Flüchtlinge: Was geändert werden muss, damit Zeltstädte obsolet werden
Kein freies Zimmer zwischen Bregenz und Neusiedl, nirgendwo ein aufgelassenes Pflegeheim, ein ehemaliges Arbeiterwohnhaus oder eine Schule, die niemand mehr braucht. Das signalisieren die Zeltdörfer, die das Rote Kreuz vor zwei Wochen im Auftrag des Innenministeriums aufstellte, um Flüchtlinge notdürftig unterzubringen. Doch das ist nur die halbe Wahrheit, denn wo man auch nachfragt, bekommt man das Gleiche zu hören: An festen Quartieren fehlt es nicht.
Es gibt Wohnblocks, die leer stehen, schlüsselfertige Landesjugendwohnheime, die nicht mehr bewohnt werden, Klöster, Hotels, Pensionen und ehemalige Soldatenunterkünfte, in denen viel Platz für Flüchtlinge wäre, freie Wiesen, auf denen man Containerdörfer errichten könnte, Betriebsgebäude und Lehrlingsquartiere von Post und ÖBB, die frei sind.
Was fehlt, ist der politische Wille, planerische Voraussicht und vielleicht auch der Mut, sich zur Versorgung der Flüchtlinge zu bekennen. Es ist eine humanitäre Verpflichtung, die nicht wirklich populär ist und Geld kostet. 200 Millionen Euro wandte die öffentliche Hand im Vorjahr dafür auf, heuer ist mit doppelt so viel zu rechnen.
Bürgermeister laufen Sturm
Die Inszenierung der Krise mit Zelten, Gipfelgesprächen und Aussendungen, in denen Bund und Länder einander bezichtigen, einen Notstand zu verschulden, bindet Energie. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) macht Druck auf Verteidigungsminister Gerald Klug (SPÖ), Kasernen zu öffnen, und bekommt prompt eine Liste ausgehändigt - gegen die nun Bürgermeister der betroffenen Gemeinden Sturm laufen.
Das sorgt für zynische Unterhaltung, löst die Probleme aber nicht. Politiker müssten das Thema "offensiv angehen“, fordert Werner Kerschbaum, Generalsekretär des Roten Kreuzes: "Die Kriege und Flüchtlinge werden nicht so schnell verschwinden. Wir brauchen einen nationalen Aktionsplan.“
Bürgermeister stemmen sich gegen Flüchtlinge, aus Angst, die nächste Wahl zu verlieren. Da und dort fehlen Baugenehmigungen und bleiben Häuser geschlossen, weil sie gesetzlichen Auflagen nicht genügen. Viele Gebäude werden aus guten Gründen verworfen, etwa weil sie baufällig, zu entlegen oder schlicht zu klein sind.
Als die Bundesforste ihre 4200 Besitztümer - von der winzigen Jagdhütte bis zum Verwaltungsgebäude - durchgingen, stellten sie fest, "dass die wenigsten als Flüchtlingsquartiere taugen“, so Sprecherin Pia Buchner. Ein paar Objekte förderte die Inventur aber ans Licht. In Saalfelden wurden zwei Wohnungen an Asylwerber vermietet. Ein ehemaliges Betriebsgebäude, das in Gosau leer steht, könnte mit Duschen ausgestattet und als Unterkunft hergerichtet werden.
Angebot von Schönborn
Die Erzdiözese Wien erhebt, in welchen Pfarren Flüchtlinge leben und wo noch Platz wäre. "Von den angebotenen Quartieren ist ein Zehntel brauchbar“, sagt Sprecher Michael Prüller. Ganz vergeblich sucht man dennoch nicht. Kardinal Christoph Schönborn konnte der Innenministerin immerhin ein Heim in Horn offerieren, in dem bisher der Priesternachwuchs wohnte und 100 Flüchtlinge unterschlüpfen könnten. Es scheiterte am Widerstand des Bürgermeisters.
