Fall Pilnacek: Das Vermächtnis des Schatten-Justizministers
Von Stefan Melichar, Max Miller und Anna Thalhammer
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Es hatte wohl niemand damit gerechnet, Christian Pilnaceks charakteristisch schnurrende Stimme so schnell wieder zu hören. Erst vergangenen Samstag fand in der bis auf den letzten Platz gefüllten Augustinerkirche in Wien das Requiem für ihn statt. Der ehemalige Justiz-Generalsekretär war am 20. Oktober unter tragischen Umständen gestorben, bei einer Obduktion wurde Fremdverschulden ausgeschlossen. Keine drei Tage nach der feierlichen Verabschiedung taucht ein heimlich aufgenommenes Tonband auf: Pilnacek erzählt Bekannten in seiner Stammbar davon, dass ÖVP-Politiker in der Vergangenheit nicht nur ein Mal von ihm verlangten, Hausdurchsuchungen abzudrehen. Ein Ibiza-Moment, der die Koalition ins Wanken bringt und ihren Gegnern Stoff für politische Attacken liefert. Die Suche nach der Wahrheit in der Vergangenheit des exzellenten wie umstrittenen Juristen wird gezwungenermaßen ohne ihn stattfinden müssen. Eines steht fest: Der Name „Pilnacek“ wird – in Abwesenheit seines Trägers – bereits jetzt zur Projektionsfläche für parteipolitische Befindlichkeiten von allen Seiten. Der Interpretationsspielraum dabei scheint enorm.
Der 28. Juli 2023 war ein Abend wie viele andere im Leben des Christian Pilnacek. Er ging in sein Stammlokal, das Il Cavalluccio in der Göttweihergasse, noch auf ein Getränk und blieb etwas länger, als er geplant hatte. Er stand dort mit einem alten Freund zusammen – einem deutschen Unternehmer – und einem Gast mit BZÖ-Vergangenheit, der das Gespräch wohl mitgeschnitten hat. Im Lauf des Abends gesellte sich übrigens auch profil-Geschäftsführer Richard Grasl zu der kleinen Runde in dem gut frequentierten Innenstadtlokal. Grasl zufolge aber zu spät, um beim entscheidenden Teil des Abends live dabei zu sein. Pilnacek hatte nämlich bereitwillig über sein Lieblingsthema gesprochen: seinen eigenen Fall, die soziale Ächtung, die ihm widerfahren war – und die ungerechte Behandlung, die er Politik wie Medien vorwarf.
Die geheime Tonaufnahme
Pilnacek führte seit Jahren einen erbitterten rechtlichen Kampf gegen das, was er selbst prägend mitaufgebaut und gestaltet hatte: die Justiz. Wegen Vorwürfen, die ihren Ausgangspunkt bei der von ihm leidenschaftlich gehassten Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) fanden, wurde bis zuletzt von der Staatsanwaltschaft Innsbruck strafrechtlich gegen ihn ermittelt. Gleichzeitig hatte ihn das Ministerium disziplinarrechtlich in die Pflicht genommen, gar suspendiert. Und doch war an diesem Abend etwas anders als sonst, wie auch sein deutscher Freund am Tonband erwähnt. Pilnacek nannte konkret Namen jener Politiker, die versucht haben sollen, ihn zu beeinflussen.
Anfang der Woche veröffentlichten „Kronen Zeitung“ und ORF Inhalte des heimlich mitgeschnittenen Tonbands, das auch profil vorliegt. Darauf zu hören, Christian Pilnacek, der unter anderem Folgendes sagt: „ÖVP Minister, die sind zu mir gekommen, nachdem man schon eine Hausdurchsuchung in der ÖVP-Zentrale gemacht hat. Sie sind immer zu mir gekommen und haben gesagt: ‚Warum dreht man das nicht ab.‘ Ich hab gesagt: ‚Ich kann es nicht. Ich mach es nicht. Ich kann es nicht. Ich will es nicht.‘“ In der Folge fällt ein gewichtiger Name: „Und in jedem Gespräch sagt Sobotka: ‚Du hast selbst versagt, du hast es nie abgedreht.‘“ Pilnacek lässt seinem Unmut freien Lauf: „Die ÖVP hat mir das zum persönlichen Vorwurf gemacht, die sind zu mir gekommen und haben gesagt: ‚Du lässt alle deine Staatsanwälte gegen uns arbeiten.‘“ Oder: „Ich kann mich nicht exponieren und irgendwelche Ermittlungen einstellen, die gerechtfertigt sind, ganz einfach nicht. Das geht einfach nicht, tschuldige“.
