Flüchtlinge aus Somalia: Einblicke in eine geschlossene Gesellschaft
Auf der Straße im sommerlichen Wien würden die nackten Arme und Schultern der jungen blonden Frau nicht auffallen. Im Wertekurs für 23 somalische Flüchtlinge wirkt die luftige Bluse der Trainerin wie ein Statement. „Deswegen ist es wichtig, dass auch Sie arbeiten gehen und Steuern zahlen“, sagt sie und schaut dabei speziell die Frauen an, die bodenlang verhüllt vor ihr sitzen, nur das Gesicht ist frei. Sie sind in der Überzahl. Seit 2017 das neue Integrationsgesetz in Kraft trat, kommen verstärkt weibliche Flüchtlinge, die zuvor die Kurse scheuten. Ansonsten droht der Verlust der Mindestsicherung. Der durchschnittliche Frauenanteil stieg von 20 auf 44 Prozent. Bei somalischen Frauen war der Rückstau offensichtlich besonders groß.
„Auch Männer sollen Krankenpfleger werden“, sagt die Trainerin. Ihr somalischer Kollege übersetzt. Eine Frau mit dem Namenskärtchen Hamda kichert. „Finden Sie die Vorstellung komisch?“, fragt die Trainerin resolut. Acht Stunden dauert die Werteerziehung. In den Crashkursen für Somalis prallen Lebenswelten frontal aufeinander.
Seit 1991 kein Staat, sondern Bürgerkrieg, eine islamistische Terrormiliz, die für einen Gottesstaat kämpft, verfeindete Clans, Dürrekatastrophen mit Hunderttausenden Toten, Frauen, die genital verstümmelt werden. 800.000 Vertriebene weltweit, allein in Kenia leben mit 320.000 Somalis weit mehr Flüchtlinge als in der gesamten EU. Kaum eine Volksgruppe vereint so viele Gründe auf sich, zu fliehen. Deswegen finden Somalis selbst im strengsten Asylregime weiterhin Schutz in Europa. Andererseits: Kaum eine andere Community hat auf dem Weg in die westliche Gesellschaft derart hohe Hürden zu überwinden.
Keinerlei ethnische oder religiöse Unterschiede bei Somalis
Nach Österreich haben es laut Statistik 6200 Menschen, laut Schätzung der Community mindestens 8000, geschafft – über die lebensgefährlichen Fluchtrouten quer durch Afrika und übers Mittelmeer. So wichtig die Familienclans daheim waren – in Österreich tritt die Community erstaunlich geschlossen auf. Im Unterschied zu Flüchtlingsgruppen wie Afghanen mit ihren Trennlinien zwischen Paschtunen, Hazara, Schiiten, Sunniten gibt es bei Somalis keinerlei ethnische oder religiöse Unterschiede.
Entsprechend groß ist die soziale Kontrolle über innere Normen. „In einem somalischen Geschäft müsste ich mich für meine Hose rechtfertigen.“ Deeqa Haibe lebt seit neun Jahren in Österreich. Die Dolmetscherin besucht im Rahmen des Projekts „Nachbarinnen“ Landsleute in ihren Wohnungen, die sehr zurückgezogen leben. Acht Frauen konnte sie bisher einen Job als Pflegerin vermitteln. Frauen aus Somalia ist der Weg aus den eigenen vier Wänden nicht nur wegen der hohen Analphabeten-Rate, Geburtenrate und traditionellen Rollenaufteilung oft verbaut: Es wäre kaum denkbar, dass eine Frau arbeiten geht, wenn der Mann noch von Mindestsicherung lebt und daheim ist; bei rund 1000 beschäftigten Somalis in Österreich trifft das aber auf die Mehrheit zu.
„Kleidung, das große Thema“, sagt Haibe. An ihrer Art der Verhüllung wollen viele Frauen nicht nur aus religiösen Gründen, sondern auch aus Tradition festhalten. Im Arbeitsleben schränkt die wehende somalische Tracht die Bewegungsfreiheit aber entsprechend ein. „Ich bin ausgebildete Krankenschwester. Als mich mein Chef bei der Bewerbung fragte, ob ich das Kopftuch in der Arbeit ablegen würde, hab ich es getan“, entschloss sich Naima gleich für einen radikalen Schritt. Im Wertekurs sitzt sie nun zwischen zwei Männern. So fällt der scharfe Kontrast zwischen ihrem MTV-Look mit Netzstrümpfen, rot gefärbten Locken und Schirmkappe und den restlichen zwölf Kursteilnehmerinnen eine Spur weniger krass aus. Wie Haibe lebt Naima privat außerhalb der Community. Besonders für Frauen scheint es keinen fließenden Übergang zwischen somalisch und österreichisch zu geben.
