Fall Kellermayr: Fast alle Corona-Experten mit Tod bedroht
Im März 2020 gab Simulationsforscher Niki Popper auf Twitter einen Einblick in sein Familienleben während des ersten Lockdowns. „Wenn unser zehnjähriger Sohn beginnt, Epidemien nachzubauen, hast du erfolgreich schlechten Einfluss geübt“, postete er launig. Man sah bunte Figuren auf einem Spielbrett, die Infizierte oder Genesene darstellen. Wenn Popper heute, 2,5 Jahre später, an die Kombination aus Pandemie und Privatleben denkt, fallen ihm auch ganz andere Episoden ein. „Von mir wurden Fahndungsplakate in meiner Wohngegend aufgehängt. ,Nürnberger Prozess 2.0‘ stand da drauf. Das wird im Kontext verwendet: ,Wir werden euch alle vor Gericht stellen und liquidieren.‘ Freunde von mir haben die Plakate dann netterweise entfernt.“ Der Experte mit der verwehten „Professoren“-Frisur erzählt die Episode fast beiläufig, als wolle er damit zeigen: Von euch lass ich mich sicher nicht beeindrucken.
Popper ist sich sicher, dass den Hass besonders Frauen und Menschen in Gesundheits- und Pflegeberufen abbekommen haben. Er hat recht.
Frau, praktische Ärztin, öffentliche Person. Auf die Oberösterreicherin Lisa-Maria Kellermayr trafen alle drei Eigenschaften zu. In Medien trat die Ärztin laut für die Impfung und gegen Verschwörungserzählungen auf. Das machte sie zur Zielscheibe radikaler Corona-Leugner. Ab November 2021 wurden die Drohungen immer heftiger und persönlicher. Kellermayr engagierte teure Securitys für ihre Ordination, verschanzte sich privat, rief immer lauter nach Hilfe. Die Behörden vor Ort reagierten – nach allem, was bisher bekannt ist – zu passiv. Ende Juli setzte die 36-Jährige ihrem Leben ein Ende.
Suizide haben selten nur eine Ursache. Kellermayrs Tod wirkt dennoch wie ein Fanal. Durch diese Tragödie bekommt die zerstörerische Kraft des Hasses im Netz ein Gesicht. Es wird dadurch noch sichtbarer, mit welcher Wucht die Hasswelle öffentliche Personen erfasst. Und das gilt für praktisch alle bekannten Pandemie-Erklärer, zeigen profil-Recherchen.
Der 65-jährige Infektiologe Herwig Kollaritsch wirkte bei seinen Fernsehanalysen stets so, als könnte ihn nichts aus der Ruhe bringen. Doch das täuscht. „Es war vor allem am Anfang der Pandemie schlimm, da habe ich jeden Tag Drohmails bekommen, die alles andere als harmlos waren. ‚Kopf ab, und ab nach Guantanamo‘ zum Beispiel. Als ich in die Impfpflichtkommission gekommen bin, war es ebenfalls heftig.“ Bald hat der Infektiologe erste Vorkehrungen getroffen: „Ich habe die Auskunft aus dem Melderegister entfernen lassen. Meine Privatadresse kann man nicht mehr herausfinden. Ein Messingschild an meinem Haus mit meinem Namen habe ich entfernt.“ Und auch sein Verhalten gegenüber Medien hat er verändert: „Ich habe mich von Interviews zurückgezogen, vor allem, was das Fernsehen betrifft. Das Echo war da besonders stark.“
Von den Behörden fühlt sich Kollaritsch nicht ernst genommen: „Einige Fälle habe ich bei der Polizei gemeldet, ein paar Mails habe ich dem Verfassungsschutz weitergeleitet. Ich habe dann aber nichts mehr davon gehört. Grundsätzlich habe ich das Gefühl gehabt, dass man das nicht ernst nimmt. Die Leute, die solche Briefe schreiben, würden mit 99,9-prozentiger Sicherheit nicht aktiv werden, also keine physische Gewalt ausüben, hat mir der Verfassungsschutz gesagt. Das wären nur Hunde, die bellen, aber nicht beißen.“
Der frühere Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein wurde monatelang massiv bedroht und hat seinen Rückzug nicht zuletzt damit begründet. Mückstein ist sich über die angebliche Beißhemmung der Netz-Täter nicht so sicher. „Das sind Menschen, die mit Galgen aufmarschieren“, sagt er im profil-Interview. Wie groß ist die Szene, wie groß die Gefahr, die von ihr ausgeht? Den harten Kern sieht die Polizei nur noch im „mittleren zweistelligen Bereich“ angesiedelt. Ohne Lockdowns, Impfpflicht und Maskenpflicht sei es schwerer, Mitstreiter auf die Straße zu bringen. Aufgefallen ist dieser schwarze Block der Impfgegner zuletzt durch mitgeführte Galgen und Buhrufe für Bundespräsident Alexander Van der Bellen bei den Salzburger Festspielen. Der völlig anonyme Teil der Szene, der in Telegram-Gruppen agiert, ist weniger greifbar. Anhand der Postings lässt sich die Psychostruktur aber gut analysieren: „Die extremen Impfgegner sind wirklich davon überzeugt, dass die Impfung eine Todesspritze ist. Das kenne ich so aus keiner anderen Gruppierung. Deswegen sind sie so wütend, aggressiv und verzweifelt. Die Wut blockiert das logische Denken und die Empathie. Da kann man schwer einschätzen, wozu jemand fähig ist“, erzählt die Psychologin Ulrike Schiesser. Sie ist Mitarbeiterin der Bundesstelle für Sektenfragen. Schiesser ortet derzeit eine thematische Verlagerung von Corona hin zur Teuerung oder den Russland-Sanktionen. Es gebe neue Feindbilder, die Muster aber blieben gleich: „Katastrophen ankündigen, Sündenböcke finden und dämonisieren, sich als das wahre Volk darstellen, mit der Pflicht zum Widerstand.“
Die Gruppe „ist gekommen, um zu bleiben“, ist Schiesser überzeugt, die nach Fernsehauftritten selbst zur Zielscheibe wurde. Hassschreiben leitete sie an die Polizei weiter. „Ich hatte bei einem Vorfall 2021 den Eindruck, dass man mit einer gewissen Hilflosigkeit damit umgegangen ist. Im zuständigen Polizeikommissariat hat man das zwar alles brav notiert. Als ich erklärt habe, dass der Schreiber vermutlich aus der QAnon-Szene kommen würde, konnten die Beamten damit nichts anfangen. Von QAnon hatten sie noch nie etwas gehört.“ Auch dieses Hassopfer – enttäuscht von den Behörden.