„Frau Ministerin, man kann nichts tun.“
Der suspendierte Sektionschef nennt ein konkretes Beispiel: „Damals, wie das Telekom Verfahren war, musste sich die Karl (Anm. Beatrix Karl, Ex-ÖVP-Justizministerin) im Parteivorstand rechtfertigen. Und davor sind wir eine Stunde gesessen. Und ich hab ihr gesagt: ‚Frau Ministerin, man kann nichts tun. Ich mache auch nix. Das ist alles rechtswidrig. Mache ich nicht. Kann ich nicht leisten.‘ Und sie ist dann massiv angegriffen worden, hat dann auch ihre Ämter verloren, weil sie ihr das vorgeworfen haben, dass sie ihren Sektionschef nicht dazu bringt, in diese Verfahren zu intervenieren.“ Und schließlich: „Ich hab das ja nie verstanden. Und darum versteh ich auch nicht die Vorwürfe der Sozialisten und der NEOS. Weil ich bin eigentlich massiv von der ÖVP angegriffen worden.“ Beatrix Karl sagte gegenüber dem ORF, sie wolle „illegal aufgenommene Aussagen eines Verstorbenen“ nicht kommentieren.
Pilnaceks Aufstieg im Justizministerium begann Anfang der 2000er, als das Ressort von FPÖ- und später BZÖ-Ministern geführt wurde: „Da haben sie mir immer gesagt, ich bin ein Blauer und darum nicht vertrauenswürdig für die ÖVP. So und dann ist es gewechselt. Und ich hab ja immer mit jedem Minister gut zusammengearbeitet, weil das mein Grundverständnis als Beamter ist. Das ist die demokratisch legitimierte Regierung, ich bin Beamter, ich muss die unterstützen.“
Republik alarmiert
Dienstagabend sollte das Tonband veröffentlicht werden – aber die Republik war schon zuvor alarmiert. Seit Wochen gab es Gerüchte, „dass es Material gibt, dem ein paar Rücktritte“ folgen werden. Und spätestens Dienstagvormittag wusste auch die ÖVP, was los war. Zu diesem Zeitpunkt waren Medienanfragen von ORF und „Krone“ eingegangen, die Nervosität stieg. Kanzler Karl Nehammer berief eine Krisen-Telefonkonferenz mit den Landeshauptleuten und Ministern der Volkspartei ein, die dafür extra das Budgetplenum verlassen mussten. Und nur wussten: „irgendwas mit Pilnacek“. Die Grünen tagten ebenfalls, um sich auf eine Kommunikationslinie zu einigen.
Und so groß die Nervosität zu Beginn war, so gelassen gab man sich später. Die ÖVP beschloss, nur mit leichtem Gegenwind einiger Landeshauptleute, sich auf den Messenger statt die Message zu konzentrieren. Sie befand, dass derartige Aufnahmen an KGB-Methoden erinnern würden und das Gedenken eines Toten dadurch beschmutzt würde. Während man am Vormittag noch intensiv diskutierte, ob man sich weiterhin hinter Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka stellen wollte, war das am Abend ausgemachte Sache. Man hält, obwohl auch intern nicht unumstritten, weiter an ihm fest. profil erfuhr aus internen Quellen, dass man ihm auch einen gut wählbaren Platz auf der Bundesliste für die nächsten Nationalratswahlen geben will.
