Flucht: Das Smartphone als überlebenswichtigen Tool
Um neun Uhr früh war Gofran voller Hoffnung. Die Syrerin stieg mit ihrem Mann aus dem Zug. Kurz darauf fand sie eine Internetverbindung, loggte sich ein und postete ein Foto auf Facebook. Es zeigt ihren Mann bei den Gleisen am Wiener Westbahnhof. Der schmale Syrer lächelt müde in die Handykamera. Daneben die Info, sie sind heil in Wien angekommen, endlich nicht mehr in Ungarn. Ihr Vater kommentierte das Bild aus der Heimat: „Schön, dass es euch gutgeht.“ Acht Likes hat der Eintrag.
Neun Stunden später wirkt Gofran, eine 30-jährige Lehrerin aus Aleppo, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will, immer besorgter. Die Frau mit dem schwarzgelben Kopftuch sitzt in der Bahnhofshalle und blickt nervös auf ihr weißes Samsung-Handy. Es vibriert, sie schaut nach – senkt enttäuscht den Blick. In Budapest, kurz vor der Abfahrt, hat sie Familienmitglieder verloren: Die Eltern ihres Mannes, zwei seiner Brüder, eine Schwägerin hätten im nächsten Zug ankommen sollen. Verzweifelt versucht das Ehepaar, sie zu erreichen. Er marschiert neben den Gleisen auf und ab, mustert jeden einfahrenden Zug. Sie hat dem Schwager Dutzende Nachrichten auf WhatsApp hinterlassen – darunter einen Screenshot von Google Maps. Der blaue Punkt zeigt, wo sie sich am Westbahnhof aufhält.
Begleiter, Kompass und Ratgeber
Smartphones: Sie sind zu einem zentralen Bild der Flüchtlingskrise geworden. Rechtspopulisten ätzen gegen „Asylanten“ und behaupten, so schlimm könne ihre Situation ja gar nicht sein, wenn sie Markenhandys besitzen. Eine bösartige Behauptung. Das zeigt sich auch dieser Tage auf den Wiener Bahnhöfen. Gerade in Zeiten globaler Verunsicherung und großer Flüchtlingsströme sind Smartphones ein wichtiges Werkzeug für Menschen auf der Flucht – sie sind ständige Begleiter, Kompass, Ratgeber, Fotoalbum, Notizbuch. Und sie führen Familien zusammen, die über den Erdball verstreut sind.
Am Tisch neben Gofran, die weiter besorgt blickt, telefoniert ein junger Syrer. Er spricht kaum Englisch, drückt der profil-Redakteurin sein Smartphone in die Hand. „I will translate“, sagt die Stimme. Sie gehört dem Bruder des Syrers. Dieser erzählt am Apparat, wie er diesen durch Europa lotst. In jedem neuen Land kauft sich sein Bruder eine SIM-Karte und bekommt neue Instruktionen von der Stimme am Telefon – welchen Zug er nehmen oder wohin er marschieren soll. Der Mann, dem die Stimme gehört, sitzt selbst in einem Asylheim in der Steiermark. Er will seinen Bruder aber weiterleiten: nach Deutschland oder Schweden. „Better not here“, sagt die Stimme.
Diese Mischung aus menschlicher und digitaler Navigation ist durchaus üblich: Wie die „New York Times“ berichtete, bieten Schlepper ihre Dienste via Facebook an. Es gibt auch Facebook-Gruppen, wo sich Syrer gegenseitig Tipps geben, um ohne kriminelle Zwischenmänner nach Europa zu kommen. Das Smartphone ist somit auch ein Tool, um Schlepper zu umgehen oder um Kinder zu ihren Eltern zurückzuführen – selbst dafür existieren mittlerweile eigene Facebook-Gruppen.
So verwunderlich ist das nicht. Wenn heute alles über das Netz organisiert wird, wenn man Taxis online bestellen und Weltreisen via Google Maps vorbereiten kann, warum soll nicht auch die Flucht digital organisiert werden?
Die Flüchtlinge kommen ja nicht aus der Steinzeit, sondern aus dem 21. Jahrhundert.