Mehrheit gegen Sex vor Ehe
„Das Kopftuch schreibt der Islam vor. Es ist unser Wunsch, dass die Frauen unsere Kultur und Identität bewahren“, sagt Kursteilnehmer Ali bei der Diskussion über die Kleidung. Die meisten Somalis denken wie er. Bei einer umfassenden Studie des Politologen Peter Filzmaier über die Einstellung von Muslimen in Österreich wiesen Somalis ein noch konservativeres Weltbild auf als etwa Tschetschenen oder Afghanen. 61 Prozent sagten, der Islam solle eine starke Rolle in der Gesellschaft spielen, 69 Prozent bezeichneten sich als sehr gläubig, die Gleichstellung von Mann und Frau spielte die mit Abstand geringste Rolle. Ähnlich den Tschetschenen vertrat eine große Mehrheit der Befragten die Überzeugung, dass eine Frau vor der Ehe keinen Sex haben dürfe.
Die strenge Auslegung des Islam zeigt sich am deutlichsten beim Kopftuch, das manche Mädchen ab drei, sechs oder spätestens zehn Jahren tragen. Das von der Regierung geplante Kopftuchverbot für Schülerinnen bis zehn Jahren wird also in erster Linie somalische Mädchen treffen – oder befreien, je nach Perspektive. „Bis zum zehnten Geburtstag ist es eine Erziehungsmaßnahme, danach Pflicht“, bemüht sich der modisch gekleidete Nimaan um Verständnis für seine Kultur. „Warum ist das Kopftuch in Österreich so ein Thema?“, wird Hamda unruhig. „Eine Österreicherin muss in Somalia kein Kopftuch tragen und nicht zum Islam konvertieren. Warum sollen wir hier das Kopftuch ablegen?“ Die Debatte ist am neuralgischen Punkt zwischen Religionsfreiheit und Gleichstellung der Geschlechter angelangt. Später wird Hamda erfahren, dass mündige Frauen das Kopftuch in Österreich nicht abnehmen müssen, Verhüllung ein ökonomisch selbstständiges Leben aber erschwert.
Das Kopftuch, die ewige Grauzone am Arbeitsplatz und im Zusammenleben. Keine Grauzonen lässt ein weiterer tragischer Brauch der somalischen Community zu: die Genitalverstümmelung.
„Man spürt die Traurigkeit der Frauen"
In Österreich stehen darauf bis zu zehn Jahre Haft. „Female Genital Mutilation“ oder FGM, wie es in der Fachsprache heißt, wird in Somalia und auch in anderen arabischen und afrikanischen Ländern bei fast allen Mädchen zwischen vier und zehn Jahren vorgenommen. Um eine „Reinheit“ der Frau bis zur Ehe zu garantieren, werden Scheidelippen und Klitoris komplett entfernt. Die Vagina wird bis auf einen kleinen Spalt zugenäht und erst nach der Ehe ein Stück weit geöffnet. Die Frau wird nun als wertvoll, besonders fruchtbar und reif gesehen.
FGM nimmt den Frauen abgesehen vom Trauma die Chance, Lust zu empfinden, bereitet große Schmerzen bei Menstruation, Sexualität, Geburt und erhöht die Anfälligkeit für Krankheiten.
