Heinz Fischer: "Beim Einkaufen bin ich Spitzenklasse"
Heinz Fischer stößt schwungvoll die berühmteste Tapetentür der Republik auf, bittet die profil-Delegation in sein Büro und legt gleich energisch die Sitzordnung fest: "Es gibt ein Placement: die Dame hier, der Herr hier! Wenn nicht alles seine Ordnung hat, wie soll man dann arbeiten?" Fischer setzt sich schmunzelnd ans Tischende und gibt eine kleine Anekdote zum Besten: Bruno Kreisky pflegte in seiner Zeit als Kanzler immer mindestens eine Viertelstunde zu spät zu Ministerratsvorbesprechungen zu kommen: "Eines Tages geschieht das Ungeheuerliche", erzählt Fischer: "Kreisky ist pünktlich – und das Ministerratszimmer halb leer. Da kommen tratschend Hertha Firnberg und Christian Broda herein. Kreisky nimmt die Brille ab und sagt: 'Wie soll man denn da arbeiten, wenn jeder kommt, wann er will?'".
Das war in den 1970er-Jahren. Auch Heinz Fischer ist inzwischen ein Stück österreichischer Zeitgeschichte. Fast ein halbes Jahrhundert war er in der Spitzenpolitik aktiv. Als zurückhaltender und unprätentiöser Bundespräsident verschaffte er sich weit über alle Parteigrenzen hinweg Respekt. Im Oktober wird er 78 Jahre alt, im Juli übergibt er sein Amt nach zwölf Jahren an Alexander Van der Bellen.
profil: Es war ein heftiger, streckenweise fast erbitterter Präsidentschaftswahlkampf. Wie fällt Ihr persönliches Resümee aus? Heinz Fischer: Im Nachhinein wird die Heftigkeit des Wahlkampfes stark übertrieben. Im Großen und Ganzen war er ziemlich ruhig – abgesehen vielleicht von der einen „berüchtigten“ Fernsehdiskussion. Ich stelle auch mit Befriedigung fest, dass sowohl Hofer als auch Van der Bellen sich nach der Wahl so verhalten, wie es sich in einer Demokratie gehört: maßvoll und fair.
Man ist nicht ein guter Bundespräsident, wenn man von Zeit zu Zeit ordentlich auf den Tisch haut und glaubt, der bessere Bundeskanzler zu sein
profil: Sie kritisierten während des Wahlkampfs immerhin die „Allmachtsfantasien“ mancher Kandidaten. Tatsächlich sind die Machtbefugnisse des österreichischen Bundespräsidenten durchaus bemerkenswert: Sie könnten zum Beispiel jeden x-beliebigen Passanten zum Kanzler ernennen. Fischer: Nicht „jeden“, aber jeden, der zum Nationalrat wählbar ist. Aber hier ist die Theorie von der Realität extrem weit entfernt. Das Kirchenrecht sagt ja auch, dass bei der Papstwahl jeder männliche Katholik wählbar ist, und auch das ist von der Realität unendlich weit entfernt. Ein Bundespräsident, der beim Auftrag zur Regierungsbildung nicht mit größter Sorgfalt und Realitätssinn handelt, sondern einen Passanten zum Bundeskanzler ernennt, würde in Wahrheit nur Schwäche demonstrieren, weil sein Kandidat den ersten Misstrauensantrag nicht überleben würde. Irgendwie erinnert mich die Diskussion über die Macht des Bundespräsidenten an die sinnlose Frage, die Stalin während des Zweiten Weltkrieges gestellt haben soll: "Wie viele Divisionen hat der Papst?" Es kommt beim Papst nicht auf die Divisionen an – und beim Bundespräsidenten nicht primär auf die Macht. Entscheidend ist, ob er seine Aufgabe im Staatsgefüge – nämlich der oberste und feste Baustein im Gebäude der Demokratie zu sein – in sinnvoller und vertrauenerweckender Weise erfüllt. Je mehr Vertrauen er genießt, umso weniger ist Macht der entscheidende Faktor. Man ist nicht ein guter Bundespräsident, wenn man von Zeit zu Zeit ordentlich auf den Tisch haut und glaubt, der bessere Bundeskanzler zu sein, sondern dann, wenn sich möglichst große Teile der Bevölkerung mit dem Bundespräsidenten identifizieren können und zu ihm Vertrauen haben.