Grüne halten Ball flach
Sobotkas Büro bezeichnet die Veröffentlichung der Aufnahme eines Toten als „pietätlosen Akt“ und den „Tiefpunkt der politischen Kultur“. Dennoch sah sich der Nationalratspräsident am Donnerstag vor Beginn der Plenarsitzung gezwungen, ein kurzes öffentliches Statement abzugeben. Die Vorwürfe gegen seine Person entsprächen „in keinster Weise der Wahrheit“, er habe „niemals mit Christian Pilnacek zu laufenden Verfahren, Ermittlungen oder Sicherstellungsanordnungen gesprochen“, erklärte Sobotka unter Protest der Opposition. Die Staatsanwaltschaft Wien prüft nun, ob ein Anfangsverdacht wegen versuchter Bestimmung zum Amtsmissbrauch vorliegt.
Sobotka, ein politischer Panzer, demonstriert auch diesmal, dass er sich nicht kleinkriegen lassen will. Bundeskanzler Karl Nehammer stellte sich bereits am Mittwoch demonstrativ hinter ihn. Die Grünen beschlossen ebenfalls, den Ball flach zu halten, anstatt die Regierung zu sprengen. Man sprach etwas von Fehlern in der Vergangenheit – und dass man schon mehrfach einen Sobotka-Rücktritt befürwortet hatte. Aber das sei die Entscheidung des Koalitionspartners, hieß es. Gänzlich tatenlos bleiben konnten die Grünen nach einer derartigen Veröffentlichung freilich auch nicht, immerhin will man potenzielle Wähler mit dem Versprechen der Korruptionsbekämpfung ködern. Justizministerin Alma Zadić kündigte darum eine Untersuchungskommission an. „In den medial verbreiteten Tonbandaufnahmen werden schwere Vorwürfe erhoben“, so Zadić. „Diese zeigen klar, dass es eine von der Politik unabhängige Generalstaatsanwaltschaft braucht, an deren Spitze drei unabhängige Expertinnen gemeinsam entscheiden.“
Kommt jetzt Generalstaatsanwalt?
Was lässt sich aus diesen Aussagen zwischen den Zeilen herauslesen? Erstens, dass beide Regierungsparteien trotz aller Vorwürfe kein Interesse an vorgezogenen Neuwahlen haben, was angesichts der schlechten Umfragewerte nur verständlich ist. Zweitens: Die Grünen haben in dieser Legislaturperiode Macht gelernt und nützen ihr Oberwasser, um die ÖVP unter Druck zu setzen: Rund um die Schaffung eines Generalstaatsanwalts anstelle der bisherigen politischen Weisungsspitze durch den jeweiligen Justizminister gab es in der Vergangenheit gröbere Meinungsverschiedenheiten zwischen ÖVP-Verfassungsministerin Karoline Edtstadler und Zadić. Offenbar will Letztere die Misere der ÖVP nun nützen, um ihre Forderung doch noch durchzubringen. Das ließe sich als Erfolg verkaufen. Und drittens: Untersuchungskommissionen sind ein immer schon beliebtes Beruhigungsmittel, um Aufregungen sanft entschlafen zu lassen. Lange Bank also.
Die Opposition ihrerseits trommelte den Fall und wiederholte ihre Vorwürfe, dass die ÖVP die Justiz beeinflusst habe und das Pilnacek-Tonband ein weiterer Beweis dafür wäre. Der neue Cofag-U-Ausschuss, den sich SPÖ und FPÖ wünschen, wird sich aber nicht mit dem Pilnacek-Tape befassen. Die politische Verantwortung sei in der Causa bereits geklärt, nun sei die Justiz am Zug, argumentieren Kai Jan Krainer (SPÖ) und Christian Hafenecker (FPÖ).
Ich habe in den 10 Jahren der Leitung der vormaligen Sektion IV niemals einen politischen Druck weitergegeben, ganz im Gegenteil.
Das Substrat
Was genau muss nun eigentlich geklärt werden? Sollte tatsächlich Druck auf Pilnacek ausgeübt worden sein, Strafverfahren zu beeinflussen, könnte das eine Anstiftung zum Amtsmissbrauch darstellen. ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker rückte am Dienstag umgehend mit der Behauptung aus, Pilnacek habe in mehreren parlamentarischen Untersuchungsausschüssen unter Wahrheitspflicht gegenteilige Aussagen zu jenen auf dem Audio-Mitschnitt getroffen. Eine Argumentation, die einem genaueren Blick jedoch nicht standhält.
