„Es gibt wohl 20 Gründe gegen einen Superwahlsonntag“
Robert Stein war lange Österreichs oberster Wahlleiter. Er findet das Wahlsystem „nahezu beispiellos fair“, rät aber dringend von EU- und Nationalratswahlen am selben Tag ab. Ein Gespräch vor dem Superwahljahr.
Sie haben seit 1992 an jeder Wahlrechtsreform mitgewirkt und 25 bundesweite Wahlgänge absolviert. Gab es jemals eine Wahl, an der Sie selbst nicht teilgenommen haben?
Robert Stein
In meiner Zeit im Innenministerium, also zwischen 1992 und 2023, hundertprozentig nicht. Es könnte aber sein, dass ich vor mehr als 35 Jahren ein einziges Mal nicht gewählt habe, weil ich Urlaub an der Ostsee gemacht habe.
Die Briefwahl im Inland wurde erst 2007 eingeführt. Sie sind also auch privat ein Nutznießer davon.
Robert Stein
Genau. Die Briefwahl ist alternativlos und kommt in Österreich sehr gut an.
Welche Wahlreform war die wichtigste für Sie?
Robert Stein
Erlauben Sie mir bitte vier! Die erwähnte Einführung der Briefwahl, dann die Wahlrechtsreform 2018, durch die man Volksbegehren auch elektronisch unterschreiben kann. Und auch die Reform 2023, an der ich bis zu meiner letzten Arbeitswoche federführend arbeiten durfte.
Sie besagt, dass Briefwahlstimmen im Lokal schon am Sonntag ausgewertet werden.
Robert Stein
Genau, das hängt mit einer Steuerung durch das Zentrale Wählerregister zusammen, an der ich lange mit einem tollen Team herumgetüftelt habe. Die interessanteste Reform war aber sicher die im Jahre 1992. Wir haben im Auftrag der Parlamentsklubs im Team das Grundgerüst für die heutige Wahlarithmetik entwickelt.
Wie kam es überhaupt dazu?
Robert Stein
1989 haben sich Auslandsösterreicher beim Verfassungsgerichtshof das Wahlrecht erstritten. 1990 stand eine Nationalratswahl an und es war noch niemand von ihnen in der Wählerevidenz eingetragen. Außenminister Alois Mock war das ein Herzensanliegen, er ist an Innenminister Franz Löschnak herangetreten und hat auf gut Wienerisch gesagt: „Wos tuma?“ Dann wurde eine Arbeitsgruppe gegründet, ich war – neu in der Abteilung – ein Teil davon.
Und dann?
Robert Stein
Innerhalb von drei, vier Monaten haben wir es durch Kampagnen und ein hypermodernes Formular geschafft, 30.000 Auslandsösterreicher in die Wählerevidenz einzutragen. Heute sind es übrigens 60.000. Schon seit 1987 war im Regierungsübereinkommen eine Wahlrechtsreform festgeschrieben. Es war eine nahezu unlösbare Aufgabe.
„Angenehm war das nicht“, sagt Robert Stein über die schadhaften Wahlkarten bei der Bundespräsidentenwahl 2016.
Inwiefern?
Robert Stein
Die ersten Entwürfe lehnten sich dem deutschen Muster an: Man wollte eine Personalisierung durch Erststimme und Zweitstimme – aber keine Überhangmandate wie in Deutschland und trotzdem ein Verhältniswahlrecht. Das geht nicht. Dann ist mit viel Tüfteln das Grundgerüst für das heutige Modell herausgekommen.
Seitdem erfolgt die Mandatsvergabe auf drei Ebenen: In 43 Regional-Wahlkreisen, neun Landeswahlkreisen und der Bundesebene. Wie würden Sie das vereinfacht erklären?
Robert Stein
Deutsche Experten sagen, dass unser Wahlrecht im Vergleich relativ leicht verständlich ist. Ich finde es in Kürze schwer erklärbar, aber ich werde es versuchen.
Bitte!
Robert Stein
Wir haben ein Verhältniswahlrecht. Das bedeutet, dass die abgegebenen Stimmen möglichst präzise den Prozentsatz der Menschen, die X oder Y gewählt haben, in der Sitzverteilung im Nationalrat abbilden.
Und wie?
Robert Stein
Man beginnt bei der dritten Ebene, dem Bund: Man schaut, wie viel Prozent eine Partei österreichweit hat, und so viele Sitze im Nationalrat kriegt sie nach dem dHondtschen Verfahren. Ein Direktmandat wird zwar gewonnen oder verloren, aber das hat keinen Einfluss auf die Gesamtsitzverteilung. Es stellt sich dann nur die Frage, von welcher Liste kommen die Sitze, aber es werden nicht mehr und nicht weniger. Das nennt sich Mandatsaldierungsverfahren.