Die Virologin Dorothee von Laer von der MedUni Innsbruck fühlt sich von der Politik allein gelassen. „Mein E-Mail-Postfach war voll mit körperlichen Drohungen und Anfeindungen wie ,Wir sperren dich in ein Loch, dann kannst du dort versauern.‘“ Besonders dramatisch war die Situation im Winter 2021, als sich die Virologin dafür einsetzte, die Südafrika-Variante in Tirol einzudämmen: Ab diesem Zeitpunkt sei sie nur noch mit Perücke vor die Tür gegangen, schilderte sie damals in Interviews und lenkte den Blick kurz auf die Hass-Thematik. Heute resümiert sie: „Die Politiker hätten sich besser vor uns Experten stellen müssen und sagen, dass wir weder für das Virus noch die Maßnahmen etwas können. Stattdessen wurde versucht, uns den schwarzen Peter zuzuschieben. Das war nicht fair.“
In Tirol lebt sie nun ganz anonym: „Meinen Wohnsitz kennt niemand, die Adresse haben nur wenige enge Bekannte. Meine Post ließ ich an das Uni-Institut schicken. Ein Türschild habe ich erst jetzt angebracht, als die Hassbotschaften etwas abgeebbt sind.“
Aus dem Telefonbuch löschen, Türschild tauschen, persönliche Spuren im Netz verwischen. Tipps, die der Verfassungsschutz bedrohten Personen gibt und die man dankbar annimmt, wenn man Nachrichten wie diese bekommt: „Wenn ihr asozialen Dreckschweine noch einmal daherkommt und uns Bürgerinnen mit dem Corona Terror versucht fertig zu machen, dann werden wir euch zeigen, wer das Volk ist! Euer Wohnsitz ist bekannt.“ Die Empfängerin, Epidemiologin Eva Schernhammer, sagt dazu: „Es sind die Einblicke in die Abgründe mancher Seelen, die man durch diese E-Mails erhält. Das bestürzt mich wirklich. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was in einem vorgeht, wenn man solche Texte verfasst, aber ich glaube, es ist nichts Schönes.“
Frauen trifft der Hass meist noch viel härter, weil er oft sexuell konnotiert ist. „Du Fotze gehörst ordentlich durchgefickt.“ Solche hundertfach versandten Mails löschen viele Betroffene oder deren Mitarbeiter schon fast im Schlaf.
Bei der großen Anzahl an Politikern, Virologen und Simulationsforschern, die sich regelmäßig zur Pandemie äußerten, ging ein Phänomen unter: Experten, die sich wegen des Hasses aus der Öffentlichkeit zurückzogen – und damit aus der Schusslinie. „Ich lehne inzwischen 95 Prozent aller Medienanfragen ab, weil ich mich wieder auf meine Forschung konzentriere und auch weil ich mich dem nicht mehr aussetzen möchte“, erzählt Mikrobiologe Michael Wagner von der Uni Wien. Während der ersten beiden Jahre der Pandemie habe es keinen Fernsehauftritt ohne Flut an aggressiven E-Mails gegeben. „Vom Tribunal bis zur Tötung wurde mir alles angedroht.“ Ein Auszug: „Lassen Sie ab vom Impfgenozid, sonst sehe ich Sie schon im Korb an der Stange LEBENDIG ZU KNOCHEN VERHUNGERN!“ Unter YouTube-Videos zu seinen Auftritten seien Todeslisten mit dem Hinweis geführt worden: „Du kommst bald dran.“
Er selbst habe das meiste nicht gelesen. Seine Frau und seine Kinder hätten die Attacken – inklusive Drohanrufe – aber sehr belastet. Und die Polizei? „Mir wurde von Rechtsexperten geraten, mir das zu sparen, weil bei anonymen Accounts als Absender bei der Polizei sowieso nichts passiert.“ Was blieb, war ein Unwohlsein eines eigentlich furchtlosen Menschen. „Beim Spazierengehen mit dem Hund am Abend gab es schon Zeiten, wo ich mich manchmal umgedreht habe, weil ich dachte, ich werde verfolgt.“
Ein hoher Preis dafür, dass Expertinnen und Experten ihren gesellschaftlichen Auftrag ernst nehmen und ihr Wissen in den Medien teilen. Für manche ein zu hoher.
Haben Sie Selbstmordgedanken?
Es gibt viele Hilfseinrichtungen und Anlaufstellen für Menschen in akuten Krisensituationen. Unter www.suizid-praevention.gv.at findet man Notrufnummern und Erste Hilfe bei Suizidgedanken. Die Psychiatrische Soforthilfe bietet unter 01/313 30 rund um die Uhr Rat und Unterstützung im Krisenfall. Die österreichweite Telefonseelsorge ist ebenfalls jederzeit unter 142 gratis zu erreichen.