Einerseits sagen selbst Spitzenvertreter der Justiz in U-Ausschüssen nicht immer die Wahrheit und müssen das per Gesetz auch nicht zwingend. Das zeigt das Beispiel des Leiters der Oberstaatsanwaltschaft Wien und Pilnacek-Vertrauten Johann Fuchs, der sich später vor Gericht erfolgreich auf einen sogenannten „Aussagenotstand“ berufen konnte. Und andererseits scheinen die Aussagen Pilnaceks im ÖVP-U-Ausschuss 2022 gar nicht im Widerspruch zur Tonaufnahme zu stehen.
Die Grüne Abgeordnete Nina Tomaselli konfrontierte den suspendierten Sektionschef dort mit einem E-Mail, das dieser im Februar 2022 an die Präsidentin der Staatsanwälte-Vereinigung geschickt hatte. Darin hatte Pilnacek festgehalten: „Ich habe in den 10 Jahren der Leitung der vormaligen Sektion IV niemals einen politischen Druck weitergegeben, ganz im Gegenteil.“ Als Tomaselli fragte, von wem der Beamte denn politischen Druck bekommen habe, wand sich Pilnacek um eine Antwort. Als die Abgeordnete nachhakte, ob der oberste Justizbeamte jemals politischen Druck bekommen habe, entschlug sich Pilnacek der Aussage: „Wenn ich diese Frage auch allenfalls mit Nein oder mit Ja beantworte, glaube ich, ist es klar, dass damit auch die Gefahr einer strafgerichtlichen Verfolgung verbunden ist, weil politischer Druck wäre ja der Vorwurf des Amtsmissbrauchs.“
Kontakte Pilnacek-Sobotka
Aus dem Ausschuss-Protokoll ergibt sich ebenfalls, dass Pilnacek und Sobotka immer wieder in Kontakt standen: „Es ist oftmals darum gegangen, dass Wolfgang Sobotka mich zu bestimmten rechtlichen Fragestellungen um meine Fachmeinung ersuchte“, sagte Pilnacek. Als er gefragt wurde, weshalb auf seinem sichergestellten Handy alleine für 22. und 23. Februar 2021 zwölf Anrufe beziehungsweise Anrufversuche zwischen Sobotka und ihm verzeichnet waren – und ob es dabei um eine kurz zuvor stattgefundene Hausdurchsuchung beim damaligen Finanzminister Gernot Blümel gegangen war, antwortete Pilnacek: „Nachdem auch hier eine Mutmaßung aufgestellt wird, bei der Zutreffung dieser Mutmaßung hier möglicherweise ein strafrechtlich relevanter Sachverhalt verwirklicht worden wäre, berufe ich mich auf mein Aussageverweigerungsrecht.“ Und weiter erklärte der Jurist, warum er keine Antwort geben wollte: „Ich kann mit Herrn Sobotka nicht ohne Verletzung des Amtsgeheimnisses über die Hausdurchsuchung sprechen. Warum soll ich denn noch mehr an Gefahr der strafgerichtlichen Verfolgung bescheinigen als mit diesem Hinweis?“ Eine klare Verneinung politischer Einflussnahme oder Interventionsversuche, wie Stocker sie zur nunmehrigen Verteidigung der Volkspartei in den Raum stellt, klingt anders. (Sobotka zufolge soll es sich bei den Telefonaten um Privatgespräche gehandelt haben.)
Der heutige ÖVP-Generalsekretär Stocker saß damals übrigens selbst für seine Fraktion im Untersuchungsausschuss. Er fragte Pilnacek, ob dieser Wahrnehmungen dazu habe, ob es im Untersuchungszeitraum zu einer politischen Einflussnahme auf Ermittlungsverfahren gekommen sei. Der suspendierte Sektionschef antwortete ausschweifend, letztlich aber nicht mit Ja oder Nein.