Hat Österreich das fairste Wahlsystem?
Robert Stein
Fair ist ein Begriff, der viele Facetten hat. Aber man kann mit Fug und Recht sagen, dass die Wahlarithmetik nahezu beispiellos fair ist. Die Abweichung von den Prozent der Stimmen und der Sitzverteilung ist denkbar gering. Wobei die Hürde von vier Prozent für den Einzug in den Nationalrat ein Eingriff in die prozentuelle Sitzverteilung ist, der politisch gewollt und verfassungsrechtlich abgesegnet ist. Manche würden das als weniger oder mehr fair empfinden.
Ein Doppelstaatsbürger kann, wenn er sich zu einer Straftat hinreißen lässt, doppelt abstimmen.
Robert Stein
über die EU-Wahl
Und Sie?
Robert Stein
Ich halte es für sehr klug, aber Vertreter von Kleinparteien könnten das unter Umständen anders sehen.
Wie legt man fest, wie mächtig eine Vorzugsstimme sein darf und ab wann sie die Listenreihung „schlägt“?
Robert Stein
Das legt die Politik fest. Andreas Khol hat der ÖVP einmal den Tipp gegeben, sich an dem Südtiroler Vorzugsstimmenrecht zu orientieren. Dort bestimmen ausschließlich Vorzugsstimmen die Reihung. Politisch hat sich dafür allerdings keine Mehrheit gefunden.
Meine persönliche Meinung ist: Wenn man sich die Vorzugsstimmen-Regelung antut, könnte man etwas mutiger sein.
Robert Stein
über die hohen Hürden für Vorzugsstimmen
In Österreich gelten sehr hohe Hürden für eine Umreihung durch Vorzugsstimmen.
Robert Stein
Ja, ein durchschlagender Erfolg war es nie. Jörg Haider hätte 2008 ein Vorzugsstimmenmandat für das BZÖ erzielt. Aber bevor er es wohl abgelehnt hätte, weil er Landeshauptmann war, ist er verblichen.
Sollten die Hürden für die Vorreihung gesenkt werden?
Robert Stein
Meine persönliche Meinung ist: Wenn man sich die Vorzugsstimmen-Regelung antut, könnte man etwas mutiger sein.
1999 hat Österreich erstmals seine EU-Abgeordneten regulär gewählt. Wie ist das, wenn plötzlich ein völlig neuer Wahlgang organisiert werden muss?
Robert Stein
Bei der EU-Wahl ist der Datenaustausch eine Herausforderung. Sowohl Unionsbürger als auch Auslandsösterreicher sind wahlberechtigt – wenn sie sich entschieden haben, die österreichischen Mitglieder des Europäischen Parlaments zu wählen. Man hat die Wahl zwischen zwei Ländern, darf aber nicht in beiden wählen. Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo hat einmal damit geprahlt, in Deutschland und Italien gewählt zu haben. Wir haben den Fall auf mehreren Tagungen diskutiert. Ein Doppelstaatsbürger kann, wenn er sich zu einer Straftat hinreißen lässt, doppelt abstimmen.
Wie meinen Sie das?
Robert Stein
Man kann die Person nur durch Zufall erwischen. Um sie herauszufiltern, bräuchte es ein zentrales Wählerregister aller 400 Millionen Unionsbürger, das ist undenkbar.
Robert Stein, oberster Wahlleiter, wartet auf das Endergebnis.
Und Unionsbürger, die keine Doppelstaatsbürger sind, aber in einem anderen EU-Land wohnen?
Robert Stein
Hier gibt es einen Datenaustausch zwischen den beiden Ländern, zwischen denen sich die Person entscheiden muss. Das funktioniert einigermaßen gut, war aber am Anfang eine Herausforderung.
Es gibt immer wieder das Gerücht, dass die Wahl für das EU-Parlament und den Nationalrat zusammengelegt werden. Würden Ihnen ein Superwahlsonntag Schrecken bereiten?
Robert Stein
Ja! Es ist zwar erlaubt, aber nahezu denkunmöglich und von extremen Fehlerquellen behaftet. Aus administrativen Gründen ist davon dringend abzuraten.
Warum?
Robert Stein
Es gibt wohl 20 Gründe gegen einen Superwahlsonntag, aber der Hauptgrund ist der Faktor Mensch. Wenn man beide Stimmzettel in eine Wahlkarte gibt, produziert man eine ungültige Stimme. Es muss unterschiedliche Drucksorten und Urnen geben, es gibt unterschiedliche Wahlberechtigte. Im Wahllokal könnte es zu Verwechslungen kommen. Noch dazu werden nach der letzten Reform Wahlkarten sofort ausgewertet, realistisch sind das zum Beispiel in Wien 100 Wahlkarten pro Wahllokal, also etwa 40 Minuten Auszähl-Arbeit zusätzlich. Wenn ich doppelt so viele Wahlkarten habe, und die Menschen seit 6 Uhr früh im Wahllokal arbeiten, wäre das wohl zu lange.
