zusammenspiel. Die politische Dimension war stark. Was die FPÖ gepredigt hat, wurde von Teilen der ÖVP übernommen. Sebastian Kurz war das Resultat. Er hat die Wahlen mit rechten Stimmen gewonnen. Und jetzt ist die ÖVP abgestürzt auf 22 Prozent, ohne dass Flüchtlinge etwas dafür können.
Sebastian Kurz hat mit seiner Art der Kommunikation und seinem Umgang mit Politik alles mitgerissen, was da war"
profil: Der Aufstieg von Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz war stark mit seiner harschen Migrations-Linie verbunden. Was bleibt davon?
Konrad: Sebastian Kurz hat mit seiner Art der Kommunikation und seinem Umgang mit Politik alles mitgerissen, was da war. Sein Aufstieg war genauso raketenhaft wie sein Absturz. Da bleibt nicht viel, eigentlich gar nichts, außer eine schlechte Nachrede. Er war ein Weltmeister im Erkennen, was es am nächsten Tag zum Machterhalt braucht. Aber es fehlte das ernsthafte Interesse, das Land langfristig zu verändern.
profil: Österreich war und ist bei der Aufnahme von Flüchtlingen stets führend dabei. Wie sehr hat das Österreich verändert?
Konrad: Bisher merke ich nichts. Wir waren immer ein Schmelztiegel und im Vergleich zu den größten Zuwanderergruppen sind Afghanen oder Syrer eine kleine Zahl.
profil: Ungarn, Tschechen, auch Bosnier, fügten sich rasch ein in die Gesellschaft. Seit den 2000er-Jahren hat man in urbanen Schul- und Wohnwelten den Eindruck, die Durchmischung nimmt tendenziell ab.
Konrad: Das ist so. Die Anzahl an Familienfesten zwischen den Kulturen sind überschaubar. Da ist schon jeder lieber in seinem Schrebergarten. So richtig durchmischt ist unsere Gesellschaft noch nicht. Aber die Welt wächst zusammen, auch bei uns. Da bin ich zuversichtlich.
profil: Wie hat Ihre Zeit als Flüchtlingskoordinator den Blick auf Österreich verändert?
Konrad: Es hat mir schlaflose Nächte bereitet. Weil ich die Ablehnung der Menschen dem Fremden gegenüber festgestellt habe. Ich bin immer auf andere Menschen zugegangen. Unabhängig von Herkunft und Hautfarbe. Ein netter, anständiger Afrikaner ist mir lieber als ein grantiger, unguter Wiener. Diese generelle Ablehnung hat mich sehr belastet und motiviert, für das Gegenteil einzutreten.
profil: Sieht man die Schattenseiten von Zuwanderung von der Sonnenseite der Gesellschaft aus weniger gut?
Konrad: Das kann schon sein. Aber es hilft, wenn die Leute auf der Sonnenseite mehr über die Vorteile von Zuwanderung reden.
profil: Und wie nimmt man die Leute besser mit, die näher an den Schattenseiten leben?
Konrad: Mit Ernsthaftigkeit, Diskussion, Zuhören und dem Appell zur Toleranz.
profil: Wohin soll Österreich in Fragen der Zuwanderung gehen, was wäre ein neues Narrativ?
Konrad: Man muss nur die Realität besser erklären. Schauen wir uns die Namen der Fußballnationalmannschaft an, die Besetzungsliste der Staatsoper, die Zahl der philippinischen Pflegekräfte oder zugewanderten Ärzte, die Inder und Pakistani, die bis ins Waldviertel Zeitungsabos zustellen, die Talente aus der zweiten und dritten Gastarbeitergeneration in den Schulen. Das muss man erzählen. Vielleicht im Sinne früherer Plakatwellen: "I haaß Kolaric, du haaßt Kolaric, warum sogn s'zu dir Tschusch?"
Zur Person
Christian Konrad (78) war als Generalanwalt von 1994 bis 2012 der mächtigste Mann im Raiffeisen-Reich und als solcher auch Jahrzehnte Eigentümervertreter bei profil. Von 2015 bis 2016 nutzte er auf Bitte der Bundesregierung sein breites Netzwerk für die Funktion des Flüchtlingskoordinators.