Die Rechtspopulisten schüren Neid. Am 8. Oktober 2014 postete FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache einen Zeitungsartikel auf Facebook, wonach der Mobilfunkanbieter Drei in einem Wiener Asylheim gratis Internet zur Verfügung stelle. Strache schrieb dazu: „Viele Bürger sind sprachlos. Die steuerzahlenden Österreicher bezahlen ihre Mobilnetzanbieter selbst. Wir haben jedoch auch viele obdachlose Österreicher, viele arme Österreicher und Menschen mit Mindestpension, denen diese Sponsorenleistung versagt bleibt! Eine weitere Instinktlosigkeit!“
Dabei stimmt das so gar nicht. Drei bietet diese Hilfe ebenfalls Obdachlosen an, etwa in der VinziRast in Wien. Das erwähnt die FPÖ nicht. Die Kritik an den Asylwerbern und ihren Smartphones basiert auf einem massiven Missverständnis: „Das Smartphone ist längst kein Luxusgut mehr, es ist ein normaler Gebrauchsgegenstand geworden. Und die Flüchtlinge kommen ja nicht aus der Steinzeit, sondern aus dem 21. Jahrhundert“, sagt der renommierte Krisenhelfer Kilian Kleinschmidt, der in Jordanien einst eines der größten Flüchtlingslager der Welt leitete und jetzt die österreichische Regierung berät. In Ländern wie Pakistan oder Afghanistan seien Smartphones auch deswegen weit verbreitet, weil es kaum Festnetzanschlüsse gibt – ohne Handy ist man nicht erreichbar.
Kleinschmidt soll die Regierung auch zur Lage in Traiskirchen beraten. Vielleicht können Smartphones dort ein Teil der Lösung sein: „Von jedem Flüchtling, der nach Traiskirchen kommt, sollte man die Handynummer aufschreiben und ihn so gezielt mit Information versorgen.“ So macht es das UN-Flüchtlingskommissariat (Unhcr) schon längst: In den großen Refugeecamps werden Zigtausende SMS per Knopfdruck verschickt, um Informationen rasch (und in der Sprache der Betroffenen) zu verteilen. Eine weitere Idee für Traiskirchen: Mit Smartphones könnte man die Hilfe vor Ort besser organisieren. Derzeit teilen ambitionierte Bürger selbstständig Essen auf der Straße aus – eine Notlösung. Denn übrig bleiben viel Abfall und die Unklarheit, ob die Ressourcen fair verteilt wurden.
In Wien gibt es bereits derartige Infos. Twitter-Accounts wie „@HBF_Vie“ und eine App der Stadt namens „wien.at live“ benachrichtigen, welche Sachspenden aktuell benötigt werden. Das Ziel ist auch, Chaos zu verhindern.
Wo der blaue Punkt noch landen wird? Das weiß nicht einmal Google.
Denn jedes Bild, das Flüchtlinge schlecht aussehen lässt, wird von Asylgegnern begeistert geteilt. Tatsächlich gibt es derzeit sehr viel Müll – ein Ergebnis, wenn Zehntausende Menschen durch Europa wandern. Aber manche „Fotobeweise“ sind einfach nur eine Lüge. Neulich postete ein User eine Aufnahme vom Westbahnhof. Sie zeigt etliche Kisten Brot vor Müllcontainern. „So gehen sie mit euren Spenden um“, so die Bildunterschrift. Auch das: falsch. Die Caritas hatte das Brot neben den Containern zwischengelagert – weil es draußen regnete und trockener Abstellplatz fehlte. „Wir haben ein Müllproblem!“, schrieb Caritas-Wien-Generalsekretär Klaus Schwertner auf Facebook. Konkret jenes, dass so viel Müll im Internet gepostet würde.
Viele Bürger zücken dieser Tage selbst ihr Smartphone, gehen zu Bahnhöfen, machen Selfies oder filmen quietschvergnügte Flüchtlingskinder. Das ist die andere Seite in diesem Informationskrieg: Diese Österreicher wollen der Hassrhetorik etwas entgegensetzen. Die Smartphones sind ein umkämpftes Symbol der Asyldebatte geworden, eine Informations- oder Desinformationsquelle und manchmal schlicht das letzte wertvolle Gut, das die Flüchtlinge noch besitzen.
So wie Gofran. Während sie am Westbahnhof wartet, am Handy nervös herumdrückt, erzählt die Syrerin von ihrem früheren Leben in Aleppo. Sie war Lehrerin, der Mann hatte ein Geschäft für Partyzubehör. Sie hatten zwei Kinder. Der siebenjährige Sohn starb, als ein Bombenangriff die Decke ihrer Küche einstürzen ließ. Die fünfjährige Tochter wurde bei einer Explosion von einem kleinen Stein getroffen – der ging direkt ins Gehirn. Das war vor drei Jahren. Heute wünscht sie sich ein neues Leben: Auf ihrem Smartphone hat sie als Hintergrundbild ein lachendes Baby. Sie hofft, wieder schwanger zu werden, vielleicht in Holland oder in Belgien.
Das Handy vibriert. Nach Stunden der Angst erfährt sie: Der Rest der Familie ist bereits in München. Gofran und ihr Mann machen sich bereit zur Weiterreise. Sie öffnet Google Maps, der blaue Punkt zeigt ihren Standort. Wo der blaue Punkt noch landen wird? Das weiß nicht einmal Google.