Manchmal hapert es recht profan am Geld. In vielen Gemeinden sind nur kleine, gut betreute Quartiere willkommen. Reinhard Hundsmüller, Generalsekretär des Samariterbundes Österreich, der sich in sieben Einrichtungen um etwa 300 Flüchtlinge kümmert, weiß, dass eine gute Betreuung für das Zusammenleben vor Ort gedeihlich, aber leider teuer ist: "Für drei Flüchtlinge rechnet sich das nicht.“
Oft werden Einwände aber auch vorgeschoben, weil man mit Syrern, Irakern oder Afghanen im Ort nichts zu tun haben will. Quer durch Österreich verfallen Gebäude. profil hat sich ein paar angesehen und recherchiert, woran die Quartiersuche in der Praxis scheitert und was sich ändern muss, damit Flüchtlingen Zeltstädte erspart bleiben.
1.
Die Wahrheit sagen
Westafrika, Südsudan, Syrien, Nordirak, Ukraine: Noch nie gab es so viele Krisen, Kriege und zerfallende Staaten gleichzeitig. Laut UNHCR sind weltweit 56,7 Millionen Menschen auf der Flucht. Das Gros wartet in der Nähe ab, ob die Lage sich beruhigt und sie in ihre Heimat zurückkehren können. Geschätzte 1,5 Millionen Menschen wollen nach Europa. Im Vorjahr suchten hier mehr als 600.000 Flüchtlinge Asyl, um 44 Prozent mehr als 2013. Nichts deutet darauf hin, dass die Zahlen zurückgehen. "Wir brauchen ein Klima der Solidarität, das nur entstehen kann, wenn Politiker sagen, was Sache ist“, so Rot-Kreuz-Mann Kerschbaum.
2.
Flüchtlinge gerechter verteilen
Schweden, Deutschland und Österreich nehmen rund die Hälfte auf. Österreich drängt in der EU auf die Einführung einer Quote. Allerdings wird sich angesichts des Widerstands, den viele EU-Länder dagegen leisten, an der Schieflage so rasch nichts ändern. Österreich muss sich auf 50.000 bis 60.000 Asylwerber bis Ende des Jahres einstellen und könnte zunächst einmal im eigenen Land für eine gerechtere Verteilung sorgen: Drei Viertel der 2100 heimischen Gemeinden bringen bisher noch keine Asylwerber unter.
3.
Bürgermeistern den Rücken stärken
In vielen Köpfen sickert allmählich, "dass man sich vor schutzsuchenden Menschen nicht schützen muss“, glaubt Dieter Posch, SPÖ-Bürgermeister von Neudörfl im Burgenland. Vor 25 Jahren nahm seine Gemeinde 85 bosnische Flüchtlinge auf. Posch ließ die damals 3500 Einwohner wissen, dass er "lieber ein paar Stimmen verliere als das Gesicht“. Heute wohnen 44 junge Flüchtlinge in Neudörfl. Und Posch ist immer noch Bürgermeister. Kollegen suchen den Rat des burgenländischen SPÖ-Mannes, der als lebender Beweis dafür gilt, dass das Eintreten für Asylwerber kein politischer Selbstmord sein muss. Posch würde sich allerdings wünschen, dass die Spitzen in Bund und Land Politikern wie ihm den Rücken stärken: "Die große Politik tut immer noch so, als gäbe es das Thema nicht.“ Dass sein Parteigenosse und Landeshauptmann Hans Niessl auf Wahlkampftour um Neudörfl einen Bogen machte, habe ihm "sehr weh getan“, sagt Posch.
4.
Geld in die Hand nehmen
Im Flüchtlingslager Traiskirchen drängen sich vergangene Woche 2150 Menschen. Hunderte schlafen auf dem Boden, einige müssen im Freien übernachten. Das ist selbst in der wechselhaften Geschichte des Lagers einzigartig. Entspannung ist nicht in Sicht, das Innenministerium beruft eine Krisensitzung ein, um den Ländern Dampf zu machen. "Das Defizit gibt es ja nicht bei den Bundesquartieren. Wir versorgen derzeit 1300 Menschen, die bereits zum Verfahren zugelassen sind und von den Ländern übernommen werden könnten, wenn es dort Quartiere für sie gäbe“, sagt der Sprecher des Innenministeriums.