profil: Sie können nicht leugnen, dass die Sehnsucht nach dem sogenannten starken Mann weit verbreitet ist. Fischer: Ja, die ist tatsächlich vorhanden. Ich erzähle Ihnen dazu eine kleine Anekdote: Im Oktober 2004, drei Monate nach meiner Amtsübernahme, war ich im Burgenland unterwegs. Da kam ein Straßenarbeiter, ein kräftiger Typ mit einem blauen Leiberl, auf mich zu und sagte: „Herr Bundespräsident, Sie machen das eh super! Aber nur eines: Hauen S’ doch endlich einmal auf den Tisch!“ Das werde ich nie vergessen, weil es sicher nicht untypisch für viele Menschen war. Aber Politik ist nun einmal sehr komplex, und die Zeit der starken Männer und der einfachen Antworten liegt hinter uns.
Es steht die Frage im Raum, ob unser derzeitiges Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell noch auf der Höhe der Zeit ist
profil: Sie sagten einmal: „Niemand kann in den Lackschuhen privater Tugend durch die Geschichte schreiten.“ Mussten auch Sie hin und wieder die Lackschuhe ausziehen? Fischer: Das Zitat stammt aus einem Essay des polnischen Philosophen Leszek Kołakowski zum Thema Politik und Moral. Bertolt Brecht formulierte noch direkter, wenn er schrieb: „Wer für den Kommunismus kämpft, hat von allen Tugenden nur eine: dass er für den Kommunismus kämpft.“ Das reflektierte in der Zeit des Kampfes zwischen Faschismus und Stalinismus die auf beiden Seiten verbreitete Ansicht, dass im Kampf gegen das jeweilige Gegenüber, also das absolut Böse, alles erlaubt sei. Am Ende stand das moralische Chaos. In demokratischen Verhältnissen ist das aber kein Thema. Wir haben keinen Feind in der Demokratie, bei dessen Bekämpfung alles erlaubt wäre, und das gilt glücklicherweise für alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes.
profil: Wenn man die Internetforen mit den Kommentaren mancher Bürgerinnen und Bürger durchforstet, gewinnt man nicht unbedingt diesen Eindruck. Fischer: Jetzt kommen wir von verfassungsrechtlichen und moralischen Grundsatzfragen zur Psychologie. Heute sind überdurchschnittlich viele Menschen verunsichert und besorgt. Sie stehen vor für sie unlösbaren Problemen und hoffen daher auf einfache Antworten und Rezepte, die noch dazu sofort wirken sollten. Aber einfache Antworten und prompte Lösungen gibt es in vielen Fällen nicht, und daraus können Frust, Aggressionen und Proteststimmen entstehen.
Ich rate zur Vorsicht bei Formulierungen wie „gespaltenes Land“ oder „tiefe Gräben“
profil: Teilen Sie die Einschätzung, dass Österreich nach den Präsidentschaftswahlen mehr denn je ein gespaltenes Land ist? Fischer: Nein. Ich rate zur Vorsicht bei Formulierungen wie „gespaltenes Land“ oder „tiefe Gräben“. Solche Bilder werden der komplexen Realität nicht gerecht. Wahr ist, dass Van der Bellen in städtischen Gebieten und bei Mitte links meistens die Mehrheit hatte und Hofer in ländlichen Regionen und eher bei Mitte rechts. Eine politische Landkarte im Jahr 1970 hätte aber eine ähnliche Struktur zwischen SPÖ und ÖVP gezeigt. In Wahrheit sind die politischen Strukturen heute bunter als je zuvor, und die Stimmenverteilung zwischen einem aus den Reihen der FPÖ stammenden Kandidaten und einem aus den Reihen der Grünen stammenden Kandidaten bildet sicher nicht das gesamte politische Spektrum ab, nachdem die Kandidaten von SPÖ und ÖVP nicht mehr zur Wahl standen.
