Folterfall Bakary J.: Gerichtsgutachter mokiert sich über das Opfer
Erst vor wenigen Tagen war Bakary J. aus dem Schlaf hochgeschreckt und mit rasendem Herzen zum Fenster gelaufen, um hinauszuspringen, sollten seine Verfolger es schaffen, durch die Wohnungstür zu kommen. Doch er hatte die Männer nur geträumt.
Acht Jahre ist es her, dass der Gambier von österreichischen Polizisten gefoltert wurde. Er hatte sich dagegen gewehrt, abgeschoben zu werden, ohne Frau und Kinder noch einmal zu sehen. Auf dem Weg vom Flughafen zurück in die Stadt führten ihn Beamte der Sondereinheit Wega in eine Lagerhalle. Dort, auf dem Betonboden, beschimpften und traten sie den Afrikaner, richteten ihre Waffen auf ihn und fuhren ihn mit dem Auto an. Zurück in Schubhaft ließen sie den schwer verletzten Mann in einer Absonderungszelle vor Schmerzen und Angst schreien. 24 Stunden lang bei eingeschaltetem Licht.
Als J. am nächsten Tag seine Familie sehen durfte, war sein Gesicht blutunterlaufen und aufgequollen. Seine Frau fotografierte ihn mit dem Handy. Der "Falter" veröffentlichte das Bild und brachte den schlimmsten Fall von Polizeifolter in der Zweiten Republik an die Öffentlichkeit. Erst fünf Wochen später kümmerten sich Ärzte um J.s zertrümmertes Gesicht. Kiefer, Jochbein und Augenhöhle waren bis zum Scheitelbein gebrochen.
Heute mag er kaum noch unter Menschen. Die Ärzte, die ihn untersucht haben, ließen ihm wenig Hoffnung auf ein Leben ohne Schmerzen und Angst. Bakary J. spricht leise, schaut oft zu Boden. Seine Augen brennen und tränen, sein Kopf tut weh, er kann nicht lange sitzen, seine Ehe ging zu Bruch; er wird schnell panisch, leidet unter Flashbacks, und in der Nacht findet er keine Erholung. "Das ist das Schlimmste", sagt er.
Doch das interessierte den Gutachter in Horn nicht, von dem nun abhängt, ob die Republik für das Leid, das J. von Beamten angetan wurde, über jene 110.000 Euro hinaus, die das Innenministerium bisher überwiesen hat, geradestehen muss. Der Wiener Rechtsanwalt Nikolaus Rast hatte sich vergeblich um eine gütliche Einigung bemüht. Anfang des Jahres ging die Causa zu Gericht. Nun will Susanne Kurtev, Mitarbeiterin der Kanzlei, 375.000 Euro und eine monatliche Pension erstreiten. Bakary J. hat zwei Kinder zu versorgen, 12 und 15 Jahre alt. Er braucht eine Psychotherapie, Spritzen und Akupunktur gegen die Schmerzen.
Im Mai bestellte das Gericht beim Allgemeinmediziner, Psychiater und Neurologen Norbert Loimer eine sachverständige Antwort auf die Frage, ob er von den Torturen des Jahres 2006 Schäden davongetragen hat und ob er noch fähig ist zu arbeiten. Der Termin in der Praxis im Waldviertel habe ihn sehr mitgenommen, sagt J.:"Der Arzt hat mich ständig hinuntergedrückt. Ich habe nicht einmal ein Glas Wasser bekommen. Er hat gedroht, dass er in das Gutachten hineinschreibt, dass ich nicht kooperativ bin."
Das Papier, das Loimer nach vier Monaten ablieferte, liegt profil nun vor. Es ist, nach allem, was J. in Österreich widerfahren ist, der nächste Schlag ins Gesicht. Der Gutachter hatte sich weder für die körperlichen Beschwerden noch für die Bilder interessiert, die ihn in der Nacht hochfahren lassen. J. sagt, er habe ein Formular ausgefüllt und sei danach zur Lage in Gambia befragt worden, warum er weggegangen sei, warum er sich gewehrt habe, dorthin abgeschoben zu werden: "Es war nicht wie bei einem Arzt."
Tatsächlich liest sich das Gutachten wie eine ausgeuferte Einvernahme vor der Asylbehörde. Loimer will alles über den Putsch in Gambia wissen, die Flucht nach Senegal, die Überfahrt nach Italien, den Weg nach Österreich, seine erste Ehefrau, die Zeit als Abwäscher in Graz, seine zweite Ehe, seine Versuche, erst in Gambia und dann in Österreich Fuß zu fassen, seine Verurteilung wegen eines Drogendelikts. Auf fünf Seiten schafft es Loimer, das, was am 7. April 2006 in der Lagerhalle passierte, zu umschiffen. Der Leser erfährt nicht einmal, worum es bei dem "gegenständlichen Vorfall" überhaupt gegangen ist.