Verkehrte Welt
Was das Pilnacek-Tonband aus Sicht der ÖVP besonders bitter macht: Bis Dienstag galt der Spitzenjurist quasi als Kronzeuge der Volkspartei beim Versuch, die WKStA als außer Rand und Band geratene, politisch motivierte Truppe darzustellen. Nach seinem tragischen Ableben wurde zudem der Spin gesetzt, Pilnacek wäre durch ungerechtfertigte Vorverurteilung und damit einhergehende Berichterstattung in den Tod getrieben worden. Verfassungsministerin Karoline Edstadler forderte mit Verweis darauf im profil-Interview ein Zitierverbot aus Ermittlungsakten. Ex-Kanzler Sebastian Kurz, der gerade auf Basis sichergestellter Handy-Chats vor Gericht steht, ist der Meinung, Pilnacek sei durch die Veröffentlichung privater Nachrichten diskreditiert worden. Kurz sagte vor Gericht, er habe noch am Abend vor Pilnaceks Tod mit dem Juristen telefoniert. Ein paar Wochen zuvor war Pilnacek bei der Kino-Premiere von „Kurz – Der Film“ gesichtet worden.
Umgekehrt gilt Pilnacek plötzlich paradoxerweise für jene Oppositionsparteien, die jahrelang kein gutes Haar an ihm gelassen haben, als glaubhafter Zeuge, sobald es gegen die ÖVP geht.
Schatten-Justizminister
Wie konnte das alles so weit kommen? Pilnacek galt seit vielen Jahren als graue Eminenz der österreichischen Justiz. Nicht wenige sahen in ihm einen Schattenminister. Seine fachlichen Sporen verdiente sich der Spitzenjurist mit einer umfassenden Strafprozessreform, die 2008 in Kraft trat. 2010 avancierte er dann zum Leiter einer sogenannten „Supersektion“, in welcher die Verantwortung für die Legistik und Einzelstrafsachen gebündelt war. Faktisch hieß das: Pilnacek bereitete in Abstimmung mit der Politik Gesetzesvorhaben und Reformen vor, gleichzeitig liefen über seinen Schreibtisch im Rahmen der Fachaufsicht über die Strafverfolgungsbehörden sämtliche prominenten Ermittlungsfälle der Republik.
Eine mächtige Position, die in einem Land wie Österreich, wo jeder jeden kennt, geradezu danach ruft, Begehrlichkeiten von außerhalb zu wecken. Und deren Machtfülle andererseits tiefes Misstrauen hervorrufen kann. Umso mehr, wenn deren Inhaber – so wie Pilnacek Anfang 2018 – auch noch zum Generalsekretär des Ministeriums befördert wird und damit noch näher an die politische Spitze heranrückt.
Der Anfang der Misere
Nach einer Dienstbesprechung in der Causa Eurofighter im April 2019 erstattete die WKStA Anzeige gegen Pilnacek. In der Sitzung hatte der Generalsekretär und Sektionschef vom Erschlagen von Verfahrensteilen („Setzts eich zsamm und daschlogts es“) gesprochen – und davon, dass er bereit wäre, ein Auge zuzudrücken, was sich offenbar auf eine mögliche Teileinstellung im Verfahrenskomplex bezog. Vonseiten der WKStA war die Besprechung geheim aufgezeichnet worden – zu Zwecken der Protokollerstellung, wie später argumentiert wurde. Die Anzeige der WKStA wurde bald darauf mangels Anfangsverdachts von der Staatsanwaltschaft Linz zurückgelegt. Der damalige Justizminister Clemens Jabloner sah sich dennoch veranlasst, den Ablauf von Weisungen neu zu definieren: Alle Eingriffe in die staatsanwaltschaftliche Tätigkeit hätten als ausdrückliche Weisungen zu erfolgen, so die Festlegung. Subtext: nicht mehr im Rahmen faktisch unprotokollierter und durchaus emotional geführter Dienstbesprechungen. Eine nicht ausgesprochene, aber dennoch spürbare Kritik am Führungsstil des mächtigen und selbstbewussten Spitzenbeamten Pilnacek.