profil: Aber im Vergleich zu 1970 gibt es neue bewusstseinsbildende Faktoren: die Wut auf das politische Establishment etwa und andere negative Emotionen, vor allem in der Flüchtlingsdiskussion. Fischer: Das Flüchtlingsthema ist tatsächlich ein eigenes Kapitel, weil es in einem besorgniserregenden Ausmaß Ängste befeuert. Und von der Angst hin zur Aggression oder gar zum Hass ist es oft nur ein kleiner Schritt. Die Zukunftsängste der Menschen sind heute größer als vor einigen Jahrzehnten. Damals konnte jeder das Gefühl haben, es geht aufwärts, meine Kinder werden es besser haben als ich. Das war unendlich beruhigend. Heute kann niemand versprechen, dass unsere Kinder es auf jeden Fall besser haben werden. Darin liegt eine große Herausforderung für alle, die politische Verantwortung in der Demokratie tragen.
Es geht nicht um mangelndes Interesse an demokratischen Prozessen, sondern um schwindendes Vertrauen
profil: Leider sind viele Menschen gar nicht mehr so sehr an demokratischen Prozessen interessiert – nicht nur in Österreich, auch in vielen anderen Ländern, einschließlich der USA, wo Donald Trump als vermeintlich starker Mann Furore macht. Was kann die Politik dieser brandgefährlichen Entwicklung entgegensetzen? Fischer: Es geht nicht um mangelndes Interesse an demokratischen Prozessen, sondern um schwindendes Vertrauen in das politisch-ökonomische System Europas und über die Grenzen Europas hinaus. Was wir soziale Marktwirtschaft nennen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg hervorragend entwickelt hat, stößt offenbar an Grenzen und ist offensichtlich nur bedingt in der Lage, die aktuellen Probleme zu lösen. Die jüngste Wirtschaftskrise ist ein Teil dieses Problems, die wachsende Ungleichheit in der Vermögens- und Einkommensverteilung ebenfalls. Es steht die Frage im Raum, ob unser derzeitiges Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell noch auf der Höhe der Zeit ist. Ungerechtigkeiten, bürokratische Hindernisse, unbefriedigende Arbeitsverhältnisse und das Tempo der Veränderung bedrängen und verunsichern viele Menschen in einem so starken Ausmaß, dass dies zum Erfolg von Strömungen und Kandidaten führt, die radikale Abhilfe versprechen, ohne zu wissen, wodurch und um welchen Preis. Damit muss sich Europa als Ganzes beschäftigen.
profil: Der neue Bundeskanzler Christian Kern hatte einen fulminanten Einstand – man könnte fast von einem Hype um ihn sprechen. Sind die hochgesteckten Erwartungen eher eine Chance oder eine Belastung? Fischer: Es ist sicher eine Chance. Hoffnungen und Chancen gehören zu den stärksten Antriebskräften in der gesellschaftlichen Entwicklung.
profil: Kann „Super-Kern“, wie manche ihn schon nennen, seinem Startbonus gerecht werden? Fischer: Wenn sich ein neuer Regierungschef hinstellt und in seiner ersten Pressekonferenz in freier Rede skizzieren kann, was ihn bisher gestört hat und was er besser machen will, und bei seinem zweiten Auftritt im Fernsehen erkennen lässt, dass er nicht an Streit interessiert ist, sondern an neuen Lösungen, und bei seinem dritten Auftritt im Parlament nicht etwas vom Blatt liest, was zwölf Ministerien für ihn zusammengetragen haben, sondern den Finger dorthin legt, wo der größte Handlungsbedarf liegt, und sein Regierungspartner darauf sehr klug und kongruent antwortet – dann darf man wohl von einem sehr guten Start sprechen. Das ist wie bei einem Formel-1-Rennen: Wenn Lewis Hamilton einen guten Start hinlegt, hilft ihm das beim ganzen Rennen bis zur Zielgeraden.