Sämtliche Vorbefunde schiebt Loimer mit der flapsigen Bemerkung weg, jedes Gutachten hätte "seine eigene Tendenz". J.s bisheriges Leben sei in ihnen nicht ausreichend gewürdigt worden. So hätte man die erste österreichische Ehefrau befragen müssen, "alle Angaben, die Herr J. zu dieser Dame macht, sind äußerst dubios". Loimer versteigt sich in akribischen Recherchen zur Geschichte des Militärputsches in Gambia und notiert, es sei "nicht genau nachvollziehbar", warum J. von dort geflüchtet sei. Dass bisher kein Gutachten darauf eingegangen sei, dass sich der Gambier, "in vollem Bewusstsein seiner Verantwortung für seine Familie und seine Kinder auf kriminelle Machenschaften eingelassen" habe, stört Loimer auch sehr.
Die Kollegen, über die er herzieht, hatten sich -im Unterschied zu ihm - auf die Fragestellungen beschränkt. Etwa die renommierte Psychiaterin und Neurologin Sigrun Roßmanith, die Bakary J. Monate nach der Quälerei als erste Gutachterin untersucht hatte. Weder vom Polizeiarzt, noch im AKH waren seine Verletzungen ernst genommen worden. Roßmanith fand neben einer schweren Depression und Panikattacken eine Posttraumatische Belastungsstörung, die nach ihr sowohl die Psychiatrische Abteilung des SMZ Ost bestätigt als auch die Schmerzambulanz der Rudolfstiftung, J.s Trauma-Therapeutin, der Gerichtsmediziner Christian Reiter, die Neurologin Katalin-Andrea Donner und der Grazer Uniprofessor Otto-Michael Lesch.
Loimer erkennt bloß, dass die Folter "massiven Unbill" hervorgerufen habe und stellt sogleich in den Raum, dabei könnten auch "transkulturelle Fragen" mitspielen, da Bakary J. ein "extrem praktizierender Moslem" sei. Was man darunter verstehen darf, lässt er offen. J. hatte dem Gutachter erzählt, er habe "nur mehr Gott", halte die Fastenzeiten ein und besuche manchmal eine Moschee. Zu einer neurologisch-psychiatrischen Diagnose reicht es für Loimer nicht. Aus seiner Sicht seien J. "alle körperlichen Arbeiten in der normalen Arbeitszeit, die seinen geistigen Fähigkeiten entsprechen" zumutbar, für eine schwere Traumatisierung gäbe es keine Anhaltspunkte. Allerdings, sollten die Täter nicht entsprechend bestraft werden, könne ihn das massiv verbittern und sogar zu "totaler Selbstaufgabe" führen. Auch hier sei die "kulturspezifische Einstellung des Herrn J. zu berücksichtigen".
Bakarys Peiniger waren glimpflich davongekommen. Für drei Wega-Polizisten gab es acht Monate Haft. Auf Bewährung. Ein vierter Beamter, der während der Folterungen aufgepasst hatte, bekam sechs Monate. Die Männer blieben im Dienst, als wäre nichts passiert. Erst sechs Jahre und zwei Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs später flogen die Haupttäter aus der Polizei, ihr "Aufpasser" wurde in den Innendienst versetzt. Unter ÖVP-Politikerin Johanna Mikl-Leitner rang sich das Innenministerium eine Entschuldigung ab und hob das 2005 verhängte Aufenthaltsverbot auf.
Für profil war Loimer nicht zu sprechen. Nach mehreren Versuchen, ihm Fragen per E-Mail zukommen zu lassen, erklärte er am Telefon: "Ich schaue keine E-Mails an, das Gutachten ist noch nicht öffentlich und ich habe kein Interesse, darüber zu reden." Aus seiner Biografie lassen sich weder forensische Erfahrungen noch Erfahrungen mit traumatisierten Menschen ablesen. Loimer betätigte sich wissenschaftlich an der Uniklinik in Wien. Seine Elektroschock-Studien mit narkotisierten Patienten in Pakistan waren aber nicht auf ungeteilte Begeisterung gestoßen. Nebenbei arbeitet er fallweise für das Arbeits-und Sozialgericht. Justizminister Wolfgang Brandstetter engagierte den Arzt, der zwölf Kilometer von seiner Heimatgemeinde Eggenburg entfernt eine Praxis in Horn führt, als persönlichen Berater. Loimer soll sich in Gefängnissen umsehen, welche Insassen freigelassen werden könnten.
Kanzlei-Vertreterin Kurtev schickte dem Gericht vergangene Woche ihren Ablehnungsantrag: "Dieser Gutachter ist untragbar. Es kann nicht sein, dass jemand, der so voreingenommen urteilt, über das ganze weitere Leben eines Menschen bestimmt." Bakary J. schaut zu Boden und reibt sich die geröteten Augen: "Ich habe ein sehr schwieriges Leben. Wirklich sehr schwierig."
Foto: Michael Rausch-Schott