Fachkräftemangel oder Jobwunder: Warum sie jetzt der Pflege anfangen
Wie verbringen wir künftig unsere letzten Lebensjahre? Werden wir elend zugrunde gehen, weil niemand mehr da ist, der die Wundgelegenen eincremt, die Gebrechlichen wäscht, den Bettlägerigen das Essen bringt und den Sterbenden die Hand hält, wenn ihre letzte Stunde schlägt? Die Meldungen vom Fachkräftemangel in der Pflege, der sich quer durch die reichen, alternden Industriegesellschaften längst abzeichnet – und Studien zufolge sehr verschärfen wird –, prophezeien schaurige Verhältnisse. Das Personal völlig überlastet, zahllose Pflegebetten gesperrt, Seniorenheime und geriatrische Spitalsabteilungen im Notbetrieb. Wer will da überhaupt noch zu arbeiten anfangen?
Man könnte es auch andersherum sehen: Die Pflege verspricht ein Jobwunder, 100.000 Stellen sind bis 2030 neu zu besetzen. Woher sollen die Arbeitskräfte kommen? Zuwanderung allein wird die Lücke nicht schließen. profil sprach mit einer geflüchteten Irakerin, einem serbischen Ex-Security, einem 28-Jährigen mit Behinderung und einer 50-Jährigen, die nach drei Jahrzehnten in einem Metallkonzern etwas „Sinnvolles“ machen will. Sie alle fangen in der Pflege neu an. Warum?
Amira Jassim, irakische Geflüchtete
Nicht immer sind große Erfolge weithin sichtbar. Amira Jassim (Name von der Redaktion geändert) feiert sie lieber im kleinen Kreis. Die Krankenpflegerin flüchtete 2015 mit ihren Kindern aus dem Irak, wo sie in einem Gesundheitszentrum viele Jahre lang Wunden versorgt, Medikamente verabreicht, Patienten reanimiert und geholfen hat, Kinder zur Welt zu bringen. Doch diese Erfahrungen zählten nicht, als sie vor acht Jahren in Österreich landete. Die heute 50-Jährige kämpfte sich durch – von ein paar Brocken Deutsch zu ausgezeichneten Sprachkenntnissen, von der Anerkennung als Heimhilfe bis zur höherqualifizierten Pflegefachassistentin. Wer nicht aus nächster Nähe miterlebte, wie oft sie aufgeben wollte und dann doch noch einen kleinen Schritt vor den nächsten setzte, kann kaum ermessen, was sie zuwege gebracht hat. Andrea Vidovenczova (Foto!) leitet das Wel-come Center der Caritas und erzählt profil, wie sie Amira Jassim durch alle Höhen und Tiefen begleitete. Die Irakerin selbst will öffentlich nicht aufscheinen. Es schmerzte Amira Jassim, dass sie zunächst nicht viel mehr durfte, als Wohnungen aufräumen und Einkäufe erledigen. Am Abend ging sie Schulungsunterlagen durch, die sie nicht verstand. Die Hürden schienen unbewältigbar. Jetzt, acht Jahre später, steht sie vor ihrer letzten Prüfung zur Pflegefachassistentin. „Sie ist tüchtig und ehrgeizig“, sagt Vidovenczova: „Doch das allein hätte nicht gereicht.“ So vieles musste passen: Die Schule der Kinder, die Sprachförderung, es brauchte Hilfe bei der Wohnungssuche, bei sozialen Kontakten, beim ersten Handy, beim Entziffern handschriftlicher Pflegedokumentationen – und manchmal auch nur jemanden, um auf die mühsam errungenen Durchbrüche anstoßen zu können.
Stefan Messmer, gehandicapter Pflegehelfer
Einer der ersten Ausflüge in die Pflegepraxis mündete gleich in eine fixe Anstellung. Das ist nicht selbstverständlich für jemanden wie Stefan Messmer. Der 27-Jährige leidet an einer auditiven Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörung; das Verstehen sprachlicher Informationen bereitet ihm Mühe. Messmer absolvierte ein einjähriges Arbeitstraining bei Fit4more, einem von der Caritas initiierten Berufsqualifizierungsprojekt für Menschen mit Behinderung, das vom Fonds Soziales Wien finanziert wird. 2017 fing er als Praktikant in einem Seniorenheim der Caritas an. Danach wollte man ihn nicht mehr ziehen lassen. Es stellte sich schnell heraus, dass der junge Mann nicht nur „sehr höflich, sondern auch sehr zuverlässig ist“, sagt Fit4more-Leiterin Diane Böhmer: „Da braucht niemand hinter ihm nachschauen, ob alles passt.“ Seit fünf Jahren arbeitet Messmer als Abteilungshelfer im Seniorenheim; er trägt Essen aus, überzieht Betten, desinfiziert Türklinken und füllt Seifenspender nach, alles Tätigkeiten, welche die Pflegekräfte entlasten. In der Früh bringt er den Bewohnerinnen und Bewohnern die Zeitung, und schaut, ob in ihren Zimmern alles in Ordnung ist. Ein neuer Dienst fängt für Messmer gut an, wenn noch Zeit für ein paar Scherze bleibt. Es ist nicht immer leicht, die Leiden der alten Menschen mitansehen zu müssen. „Ich möchte ihnen das Leben erleichtern“, sagt er. Derzeit arbeitet er an drei Tagen in der Woche insgesamt 15 Stunden, es könnten, findet Messmer, „durchaus etwas mehr sein“.