Es sollte der Anfang seines Abstiegs sein: Im Jänner 2020 traf er sich persönlich mit den früheren Casinos-Austria-Aufsichtsräten Walter Rothensteiner und Josef Pröll, welche von der WKStA als Beschuldigte im großen Casinos-Verfahrenskomplex um einen angeblichen FPÖ-Novomatic-Deal und diesbezügliche Personalentscheidungen geführt wurden. (Alle Betroffenen haben sämtliche Vorwürfe immer bestritten.) Die nunmehrige grüne Justizministerin Zadić sah sich veranlasst, eine Weisung zu erteilen, dass derartige Treffen mit Beschuldigten in Zukunft zu unterlassen seien: Jeder Anschein einer bevorzugten Behandlung müsse vermieden werden. Die nächste öffentliche Ohrfeige.
Entmachtung durch Zadić
Zadić entschied in der Folge, Pilnaceks „Supersektion“ in zwei Sektionen aufzuteilen – ein sanfter Weg der Entmachtung. Ab September 2020 war der Top-Jurist nur noch für Legistikangelegenheiten und nicht mehr für Einzelstrafsachen verantwortlich. Immer wieder wurden in dieser Zeit Vorwürfe gegen Pilnacek laut. Der große Paukenschlag folgte allerdings im Februar 2021. Nach einem Hinweis der WKStA stellte die Staatsanwaltschaft Wien das Handy des Sektionschefs sicher. Der Vorwurf: Pilnacek soll über den früheren Justizminister Wolfgang Brandstetter den genauen Zeitpunkt einer geplanten Hausdurchsuchung beim Unternehmer Michael Tojner verraten haben. Alle Betroffenen haben das immer bestritten. Pilnacek wurde dennoch suspendiert. Die Staatsanwaltschaft Innsbruck, die zwischenzeitlich für die Causa zuständig wurde, ermittelte bis zum nunmehrigen Ableben des Beamten.
Die Justiz-Scharmützel der vergangenen Jahre und die nun aufgetauchte Tonbandaufnahme zeigen jedenfalls eines: Pilnacek konnte es irgendwann niemandem mehr recht machen. Die einen, so sagt er, hätten von ihm gewollt, dass er etwas zudeckt – was er nach eigenen Angaben nicht getan hat. Bis dato gibt es diesbezüglich auch keine konkreten Anhaltspunkte; es wird sich weisen, ob die Untersuchungskommission, die Zadić nun ins Leben ruft, etwas findet. Die anderen glaubten ihm seine angebliche Zurückhaltung aber schlicht nicht.
Pilnaceks Selbstverständnis war offenbar ein ganz anderes: „Ich war nie in einem politischen Kabinett und gehöre keinem Netzwerk an. Ich bin weder Mitglied einer politischen Partei noch Mitglied des CV, des BSA, einer Burschenschaft, der Rotarier, des Lions-Clubs oder der Freimaurer und habe meine Karriere meinen Leistungen, meinen Mitarbeitern und jenen zu verdanken, die mich im BMJ gefördert haben“, gab Pilnacek im Ibiza-U-Ausschuss im Jahr 2020 zu Protokoll. Ein Nullgruppler und nichts mehr und nichts weniger als ein loyaler Beamter. Ist das glaubhaft? Ja und nein.
Pilnaceks Selbstverständnis
Pilnacek wurde von seinen Freunden und Bekannten oft liebevoll gefrotzelt, dass er einer aussterbenden Art angehöre: ein Dinosaurier, ein Beamter wie aus dem Bilderbuch, von Aussehen und Habitus, edler Zwirn, aufrechter Gang. Und mächtig: Er erlebte in seiner Amtszeit 13 Justizminister verschiedener Couleurs, von FPÖ über BZÖ, ÖVP und SPÖ. Zuletzt war die grüne Justizministerin Zadić seine Chefin, unter deren Amtszeit er schließlich im Februar 2021 suspendiert wurde und die auch hinter den Kulissen einiges dazu beigetragen haben soll, dass er nicht so schnell zurückkehren würde. Die beiden wurden keine Freunde mehr.
