Gutachten zu Wien Energie: „Existenzbedrohung nicht wahrgenommen“
Am Mittwoch durchlebte Michael Ludwig die wohl unangenehmste Gemeinderatssitzung seiner Laufbahn als Wiener Bürgermeister. Auf der Tagesordnung stand die Affäre um die Wien Energie. Der stadteigene Stromversorger war Ende August an den Rand der Zahlungsunfähigkeit geschlittert und erhielt deswegen vom Bund eine Garantie über zwei Milliarden Euro. Grund für die Liquiditätskrise waren Börsen-Termingeschäfte auf den Strom- und Gaspreis, die aufgrund von massiven Kursausschlägen völlig aus dem Ruder gelaufen waren.
Schon im Juli und später im August hatte Bürgermeister Ludwig der Wien Energie zweimal je 700 Millionen Euro aus dem Stadtbudget zur Verfügung gestellt, um deren Geschäfte an der Börse abzusichern. Der Bürgermeister tat das quasi auf Knopfdruck, ohne Stadtsenat und Gemeinderat zu informieren. Dies holte er erst am Mittwoch nach. Ludwigs Wortmeldung im Gemeinderat war eindeutig: Alles sei korrekt abgelaufen, bei der Wien Energie und natürlich auch im Rathaus.
Die Entlastungsoffensive hatte schon eine Woche zuvor begonnen. Am 15. September präsentierte Peter Weinelt mündlich drei Gutachten zur Affäre. Weinelt ist Vorsitzender des Aufsichtsrats der Wien Energie und Generaldirektor-Stellvertreter der Wiener Stadtwerke, der Muttergesellschaft des Stromversorgers. Die Gutachten stammen von der Anwaltskanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer, der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC und der Investment-Gesellschaft Ithuba Capital. Laut Weinelt attestierten alle drei der Wien Energie, keine Spekulationsgeschäfte betrieben zu haben. Auch habe es ein funktionierendes Risikomanagement gegeben. Die Liquiditätskrise am 26. August sei Folge eines „Black Friday“ an den Börsen und so nicht vorhersehbar gewesen, so Weinelt. Zusammengefasst: ein Persilschein und Freispruch in allen Punkten. Die Gutachten selbst werden – leider – nicht veröffentlicht, sie bleiben unter Verschluss.
Peter Weinelt, Vorsitzender des Aufsichtsrats der Wien Energie und Generaldirektor-Stellvertreter der Wiener Stadtwerke.
Doch profil liegen nun Auszüge vor. Fazit: Ein glatter Freispruch sieht anders aus. Die Prüfer üben durchaus Kritik – auch wenn sie diese teilweise als Empfehlungen für die Zukunft formulieren.
Die Ausgangssituation: Im Jahr 2021 muss die Wien Energie von direktem Strom- und Gashandel mit Käufern und Verkäufern verstärkt auf Börsegeschäfte wechseln, da „aufgrund der starken Limitauslastung im Zuge des rasanten Preisanstiegs die Gegenparteilimite bereits Ende 2021 ausgelastet“ waren. So ist es im Bericht von PwC nachzulesen. Diese „Umschichtung“ und die „höheren Börsepositionen“ resultierten in einem „erhöhten Liquiditätsrisiko“.
Dieses Risiko war zwar gering, wurde von der Wien Energie laut PwC aber doch nicht vorausschauend genug gehandhabt: „Als zukünftige Optimierungspotenziale ergeben sich, unter anderem auch als unrealistisch eingeschätzte Risikoszenarien noch kritischer zu hinterfragen. Rückwirkend wird das daran deutlich, dass Wien Energie das Risiko eines signifikant steigenden Liquiditätsrisikos korrekterweise identifiziert hatte, aber dieses als zu unwahrscheinlich erachtet hatte.“ Heißt: Die Wien Energie hätte noch vorsichtiger auf das Marktrisiko reagieren können. Und wo es „Optimierungspotenziale“ gibt, ist zuvor wohl nicht alles bestens gelaufen.
Weiters heißt es im PwC-Bericht: „In Hinblick auf Weiterentwicklungen und gesetzte Maßnahmen im Jahr 2022 seitens Wien Energie ist anzumerken, dass Neuerungen (zB ein Excel „Margin Tool“) entwickelt und operativ eingesetzt wurden. Das Nachziehen der entsprechenden Arbeitsanweisungen und Vorgaben ist jedoch nicht zeitnahe entsprechend der Marktdynamik erfolgt.“ Bedeutet: Die Wien Energie hatte sich auf die neuen Geschäftsgegebenheiten nicht umfassend genug eingestellt.
So perfekt wie von Weinelt behauptet ist das Risikomanagement bei der Wien Energie offenbar nicht organisiert. PwC schreibt: „Hinsichtlich zu Best Practice Standards empfehlen wir die administrativen Prozesse sowie Schnittstellen im Risikomanagement (u.a. Limitdefinition, Risikoberichterstattung und Kommunikation) im Detail zu analysieren und etwaige Schwächen im Design sowie der Effektivität zeitnah zu beheben. Insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Marktentwicklungen sollte auch die Beschreibung des Risikomanagements detaillierter beschrieben werden (u.a. Berichtswege, Frequenz und Methodik).“
Aus Sicht der PwC-Prüfer dürfte das Wien-Energie-Management seine Eigentümer (Stadtwerke und Stadt Wien) über die schwierige Lage bei den Termingeschäften auch nicht ausreichend informiert haben: „Aus Best Practice Sicht sollte analysiert werden, inwieweit zukünftig die Risikoberichterstattung in solch kritischen Situationen über die Unternehmensgrenzen hinaus auch noch schneller an die Shareholder kommuniziert werden sollte.“
Auch die Frage, wann die Stadtwerke von drohenden Problemen bei ihrem Tochterunternehmen wussten, wird im Bericht von PwC beantwortet. So wurden mögliche Liquiditätsengpässe bei der Wien Energie schon in einer Aufsichtsratssitzung der Stadtwerke vom 17. Dezember 2021, also zwei Monate vor der russischen Invasion in der Ukraine, thematisiert.
Auch die Anwaltskanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer hatte durchaus etwas zu bemängeln, etwa den Umgang der Wien Energie mit der Bundesregierung: „Es wurde seitens des Bundes kritisiert, an einem Samstag (erstmals) damit konfrontiert zu werden, dass ein systemrelevantes Unternehmen am Montag Früh mehrere Mrd. EUR Liquidität benötigt. Diese Kritik ist nachvollziehbar. Es ist unter diesen Umständen nicht möglich, erforderliche gesetzliche Voraussetzungen für eine Zahlung zu schaffen. Die Mittel konnten somit nur über bereits bestehende, gesetzlich gedeckte Maßnahmen bereitgestellt werden.“ Und zum Risikomanagement der Wien Energie hält die Anwaltskanzlei lapidar fest: „Rückblickend betrachtet wurde die mögliche Existenzbedrohung des Unternehmens durch einen Liquiditätsengpass dennoch nicht als solche wahrgenommen.“
Die Berichte von Freshfields, PWC und Ithuba Capital wurden vergangene Woche der Finanzprokuratur und der Bundesfinanzierungsagentur geschickt, die diese nun prüfen. Doch offenbar reichen die eingegangenen Informationen nicht aus. Bis 30. September sollen Wien Energie und Stadtwerke einen vertieften Bericht senden.