Ich werde mich weiterhin für Politik interessieren, meine Gesinnung nicht ändern
profil: Sie selbst befinden sich nicht mehr in der Startphase, sondern, um im Bild zu bleiben, eher auf der Zielgeraden Ihrer politischen Karriere. Worauf freuen Sie sich am meisten, wenn Ihr Job in der Hofburg nach zwölf Jahren erledigt ist? Fischer: Ich empfand meine zwölf Jahre als Klubobmann im Parlament als unglaublich interessante Lebensphase. Ich bin froh, dass ich in den 1980er-Jahren die Politik aus der Perspektive eines Ministers kennenlernen durfte. Auch die zwölf Jahre als Nationalratspräsident waren für mich eine große Bereicherung. Und ich bin glücklich darüber, dass ich für Österreich seit 2004 als Bundespräsident arbeiten durfte. Knapp vor meinem 78. Geburtstag übergebe ich dieses Amt gern an einen guten Nachfolger. Ich freue mich auf mehr Zeit für meine Familie, auf Kunst und Musik, Theater und Bücher, auf eine Gastprofessur an der Universität Innsbruck und weitere Aufgaben.
profil: Sie haben als Bundespräsident Ihre SPÖ-Mitgliedschaft ruhend gestellt. Werden Sie sie reaktivieren? Fischer: Ich werde mich weiterhin für Politik interessieren, meine Gesinnung nicht ändern und auch internationale Kontakte weiter pflegen. Aber ich möchte auch als „Altbundespräsident“ an der Tatsache, dass ich meine Parteimitgliedschaft ruhend gestellt habe, nichts ändern.
profil: Andere Spitzenpolitiker berichten, dass sie sich nach Ihrem Rückzug ganz alltägliche Dinge wieder aneignen mussten. Wie ist das bei Ihnen: Werden Sie Telefonieren, Einkaufen oder Autofahren neu lernen müssen? Fischer: Beim Einkaufen bin ich Spitzenklasse. Meine Frau sagt zwar, ich kaufe meistens zu viel ein, weil ich appetitlich angerichteten Angeboten schwer widerstehen kann, aber ich tue es gerne. Auch Telefonieren wird kein Problem sein, das habe ich mein Leben lang gemacht. Beim Autofahren bin ich allerdings ziemlich aus der Übung.
profil: Auch das Leben mit Repräsentationszwängen wird nach dem 8. Juli vorbei sein. Hat die Hofburg-Etikette Sie manchmal genervt? Fischer: Wenn Sie eine kurze Antwort wollen: Ich hatte kein Problem damit.
profil: Dann bitten wir um eine längere Antwort. Fischer: Wir haben manches beim Protokoll vereinfacht. Als ich mir nach meinem Amtsantritt nicht nur einen Frack für den Opernball kaufen musste, sondern auch einen Cut für die Übernahme von Beglaubigungsschreiben ausländischer Botschafter und ähnliche Zeremonien, habe ich vorgeschlagen, dass man diese Usancen vereinfacht und sich mit dunklem Anzug begnügt. Es herrscht heute meines Erachtens eine unkomplizierte, offene und kameradschaftliche Arbeitsweise in der Präsidentschaftskanzlei.
profil: Bruno Aigner war 41 Jahre lang Ihr Pressesprecher. Und er trägt noch immer keine Krawatte. Fischer: Auch das ist ein gutes Beispiel – obwohl ich ihn irgendwann vor einigen Jahren mit einer Krawatte gesehen habe. (Bruno Aigner, der dabei sitzt, runzelt zweifelnd die Stirn: „Sicher?“) Aber zurück zu Ihrer Frage: Meine Frau sagt, dass das Protokoll auch durchaus angenehme Seiten hat. Denn man weiß, wann was geschieht, wie man dran ist, neben wem man sitzen wird und was man mit dem- oder derjenigen reden kann – denn das wird in diskreter Weise vorbereitet. Ich sage also nicht, dass ich mich ab 8. Juli endlich wieder frei fühlen werde, denn ich habe mich als Bundespräsident nie unfrei gefühlt.
profil: Werden Sie den Opernball auch als Privatier besuchen? Fischer: Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Der Opernball ist jedenfalls eine schöne und eindrucksvolle Veranstaltung. Das haben auch alle unsere ausländischen Gäste so empfunden.
profil: Das heißt, Sie haben den Opernball lieben gelernt? Fischer: Sagen wir: schätzen gelernt.