Wäre es dabei nur um Differenzen im politischen Weltbild gegangen, hätte es die Zusammenarbeit wohl nicht beeinträchtigt. Ex-SPÖ-Justizministerin Maria Berger war vergangenen Samstag sowohl beim Requiem in der Kirche wie nachher in kleiner Runde in das Justizcafé im Justizpalast geladen. Ein Zeichen der Anerkennung, dass sie ihn als aufrechten, beamteten Mitarbeiter geschätzt hatte – so wie auch die Minister vor und nach ihr. Man respektierte ihn als ausgezeichneten Juristen: Auch wenn Pilnacek eine umstrittene Person war, seine Expertise stellten selbst seine größten Feinde nicht infrage.
Pilnacek bezeichnete sich selbst als loyal – und verteidigte seine Minister während seiner Amtszeit nach außen, bis die Verwerfungen begannen, in jedem Gespräch. So wie es sich für einen guten Beamten gehört. Das wurde von seinen Vorgesetzten auch sehr geschätzt, Pilnacek kletterte die Karriereleiter höher und höher.
Die Nähe zur Politik
Der letzte Beförderung im Jahr 2018 war für Pilnacek allerdings mehr Fluch denn Segen. Türkis-Blau reformierte die Struktur der Ministerien und erfand die Posten der Generalsekretäre. Sie wurden als Hybridwesen zwischen Politik und Beamtenschaft konstruiert, versehen mit großer Macht und neuer Weisungskompetenz, die es ihnen möglich machte, auf die unteren Beamtenebenen zuzugreifen. Eine derartige Vermengung von Apparat und Politik hatte es zuvor vor allem im Justizministerium, das die Unabhängigkeit zelebrierte, aus guten Gründen nicht gegeben. Man hatte auf die Selbstreinigungskräfte großen Wert gelegt.
Justizminister Josef Moser ernannte Pilnacek auf diesen Posten. Damit war er plötzlich nicht nur mehr Beamter, sondern per Jobdefinition der Politik ein Stück näher gerückt. Pilnacek erfüllte sein neues Amt auch mit den damit einhergehenden Aufgaben. Er vertrat den Minister bei Medienterminen, gab große Interviews im ORF – oder kommunizierte auch immer wieder politische Anliegen in dessen Namen. Mit der neuen Position ging auch der Aufstieg in eine höhere gesellschaftliche Schicht einher, und Pilnacek schien die gerade erst geschnupperte Höhenluft zu gefallen. Und ebenso, dass abends in seinen Stammlokalen der Kontakt zu ihm gesucht wurde. Er war für viele greifbar und dadurch angreifbar.
In der Zwickmühle
Plötzlich geriet der Jurist in eine Zwickmühle, die für ihn fatal werden sollte: Er wurde nicht mehr als der unabhängige, loyale Spitzenbeamte gesehen, sondern schwamm im Fahrwasser der Politik. Das bedeutet freilich noch nicht, dass jemand rechtliche Grenzen überschreitet. Aber schon, dass es an ihn offenbar eine neue Erwartungshaltung gegeben hat, sowohl von den Beamten als auch von der Politik, weil man ihn mit anderen Augen sah. Als Beamten-Politik-Zwitterwesen war er weder vollständig Teil des einen noch des anderen: bei aller formeller Machtfülle eigentlich eine schwache Position.
Mit der neuen Funktion kamen aber auch schnell die Probleme – spätestens dann, als Pilnacek in dieser Position mit Weisungsbefugnis viele politisch konnotierte Verfahren letztverantwortete. Er selbst sah die Wurzel des Zerwürfnisses mit der WKStA im BVT-Verfahren begründet. Nach Hausdurchsuchungen im damaligen Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) im Februar 2018, welche später übrigens gerichtlich als rechtswidrig eingestuft werden sollten, stand die Ermittlungsbehörde schwer unter Druck.