Jeden Tag kommen 200 bis 300 neue Flüchtlinge dazu. Die 300 Unterkünfte, die bei der erwähnten Sitzung gemeldet werden, reichen nicht einmal für zwei Tage. Es braucht wesentlich mehr Quartiere, "und die würde es auf einen Schlag wohl auch geben, würde man dafür mehr zahlen“, meint Samariterbund-Chef Hundsmüller.
Der Bund überweist für einen erwachsenen Asylwerber pro Tag 19 Euro. Das genügt in dünn besiedelten Regionen für Unterbringung und Verpflegung, in Ballungsräumen, wo Grundstücks- und Mietpreise höher sind, ist ein Quartier damit kaum noch seriös zu betreiben. Deshalb finden sich hier auch nur wenig private Anbieter.
Noch schlimmer sind Einrichtungen für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge (UMF) dran. Für sie gelten die Standards der Jugendwohlfahrt - kleine Wohneinheiten und Rund-um-die-Uhr-Betreuung -, aber nicht die dort üblichen Tagsätze von rund 150 Euro, sondern im Höchstfall 77 Euro. Die Betreiber, die sich an die gesetzlichen Vorgaben halten und Sozialpädagogen um 40.000 Euro im Jahr einstellen, müssen Spendengeld in die Hand nehmen, so Samariterbund-Chef Hundsmüller: "Das ist eigentlich nicht einzusehen, weil es hier um die Erfüllung einer staatlichen Aufgabe geht.“
Das Innenministerium pocht darauf, dass Anfang 2016 höhere Tagsätze in Kraft treten (zum Beispiel 21,5 Euro statt 19 Euro), auf die man sich konsensual geeinigt hat. Die Verantwortlichen in den Ländern hingegen klagen, dass die Sätze über Jahre hindurch nicht evaluiert wurden und in Wahrheit niedriger liegen als in der Vergangenheit.
5.
Von Krise auf Planung umschalten
Intensive Sozialbetreuung wird fast ausschließlich in NGO-Quartieren geleistet. Klaus Schwertner, Geschäftsführer der Caritas Wien: "Dazu gehört auch, dass wir Sachspenden entgegennehmen, ehrenamtliche Helfer koordinieren und zivilgesellschaftliches Engagement fördern, was die Stimmung in den Gemeinden verbessert.“
Die Sparbrille macht extrem kurzsichtig. Ein Großteil der ins Land kommenden Syrer, Iraker oder Eritreer erhalten Asyl, was bedeutet, dass die Zahl der im Land befindlichen anerkannten Flüchtlinge beträchtlich steigen wird. "Es wäre gescheit, mit ihrer Integration früh zu beginnen, doch auch das geht nicht ohne Geld“, sagt Christoph Riedl, Leiter des Flüchtlingsdienstes der Diakonie.
6.
Transparenz statt Geheimniskrämerei
Wer eine Flüchtlingsunterkunft aufsperren will, muss ein passendes Gebäude finden, gegebenenfalls umbauen und Personal einstellen. Das Innenministerium weist dann die Asylwerber zu. Obwohl die Betreiber auf die Auslastung der Häuser keinen Einfluss haben, tragen sie das volle Risiko. Schickt das Innenministerium keine Flüchtlinge, versiegen die Zahlungen, die Fixkosten jedoch laufen weiter. Damit ist etwa die Volkshilfe schon einmal "gewaltig eingefahren“. Man habe in einem UMF-Quartier eine 24-Stunden-Betreuung für 30 Leute aufgebaut, "am Ende hat uns das Innenministerium aber nur acht geschickt“, erzählt Christian Schörkhuber, Leiter des Flüchtlingsbereichs der Volkshilfe Oberösterreich.
NGOs wünschen sich mehr Offenheit und Berechenbarkeit. Die Verträge, die das Innenministerium mit dem Schweizer Unternehmen ORS für die Betreuung der Bundesquartiere abschließt, sind ebenso geheim wie das Betreuungskonzept, das ORS bei der öffentlichen Ausschreibung vorlegen musste. Die Grüne Alev Korun will nun mithilfe einer parlamentarische Anfrage klären, "ob für alle Anbieter die gleichen Tagsätze und Bedingungen gelten oder ob ORS eine Basisfinanzierung erhält.“ Bisher hielt das Innenministerium sich bedeckt.