Flüchtlinge: Richtungsweisendes Urteil des EuGH
Die Nachricht kam alles andere als überraschend. Vergangene Woche wies der Europäische Gerichtshof die Klagen der Slowakei und Ungarns ab. Die beiden Staaten hatten das Gericht in der eher verstiegenen Hoffnung angerufen, es werde ihr unsolidarisches Handeln absegnen. Ungarn und die Slowakei hatten sich – neben Polen, Rumänien und Tschechien – geweigert, einen Teil der Flüchtlinge zu übernehmen, die seit Sommer 2015 an den südlichen Küsten Europas gelandet waren.
Nach herrschender Rechtslage waren Italien und Griechenland für sie zuständig, denn hier hatten die Syrer, Iraker, Afghanen und Somalier erstmals europäischen Boden erreicht. Doch Europa sprang damals über den Schatten seines sogenannten Dublin-Regimes und raffte sich zu einer Notmaßnahme auf. Sie war auf zwei Jahre befristet und sollte die Länder an der Außengrenze entlasten.
Ungarn und die Slowakei fochten den Beschluss beim Gericht in Luxemburg an. Die Höchstrichter wiesen ihre Klagen nun zurück: Der Beschluss des Europäischen Rats sei rechtens und zweckmäßig gewesen, sagten sie und fügten sinngemäß hinzu, es gehe nicht an, dass einige Länder zuerst eine aus der Not geborene solidarische Maßnahme torpedieren und sie dann hinterher anfechten, weil sie nicht funktioniert habe.
Freiwilligkeit scheiterte
Tatsächlich kam das Vorhaben von Anfang an nicht vom Fleck. Zuerst war von 40.000 Flüchtlingen die Rede, die auf freiwilliger Basis verteilt werden sollten. Doch mit der Freiwilligkeit war es unter den Mitgliedstaaten nicht weit her. Also fasste der Europäische Rat den Beschluss, 120.000 Menschen mit hoher Aussicht auf Asyl verpflichtend und nach fixen Quoten auf die EU-Länder zu verteilen. Das funktionierte nicht wesentlich besser. Bis heute wurde nicht einmal ein Viertel der Flüchtlinge umgesiedelt: 8451 waren es aus Italien, 19.244 aus Griechenland. Österreich, das laut Quote rund 2000 hätte aufnehmen müssen, kam auf ganze 15 (Stand Anfang September).
Für die erbärmliche praktische Umsetzung des Ratsbeschlusses gibt es mehrere Erklärungen: Viele Aufnahmeländer zierten sich und spielten auf Zeit. Doch es gab auch Probleme vor Ort. Als sich etwa Portugal bereit erklärte, ein Kontingent zu übernehmen, schafften Italien und Griechenland es nicht, Kandidaten namhaft zu machen. Das Vorhaben erstickte im organisatorischen Chaos. Und irgendwann, so berichten NGO-Vertreter, hatten viele Flüchtlinge den Glauben daran verloren, dass man sie in ein Land schicken würde, in dem sie neu anfangen könnten.
Den größten Anteil am Versagen aber hat der Türkei-Deal. Es hätte Griechenland geholfen, wenn Flüchtlinge direkt aus den Hotspots geholt worden wären. Aber diese befinden sich auf Inseln, und hier gilt der sogenannte Türkei-Deal, demzufolge aufgegriffene Bootsflüchtlinge in die Türkei zurückgebracht werden sollen. Auch das lief holprig an. Über Wochen und Monate füllten sich Lager, die als Durchgangsstationen für kurze Zeit gedacht waren.
Weckruf an Orbán & Co.
Hat der Europäische Gerichtshof ein Machtwort gesprochen? Sein Spruch ist laut einem EU-Insider zumindest ein kräftiges Zeichen der europäischen Solidarität und kann als Auftrag gelesen werden, diesen Gedanken auch bei künftigen Gesetzesvorhaben zu berücksichtigen. Das Dublin-Regime kollabierte in der Flüchtlingsbewegung des Jahres 2015, hat aber – mit all seinen eingebauten Systemwidrigkeiten – de jure überlebt und wird bei der nächsten Flüchtlingsbewegung erneut versagen, wenn es zuvor nicht novelliert wird.
Der Weckruf des EuGH geht zunächst aber vor allem an Ungarn und die Slowakei, die das Gericht selbst angerufen haben und mit der Entscheidung nun nicht leben wollen. Innenpolitisch nutzt der ungarische Regierungschef Viktor Orbán das Momentum, um sich über Bürokraten in Brüssel zu ereifern, die seinem Land nur schaden wollten. Gleichzeitig droht seinem Land ernsthaftes finanzielles Ungemach, wenn er das EuGH-Urteil ignoriert.
Bereits im Juni strengte die EU Vertragsverletzungsverfahren gegen Tschechien, Ungarn und Polen an. Nun nimmt das Prozedere neuen Schwung auf. Bei anhaltender Uneinsichtigkeit werden sowohl pauschalierte Bußen als auch sogenannte Zwangsgelder fällig, die sich mit jedem weiteren Tag erhöhen – so lange, bis der Rechtsverstoß beendet wird. Ihre Höhe bemisst sich nach der Schwere und Dauer des Vergehens sowie nach der Wirtschaftskraft eines Landes und kann in „motivierende Dimensionen“ gehen, sagt ein Experte. Den Kopf in den Sand zu stecken, empfiehlt sich nicht. Ausstehende Bußen und Zwangsgelder dürfen mit künftigen EU-Förderungen gegenverrechnet werden. Spätestens dann ist Zahltag.