Ein elektronisches Tool wie Excel braucht man nur zur Präsentation.
Robert Stein
über die SPÖ-Auszählung
Ist es gerecht, dass ein Vorarlberger bis 13 Uhr wählen kann, aber eine Wienerin bis 17 Uhr?
Robert Stein
Österreich ist einzigartig, weltweit ist ein einheitlicher Wahlschluss üblich. Aber mit Blick auf die große Menge an Wahllokalen und die bürgerfreundlichen Wahlkarten findet sich naheliegenderweise keine politische Mehrheit, das zu ändern.
2020 sind Sie mit 400.000 ausgefüllten Wahlkarten im Gepäck zur Firma Reisswolf gefahren, um sie schreddern zu lassen. War das der verrückteste Moment Ihrer Karriere?
Robert Stein
Es war der kuriose Abschluss einer sehr unangenehmen Situation. Die Wahlkarten wurden schon für die Bundespräsidentenwahl im Oktober 2016 abgegeben. Dann wurde die Wahl verschoben, und diese Wahlkarten mussten eingezogen werden. Sie wurden aufbewahrt, falls sie als Beweis in einem potenziellen Schadenersatzverfahren gebraucht werden. Zum Glück kam es nie dazu. Die Bundeswahlbehörde hat dann entschieden, sie zu schreddern. Vertreter jeder wahlwerbenden Gruppe und mehrere Richterinnen und Richter waren dabei.
Dann war der verrückteste Moment vermutlich wohl, als der Kleber bei den Wahlkarten nicht funktioniert hat.
Robert Stein
Angenehm war das nicht.
Was haben Sie sich damals gedacht?
Robert Stein
Dass es klug gewesen wäre, die alte Wahlkarte zu belassen. 2010 haben die fünf Parlamentsparteien mit Blick auf den Datenschutz gesagt, sie wollen eine neue Lösung mit der Lasche, die man abziehen kann. Bei ungefähr 20 Wahlen hat sie funktioniert, beim 21. Mal eben nicht. Ich war von Anfang an skeptisch. Jetzt ist man wieder zur alten Lösung zurückgekehrt.
Und was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie vom vertauschten SPÖ-Ergebnis am Parteitag erfahren haben?
Robert Stein
Fassungslosigkeit. Vor allem darüber, dass das Ergebnis nicht kontrolliert wurde. Ich habe X-Mal bei solchen Auszählungen mitgemacht, meistens auf Landesebene. 600 Stimmen aufzuzählen ist keine Herausforderung, ein elektronisches Tool wie Excel braucht man nur zur Präsentation.
Sie waren am jüngsten SPÖ-Bundesparteitag für die Wahl von Andreas Babler dann persönlich vor Ort.
Robert Stein
Ja, der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig hat vier Juristinnen und Juristen in die neue Wahlkommission nominiert und auch mich gefragt. Die Kommission hat mit der Präzision ausgewertet, die ich immer gewohnt war.
Zum Abschluss: Werden wir jemals E-Voting erleben?
Robert Stein
Das würde ich ganz stark verneinen, obwohl ich E-Voting einiges abgewinnen könnte, wenn es gut implementiert ist. Dafür braucht es aber eine zertifizierte Software und absolute Sicherheit für den Wahlvorgang. Die Politik ist da sehr skeptisch, unter anderem wegen Hackerangriffen. Wenn man etwas Neues etabliert, gibt es immer Anfangsschwierigkeiten. Man müsste das System also bei kleineren Wahlen, an der Uni oder für den Betriebsrat einer größeren Firma, testen. Nur Estland hat es erfolgreich eingeführt, danach hat sich kein Land mehr drübergetraut. Es gab bei den letzten Reformen nicht einmal ansatzweise eine Diskussion darüber.
ÖFFENTLICHE VFGH-VERHANDLUNG ZUR BP-WAHL-ANFECHTUNG: STEIN
Robert Stein, 66,
war 38 Jahre lang im Innenministerium unter 16 Innenministerinnen und -Ministern tätig. 1994 wurde er stellvertretender Leiter der Abteilung für Wahlangelegenheiten, zehn Jahre später übernahm er die Abteilung. Im Februar 2023 ging Stein in Pension.
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Stand:
Iris Bonavida
ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.