„Man spürt die Traurigkeit der Frauen. Sie vermissen etwas, das sie nie kennengelernt haben“, sagt Umyma El Jelede. Die 46-jährige Wiener Ärztin aus dem Sudan hat seit 2008 viele Frauen aus betroffenen Ländern beraten. In Wiener Spitälern werden pro Jahr bis zu 50 Frauen „rückoperiert“. Die Vagina wird dabei per Laser geöffnet. Aber eine vollständige Rekonstruktion ist leider nicht mehr möglich. Treffen am Wiener Westbahnhof bei Mc Donald’s. Somalis nutzen das Fastfood-Restaurant als Kontaktcenter für Hilfe aller Art. Man kennt Umyma El Jelede. 2011, so erzählt sie, sei sie von einem rang-hohen Vertreter aus einer afrikanischen Community ausgestoßen worden, weil sie FGM thematisierte. Die kämpferische Frau, die wegen ihrer offenen Haare schon mal das Wort „haram“ (verboten) hört, brachte sich aber zurück ins Spiel. Sie sorgte etwa dafür, dass über das Institut für Afrikawissenschaften die somalische Sprache in zwei Wiener Schulen unterrichtet wird. Und so gewann sie ihr Ansehen zurück.
„Mir geht es um die Gesundheit der Frauen.“ Frau El Jelede ist es wichtig, Frauen die Kraft zu geben, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen. Sie will Frauen und Männer darauf aufmerksam machen, welche gesundheitlichen Konsequenzen die Verstümmelungen haben, und Frauen darauf vorbereiten, wenn von der Familie in Somalia Druck kommt. Die beste Antwort lautet dann: „Ich komme hier ins Gefängnis und kann euch keine finanzielle Unterstützung mehr bieten!“
„Extreme Prediger und Scheichs ersetzen den Staat"
El Jeledes Bilanz: „Keines der Mädchen, die wir bisher über ihre Mütter erreicht haben, ist beschnitten.“ Aber sie erreicht nicht alle. Und nicht alle Mädchen sind in Österreich automatisch in Sicherheit. Urlaube werden oft als Ausrede verwendet, um FGM zu praktizieren. „Selbst in Somalia werden die jungen Menschen in der Stadt immer skeptischer, und in Österreich sowieso“, ortet der 23-jährige Abdi Abdilaahi ein gewisses Umdenken in Bezug auf die Genitalverstümmelung. Der junge Mann, der 2011 auf seinem Weg nach Deutschland in Österreich hängen blieb, wirkt wie ein Musterbeispiel an Integration. Er spricht perfekt Deutsch und arbeitet als Installateur. Ganze zwei Monate bezog er Mindestsicherung. Seine Couch in der Wiener Wohnung stand in Zeiten der Flüchtlingskrise nie leer, erzählt Abdilaahi, der seine Erfahrungen über das Leben in Österreich an Neuankömmlinge weitergibt. Als Mann fällt es ihm leichter, in beiden Welten zu leben. „In Somalia ersetzen extreme Prediger und Scheichs den Staat. Es ist schwer, rauszubekommen, was sie in die Köpfe eingepflanzt haben. Aber ein bisschen integriert sich jeder.“ Abdilaahi spürt die Veränderung bei seinen Landsleuten. „Am Anfang trägt jede Frau das volle Gewand, jetzt nur noch eine Minderheit.“ Selbst Hosen seien im Kommen: „Hauptsache Kopftuch.“ Auch die Kinderzahl sinke. In Somalia bekommen Frauen im Durchschnitt sechs Kinder. Je mehr Kinder, desto größer das Prestige und die Absicherung im Alter. In Österreich sinkt mit jedem Kind die Chance, jemals in den Arbeitsmarkt einzusteigen, und durch die jüngste Deckelung auch die Höhe der Mindestsicherung pro Kind. Im Wertekurs haben die Frauen zwischen einem und zwei Kinder. Verhütung durch den Mann ist noch allzu oft ein Tabuthema, weiß Yvonne Anreitter, die Chefin der Wertekurse, aus Arbeitsgruppen mit somalischen Frauen.
Frau Haibe weiß, dass die Kinder zwischen zwei Welten aufwachsen. Das verunsichere die ganze Familie. „Sie kommen nach dem Kindergarten und der Schule heim nach Somalia“, sagt Haibe. Und manche brechen aus in ein Krisenzentrum oder eine Frauen-WG. El Jelede rät den Eltern, die Balance zu wahren. „Jede Gesellschaft hat schöne Traditionen, die sollte man hochhalten, aber nicht mit der Haram-Keule erzwingen. Sonst wenden sich die Jungen ab, und die Kultur geht erst recht verloren.“
Ob die Männer hinter ihr beim McDonald’s das gehört haben?