Ilse Mosandl, spätberufene Sozialbetreuerin
Es begann mit dem Zuckerlgeschäft der Oma, in dem Ilse
Mosandl als Mädchen gerne war, nicht nur, weil die Süßigkeiten sie magisch anzogen, sondern auch wegen der Gespräche, denen sie hier stundenlang lauschte. Viele Ältere schauten „nur zum Reden“ bei ihrer Oma vorbei. Mit 17 träumte sie von einem sozialen Beruf, doch dann driftete sie in die Wirtschaft ab und wurde Assistentin der Geschäftsführung in einem Metallkonzern. Sie genoss die Abwechslung, den internationalen Austausch, die Business-Events, bis sie einer Umstrukturierung zum Opfer fiel. Mit 49 gekündigt zu werden, erwies sich als herber Auftakt einer Sinnkrise, die sich durch die Corona-Pandemie verstärkte.Tätigkeiten, die ihr einst Freude bereiteten, erfüllten sie nicht mehr. Sie sattelte auf Fachsozialbetreuerin um und lernte, Demenzkranke und Betagte mit Musik, Bewegung, Gedächtnistraining und Biografiearbeit anzuspornen. „Man kann viel dazu beitragen, dass sich ihr Zustand nicht verschlechtert“, sagt Mosandl. Oft gehe es nur darum, sich in die Welt des anderen zu versetzen, etwa im Fall jenes Mannes, der zu Mittag Messer und Gabel in seiner Hosentasche verschwinden ließ. Mosandl fand heraus, dass er nicht stehlen wollte, sondern Mechaniker war und das Besteck für Schraubenschlüssel hielt, die er für seine Arbeit brauchte. Wenn alles gut geht, schließt sie in zwei Wochen ihre Ausbildung an der Caritas-Schule in Wiener Neustadt ab. Sie möchte ein Diplom anhängen, an das sich mehr Kompetenzen und ein höheres Gehalt knüpfen. Damit könnte die zweifache Mutter später eine Station leiten oder sich selbstständig machen. Noch kämpft sie beim AMS um ein Stipendium.
Miloš Arsić, umgesattelter Ex-Security
Er war 18, erst seit Kurzem im Land und brauchte Geld. Also heuerte der gebürtige Serbe Miloš Arsić als Security an, und das wäre er vermutlich noch heute, hätte er in einem Gasthaus nicht zufällig am Tisch eines Mannes Platz genommen, der in Klosterneuburg ein Pflegeheim leitet. Man kam ins Gespräch, vereinbarte einen Schnuppertag, und schon hatte Arsić einen neuen Job. Er half zunächst in der Küche aus, im Mai 2022 fing er mit der Pflegeschule an, mittlerweile arbeitet er im Haus St. Leopold als Pflegeassistent. Zu tun gibt es hier mehr als genug: Körperpflege, Mobilisierung, Blutzucker und Sauerstoffsättigung messen, schmutzige Wäsche einsammeln, Handschuhe nachfüllen, Frühstück, Mittagessen, Abendessen. Viele auf seiner Station haben bereits den Tod vor Augen. Manchmal erzählen die betagten Bewohnerinnen und Bewohner, wie es war, als sie so alt waren wie er. Er ist heute 22, der Jüngste auf der Station und so etwas wie der lebende Beweis, dass „meine Generation bereit ist, Älteren zu helfen“, sagt Arsić. Es stimmte ihn traurig, als eine „sehr liebe Bewohnerin“, mit der er manchmal noch flotte Spaziergänge unternahm, eines Tages stürzte, sich die Hüfte brach und wenig später starb, gerade als er auf Urlaub war. Was ihm in solchen Momenten hilft? „Mit Kollegen zusammensitzen und sich an schöne gemeinsame Erlebnisse erinnern“, sagt Arsić. Beruflich fühlt er sich angekommen, außer in den „Wahnsinnsmonaten“ Juli und August, wenn seine Station unterbesetzt ist; doch er strebt höher. In zwei Jahren möchte er das Diplom machen, und dann – vielleicht – Wundmanagement.