Pilnacek sagte im Vorjahr im U-Ausschuss, einige Vertreter der WKStA seien damit unzufrieden gewesen, dass das Ministerium ihnen zu wenig Rückhalt gegeben hätte. 2019 folgte die Eskalation um die erwähnte Eurofighter-Dienstbesprechung. Just zu jener Zeit, als die Dienstbesprechungs-Causa öffentlich wurde, schlug auch noch das Ibiza-Video auf – und damit die Frage, wie die Justiz mit dem Video und dessen Inhalt umgehen sollte. Ein paar Tage später sorgte eine anonyme, aber durchaus detaillierte Anzeige in Kombination mit dem Video für den Start des Casino-Verfahrens, das bis heute die Republik in Atem hält und unter anderem Bundeskanzler Sebastian Kurz das Amt kostete.
„Das ist ein Putsch!!“
Allesamt politisch konnotierte Verfahren, und allem Anschein nach hatte die Politik eine Erwartungshaltung an Pilnacek. Sie glaubte offenbar, sich auch rein informell an ihn wenden zu können. Nachdem Pilnaceks Handy im Februar 2021 sichergestellt worden war, wurde es von den Behörden ausgewertet. Sichergestellte Chats landeten im Untersuchungsausschuss. Darunter fanden sich auch Nachrichten Pilnaceks an einen Mitarbeiter des damaligen Finanzmisters Gernot Blümel, der gerade eine Hausdurchsuchung hinter sich hatte. Pilnacek tippte dabei Sätze wie, „Das ist ein Putsch!!“ und, „Wer vorbereitet Gernot auf seine Vernehmung?“ in sein Handy. Außerdem gab er Empfehlungen zur weiteren rechtlichen Vorgehensweise ab. Unter anderem schrieb er: „Rate dringend zur Dienstaufsichtsbeschwerde an VK-Kogler“.
Das mag strafrechtlich nicht relevant sein – Pilnacek war da bereits im Ministerium nicht mehr für Einzelstrafsachen zuständig. Es zeigt aber dennoch, dass der Jurist Hilfeleistungen auch in Richtung der Politik nicht grundsätzlich abgeneigt war. Im konkreten Fall verurteilte ihn die Disziplinarbehörde im April 2023 (nicht rechtskräftig) wegen einer Dienstpflichtverletzung.
Das Vermächtnis
Pilnacek war ein Machtmensch, aber mächtig ist man nur, solange einem die Gefolgschaft nicht verweigert wird. Ein Teil der Justiz lehnte sich eines Tages gegen ihn auf, und Pilnacek war auch aufgrund seines eigenen Tuns angreifbar geworden. Der Fall Pilnacek hat viele Schattenseiten der Republik aufgeworfen. Er hat gezeigt, dass die Justiz kein so gut funktionierender Apparat ist, wie man die Bevölkerung wohl gerne glauben machen möchte. Gesetze funktionieren nur, wenn sich die Menschen aus Furcht vor Konsequenzen auch daran halten. Wenn der Apparat, der für diese Einhaltung zuständig ist, in Schieflage geraten ist und Selbstreinigungskräfte nicht mehr funktionieren, richtet das großen demokratiepolitischen Schaden an.
Der Fall zeigt auch, dass sich die Politik wieder zurücknehmen muss und die Beamtenschaft ihre Arbeit machen lassen soll, ohne zu sehr einzugreifen. Dazu zählt auch die Unsitte, Kabinettsmitarbeiter gegen Ende der Legislaturperiode auf Führungspositionen in Ministerien zu setzen.
Pilnacek ist tot, er kann sich gegen die Instrumentalisierung von allen Seiten nicht mehr wehren. Sein Vermächtnis – im Positiven wie im Negativen – hätte das Potenzial, nachhaltig zu einer Verbesserung in einem wichtigen Bereich der Republik zu führen. Aber nur, wenn ehrlich damit umgegangen wird.
Stefan Melichar
ist Chefreporter bei profil. Der Investigativ- und Wirtschaftsjournalist ist Mitglied beim International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ).
Max Miller
ist seit Mai 2023 Innenpolitik-Redakteur bei profil. Schaut aufs große Ganze, kritzelt gerne und chattet für den Newsletter Ballhausplatz. War zuvor bei der „Kleinen Zeitung“.
Anna Thalhammer
ist seit März 2023 Chefredakteurin des profil. Davor war sie Chefreporterin bei der Tageszeitung „Die Presse“.